Bestimmung des Alpha-1-Fetoproteins
Früherkennung des hepatozellulären Karzinoms

Bestimmung des Alpha-1-Fetoproteins

Wie deuten Sie diesen Befund?
Ausgabe
2022/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08885
Swiss Med Forum. 2022;22(2526):426-428

Affiliations
Centre hospitalier universitaire vaudois, Lausanne: a Service de médecine interne; b Service de gastro-entérologie et d’hépatologie; c Service de chimie clinique

Publiziert am 21.06.2022

Die Bestimmung von Alpha-1-Fetoprotein zusätzlich zur Sonographie ist sinnvoll, um die Sensitivität der Überwachung eines hepatozellulären Karzinoms zu verbessern, wobei das Risiko besteht, dass dadurch die Spezifität sinkt.

Fallbeschreibung

Sie empfangen in Ihrer allgemeinmedizinischen Sprechstunde als neuen Fall einen 53-jährigen Patienten, der an Adipositas (Body Mass Index 31 kg/m2), nicht insulinpflichtigem Typ-II-Diabetes, übermässigem Alkoholkonsum und einer zwei Jahre zuvor mittels Biopsie nachgewiesenen Leberzirrhose gemischten Ursprungs leidet. Seine derzeitige Medikation besteht aus Metformin 850 mg/Tag, Spironolacton 100 mg/Tag und Duphalac 20 ml/Tag. Seit die Zirrhose diagnostiziert wurde, hat der Patient seinen Alkoholkonsum auf 14 Einheiten pro Woche reduziert. Die Zirrhose ist derzeit kompensiert und entspricht dem Stadium CHILD B7.
In Ermangelung aktueller Untersuchungen entscheiden Sie sich für ein Screening auf ein hepatozelluläres Karzinom (HCC) vor. Sie veranlassen darum eine Lebersonographie, die eine in der Medioklavikularlinie 13,3 cm messende Leber mit unregelmässiger Oberfläche, heterogener Echostruktur und Körnung im Rahmen der bekannten Zirrhose ohne fokale Läsion zeigt.
Die Bestimmung von Alpha-1-Fetoprotein (AFP) ergibt eine Konzentration von 18 ng/ml (14,9 kIU/l). Der Referenzbereich liegt unter 10 ng/ml (8,3 kIU/l). Es liegen keine früheren Messwerte vor (Umrechnungsfaktor: 1 ng/ml = 0,83 kIU/l).

Frage: Wie gehen Sie vor?


a) Sie überweisen den Patienten zur Magnetresonanztomographie (MRT) der Leber, da die festgestellte AFP-Erhöhung mit einem HCC vereinbar ist, das in der Sonographie nicht erkennbar ist.
a) Sie messen den AFP-Wert in 6 Monaten erneut, da die Erhöhung des Blutwerts durch die Zirrhose erklärbar ist.
a) Sie messen den AFP-Wert in 3 Monaten erneut, um nicht ein beginnendes HCC zu übersehen.
a) Sie suchen nach einer extrahepatischen Ursache für den erhöhten AFP-Wert (Keimzelltumor).

Antwort:


Die richtige Antwort lautet a.

Diskussion

Das AFP ist ein Glykoprotein, das normalerweise während der Schwangerschaft von der fetalen Leber und der Fruchtblase gebildet wird. Es ist das fetale Äquivalent des Serumalbumins [1]. Nach der Fetalperiode können zahlreiche Gewebe die Fähigkeit wiedergewinnen, dieses Protein zu bilden, meist infolge einer malignen Transformation. AFP wird klassischerweise von Tumorzellen des HCC abgegeben [1]. Allerdings korrelieren die Werte nicht eng mit dessen Grösse oder der Gefässinvasion. Die Konzentration ist höher bei einem wenig differenzierten HCC und steht oftmals im Zusammenhang mit der Prognose der Erkrankung. In bestimmten Fällen gibt das HCC allerdings kein AFP ab [1]. Es kann aber auch vorkommen, dass der AFP-Wert im Falle akuter oder chronischer Lebererkrankungen erhöht ist, ohne dass ein HCC vorliegt. Dies ist bei Virushepatitiden oder Zirrhose zu beobachten und spiegelt in diesen Fällen eine nekrotische Entzündungsaktivität wider [2].
Der AFP-Wert kann zudem aufgrund extrahepatischer Faktoren erhöht sein. In Tabelle 1 sind die Ursachen einer AFP-Erhöhung zusammengefasst.
Tabelle 1: Ursachen einer Erhöhung von Alpha-1-Fetoprotein (AFP) nach der Fetalperiode.
Tumorale UrsachenHepatozelluläres Karzinom
Intrahepatisches Cholangio­karzinom
Nichtseminomatöser Keimzelltumor
Magenkarzinom
Nichttumorale
Ursachen
Akute oder chronische Leber­erkrankung:
– Virushepatitis
– Zirrhose
Extrahepatisch:
– Colitis
– Ataxia teleangiectatica

