Amygdalin («Vitamin B17») – weder Vitamin noch Onkologikum
Quacksalberei beginnt beim Namen

Amygdalin («Vitamin B17») – weder Vitamin noch Onkologikum

Editorial
Ausgabe
2022/0304
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08810
Swiss Med Forum. 2022;22(0304):59

Affiliations
a Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Bereich Innere Medizin, Inselspital Bern; b Pharmakoepidemiologie, Institut für pharmazeutische Wissenschaften, ETH Zürich; c Tox Info Suisse, assoziiertes Institut der Universität Zürich

Publiziert am 19.01.2022

Vitamine sind lebensnotwendige Stoffe, die der menschliche Körper nicht selbst (ausreichend) synthetisieren kann und daher von aussen zugeführt werden müssen. Unter dem Phantasienamen «Vitamin B17» hielten die giftigen Stoffe Amygdalin respektive das halbsynthetische Laetril Einzug in die alternativmedizinische Behandlung von Krebserkrankungen. Amygdalin, ein cyanogenes Glykosid ist in bitteren Aprikosenkernen oder Bittermandeln enthalten, die ebenfalls als Onkologika angepriesen werden. Äusserst problematisch sind Produkte in Form hochkonzentrierter Kapseln mit grosser Stückzahl und einer Verpackung, die den Anschein eines unproblematischen Phythopharmakons erwecken. Amygdalin beziehungsweise Laetril werden enzymatisch zu Glukose, Benzaldehyd und Blausäure (Hydrogencyanid [HCN]) metabolisiert. Blausäure ist ein ex­trem potentes Toxin, das bereits in niedrigsten Konzentrationen lebensbedrohliche Symptome auslösen kann. Laetrile weisen weder einen speziellen Tropismus bezüglich entarteter Zellen, eine spezifische antineoplastische Aktivität noch klinische Evidenz in der Behandlung von Malignomen auf. HCN mit dem niedrigen Molekulargewicht von 27 Da in nicht ionisierter Form überwindet Zellmembranen rasch und problemlos durch Diffusion. Cyanide hemmen vielmehr multiple Enzyme einschliesslich der Cytchrom-c-Oxidase. Diese Hemmung unterbricht die oxidative Phosphorylierung und verhindert auf zellulärer Ebene die sauerstoffabhängige ATP-Produktion. Damit führt die Cyanidintoxikation zu einer Laktatazidose mit lebensbedrohlichen Symptomen wie Krampfanfällen, Koma und kardiovaskulärem Kollaps.
Wie der Fallbericht von Resech et al. [1] in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum illustriert, kam es bereits mit der Einnahme von sechs Kapseln eines «Vitamin B17»-Präparates zu einer relevanten Cyanidintoxikation.
Historisch wurde bereits in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts vor den Risiken einer Laetril-Behandlung gewarnt. In einer klinischen Studie an 178 Patientinnen und Patienten, die 1982 im New England Journal of Medicine publiziert wurde, ist bereits als Schluss­folgerung festgehalten: «Amygdalin (Laetrile) is a toxic drug that is not effective as a cancer treatment» [2]. Auch in Cochrane-Arbeiten wurde eine negative Nutzen-Risiko-Bilanz gezogen. Aufgrund weiterhin florierenden Einsatzes und Scharlatanerie mit «Vitamin B17» wurden Warnungen von Arzneimittelbehörden, von onkologischen Gesellschaften, von unabhängigen Organen zur Information von Pharmazeutika verbreitet. Trotzdem kommt es 40 Jahre nach den ersten Berichten des Schadens von Laetrilen nach wie vor zu Behandlungen von Personen mit diesen Toxinen – auch in der Schweiz, sodass mit dieser Ausgabe ein Fallbericht dazu erscheint. Aus pharmakologischer und ­toxikologischer Sicht muss vor dem Einsatz dieser hochtoxischen Stoffe mit dem irreführenden Phantasie­namen «Vitamin B17» gewarnt sowie deren In-Verkehr-Bringung, Abgabe oder «Verschreibung» als Quacksalberei bewertet werden. Auch soll hier wieder auf die hippokratische Tradition hingewiesen werden, dass die oberste moralisch geforderte ärztliche Maxime auf das Nicht-Schaden der Patientinnen und Patienten abzielt. Bei nicht vorhandenem Nutzen und potentiell beträchtlichem Schaden (bis zu beschriebenen Todesfällen) scheint die Abwägung an sich einleuchtend und einfach. Dass es trotzdem zu derartigen Fällen – auch bei uns – kommt, rechtfertigt die breite Information und Publikation, um zukünftige alternative Behandlungen oder auch Selbstbehandlungen mit aus dem Internet bezogenen «Vitamin B17»-Produkten mit cyanogenen Glykosiden zu verhindern und Personen zu schützen.
SW ist Experte bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA und Swissmedic. Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind die persönlichen Ansichten der Autoren und dürfen nicht so verstanden oder zitiert werden, dass sie im Namen einer Behörde oder eines der Komitees oder Arbeitsgruppen gemacht wurden oder deren Position widerspiegeln. SW und KEH haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
PD Dr. med. Stefan Weiler, PhD, MHBA
Inselspital
Universitätsspital Bern Freiburgstrasse
CH-3010 Bern
Stefan.Weiler[at]insel.ch
1 Resech F, Lehmann B, Weinmann W, Klingberg K. Akute Cyanidintoxikation durch Amygdalin. Swiss Med Forum. 2022;22(3–4):75–77.
2 Moertel CG, Fleming TR, Rubin J, Kvols LK, Sarna G, Koch R, et al. A clinical trial of amygdalin (Laetrile) in the treatment of human cancer. N Engl J Med. 1982;306(4):201–6.