Gründe für das HCC-Screening im Rahmen einer Zirrhose

Primäre Leberkarzinome, von denen 90% HCC ausmachen, sind weltweit die fünfthäufigste Karzinomart und stehen hinsichtlich der Mortalität an zweiter Stelle [2]. In der Schweiz sind dadurch pro Jahr 700 Todesfälle zu verzeichnen («National Institute for Cancer .Epidemiology and Registration» [NICER]). In Europa und weltweit steigt die HCC-Inzidenz aufgrund der Zunahme der Fälle von chronischer Hepatitis C, von Hepatitis B und nichtalkoholischer Steatohepa­titis [2, 3]. Jede Form von Zirrhose kann zu einem HCC führen, bei chronischer Virushepatitis ist das Risiko allerdings höher. Ein Drittel der Zirrhose-Patientinnen und -Patienten entwickelt im Laufe des Lebens ein HCC, die jährliche Inzidenz liegt zwischen 1 und 8% [2, 3].
Aufgrund mangelnden Screenings werden jedoch nur 40% der HCC-Fälle in einem Frühstadium dia­gnostiziert. Weniger als 20% der Risikopersonen nehmen an einem Screening-Programm teil, unter anderem weil die Lebererkrankung bei 40% zum gleichen Zeitpunkt wie das HCC entdeckt wird. Der Hauptgrund bleibt aber das mangelnde Screening durch die Ärztinnen und Ärzte. Das Screening ermöglicht indes die Detektion früher HCC-Läsionen, eine Erhöhung des Anteils kurativer Behandlungen und die Steigerung des Gesamtüberlebens [3]. Darum wird empfohlen, alle zirrhotischen Patientinnen und Patienten auf HCC zu screenen. Bei fortgeschrittener Zirrhose (Child C) besteht der Sinn des Screenings entweder in einem Transplantationsprojekt oder in der Rekompensation der Lebererkrankung, um das HCC wirksam behandeln zu können.
In 80% der HCC-Fälle besteht bereits zuvor eine Zirrhose. Allerdings kann ein HCC auch bei nichtzirrhotischer Leber auftreten, besonders in Verbindung mit chronischer Virushepatitis, Hämochromatose und nichtalkoholischer Steatohepatitis. Bei chronischer Hepatitis B oder C mit Fibrose im Stadium Metavir ≥F3 wird darum eine Überwachung empfohlen [2]. Im Rahmen der anderen genannten Lebererkrankungen wird der Nutzen einer Überwachung diskutiert.

Gründe für die AFP-Bestimmung zur Früherkennung von HCC

Ziel des Screenings ist es, eine subklinische Krankheit mit Blick auf eine frühzeitige Behandlung zu erkennen. Erfolgen Screening-Untersuchungen in regelmässigen Abständen, handelt es sich um eine Überwachung. Die «Swiss Association for the Study of the Liver» (SASL) sowie die europäische (EASL) und die amerikanische (AASLD) Hepatologie-Gesellschaft empfehlen eine regelmässige (alle 6 Monate) sonographische Kontrolle der Patientinnen und Patienten mit HCC-Risiko [2–4]. Die Kontrolle mittels Sonographie allein ermöglicht die Detektion eines HCC jeglichen Stadiums mit einer Sensitivität von 84% [5]. In den Frühstadien sinkt die Sensitivität jedoch auf 47% [5].
Hinsichtlich der Rolle von AFP zur Früherkennung liegen die herangezogenen Grenzwerte je nach Studie zwischen 10 und 20 ng/ml (8,3 und 16,6 kIU/l) [3, 6]. Die Kombination der AFP-Bestimmung mit der Sonographie steigert die Sensitivität auf 63% bei HCC im Frühstadium und 97% bei HCC jeglichen Stadiums [5]. In einer Gruppe von 150 Risikopersonen, bei denen ein HCC durch kombinierte Überwachung dia­gnostiziert wurde, stellte sich das AFP in 15% der Fälle als entscheidend heraus [7]. Allerdings senkt die Kombination Sonographie-AFP die Spezifität der Überwachung auf 84% im Vergleich zu 92% für die alleinige Sonographie [5]. Bei einem Grenzwert von 20 ng/ml (16,6 kIU/l) und einer HCC-Prävalenz von 5% hat ein erhöhter AFP-Wert einen positiven Vorhersagewert von rund 25% [3]. Die EASL empfiehlt darum nicht, die Bestimmung des AFP-Werts in das Screening einzubeziehen: In der Tat wird die Detektion sonographisch nicht diagnostizierter HCC-Fälle durch die beträchtliche Zunahme falsch positiver Ergebnisse ausgeglichen (siehe beispielsweise Tab. 2 [7]). Den Fachleuten der AASLD zufolge verbessern die Überwachungsprogramme, von denen zahlreiche AFP und Sonographie kombinieren, das Gesamtüberleben. Die amerikanischen Empfehlungen lassen also die Möglichkeit offen, AFP-Bestimmung und Sonographie zu kombinieren. Die SASL lässt diese Möglichkeit ebenfalls zu und erinnert gleichzeitig daran, dass die alleinige Überwachung durch das AFP unzureichend ist [4].
Tabelle 2: Ergebnisse des Screenings auf ein hepatozelluläres Karzinom (HCC) durch die Kombination Songraphie und Alpha-1-Fetoprotein (AFP) (adaptiert aus [7]: Lersrit­wimanmaen P, Nimanong S. Hepatocellular Carcinoma Surveillance: Benefit of Serum Alfa-fetoprotein in Real-world Practice. Euroasian J Hepatogastroenterol. 2018;8(1):83–7. doi: 10.5005/jp-journals-10018-1268. Copyright © 2018; Jaypee Brothers Medical Publishers (P) Ltd. This work is licensed under a Creative Commons Attribution 3.0 Unported License [http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/]).
SongraphieAFPHCC vorliegend N (%)HCC abwesend N (%)
Songraphie positivAFP positiv*31 (20,6)11 (3,6)
Songraphie positivAFP negativ91 (60,6)220 (72,8)
Songraphie negativAFP positiv*23 (15,3)17 (5,6)
Songraphie negativAFP negativ5 (3,3)54 (17,9)
 Gesamt150302
*AFP positiv falls >24 ng/ml (20 kIU/l)
Aktuelle Studien zeigen, dass die Interpretation der longitudinalen Veränderungen der AFP-Konzentration im zeitlichen Verlauf die Sensitivität und Spezifität der AFP-Bestimmung verbessert [3, 6, 8]. Durch die dynamische Verwendung des AFP kann dessen Sensitivität auf 80% ansteigen, mit einem negativen Vorhersagewert von 99% bei einer Krebsprävalenz von 3–5%. So legt ein AFP-Wert von ≤10 ng/ml (8,3 kIU/l), der – sofern er im selben Labor und mit der gleichen Messmethode bestimmt wurde – während der Überwachung leicht steigt (d.h. +1 ng/ml innert 6 Monaten) den Verdacht auf ein HCC nahe, da die analytische Variabilität der Messung gering ist. Dieses Konzept könnte die allgemeine Ansicht ändern, dass viele HCC kein AFP bilden [6].
Im Hinblick auf den Einsatz der Sonographie gilt es festzuhalten, dass 20% der Sonographien nicht zur Detektion eines HCC geeignet sind. Die Sonographie zeigt nämlich Limitationen bei Personen mit Adipositas, mit sehr grober oder nodulärer Echostruktur der Leber oder auch mit nichtalkoholischer Steatohepatitis. In diesen Fällen sollten andere bildgebende Verfahren wie die MRT und eine Vier-Phasen-Computertomographie der Leber erwogen werden [3].
Laut Analysenliste des Bundesamts für Gesundheit (BAG) beträgt der Tarif für eine AFP-Bestimmung 19.30 CHF.

Antwort auf die einleitende Frage

In unserem Fallbeispiel haben wir den Patienten zur Leber-MRT überwiesen, da der AFP-Wert bei 18 ng/ml (14,9 kIU/l) und somit über dem Grenzwert von 10 lag, die letzte Abklärung vor zwei Jahren erfolgte und die Sonographie bei Adipositas weniger leistungsfähig ist. In diesem Zusammenhang konnten wir aufgrund der raschen Progression eines HCC mit den Untersuchungen nicht bis zum nächsten Kontrolltermin in sechs Monaten und auch nicht in drei Monaten warten. Die Suche nach einer extrahepatischen Ursache der AFP-Erhöhung ist in diesem Fall nicht zweckdienlich, da man den AFP-Wert bei diesem Patienten mit hohem HCC-Risiko im klinischen Kontext interpretieren muss. Leider bestätigte die MRT die Diagnose HCC.

Kernbotschaften

• Alle Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner, die eine Person mit Zirrhose betreuen, müssen das Risiko des Auftretens eine hepatozellulären Karzinoms (HCC) in Betracht ziehen. Zudem gilt es, je nach Patientenprofil eine aktive Überwachung mit Blick auf eine frühzeitige Detektion eines HCC zu beginnen. Dieser Ansatz zeigte einen Nutzen im Hinblick auf das Überleben.
• Die HCC-Überwachung besteht grundsätzlich aus einer Sonographie alle sechs Monate mit ausreichender Qualität.
• Die Bestimmung von Alpha-1-Fetoprotein (AFP) zusätzlich zur Sonographie ist sinnvoll, um die Sensitivität der Überwachung zu verbessern, wobei das Risiko besteht, dass dadurch die Spezifität sinkt. Allerdings darf die AFP-Bestimmung nicht allein zur Überwachung herangezogen werden.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Nasrah Nur
Cabinet médical du ­Mont-Blanc
20, rue du Mont-Blanc
CH-1201 Genève
nasrah.nur[at]amge.ch
1 Galle PR, Foerster F, Kudo M, Chan SL, Llovet JM, Qin S, et al. Biology and significance of alpha-fetoprotein in hepatocellular carcinoma. Liver Int. 2019;39:2214–29.
2 Galle PR, Forner A, Llovet JM, Mazzaferro V, Piscaglia F, Raoul J-L, et al. EASL Clinical Practice Guidelines: Management of hepatocellular carcinoma. J Hepatol. 2018;69:182–236.
3 Marrero JA, Kulik LM, Sirlin CB, Zhu AX, Finn RS, Abecassis MM, et al. Diagnosis, Staging, and Management of Hepatocellular Carcinoma: 2018 Practice Guidance by the American Association for the Study of Liver Diseases. Hepatology. 2018;68(2):723–50.
4 Goossens N, Toso C, Heim MH. Management of hepatocellular carcinoma: SASL expert opinion statement. Swiss Med Wkly. 2020;150:w20296.
5 Tzartzeva K, Obi J, Rich NE, Parikh ND, Marrero JA, Yopp A, et al. Surveillance Imaging and Alpha Fetoprotein for Early Detection of Hepatocellular Carcinoma in Patients With Cirrhosis: A Meta-analysis. Gastroenterology. 2018;154:1706–18.
6 Biselli M, Conti F, Gramenzi A, Frigerio M, Cucchetti A, Fatti G, et al. A new approach to the use of α-fetoprotein as surveillance test for hepato-cellular carcinoma in patients with cirrhosis. Br J Cancer. 2015;112:69–76.
7 Lersritwimanmaen P, Nimanong S. Hepatocellular Carcinoma Surveillance: Benefit of Serum Alfa-fetoprotein in Real-world Practice. Euroasian J Hepatogastroenterol. 2018;8(1):83–7.
8 Tayob N, Lok ASF, Do KA, Feng Z. Improved Detection of Hepatocellular Carci-noma by Using a Longitudinal Alpha-Fetoprotein Screening Algorithm. lin Gastroenterol Hepatol. 2016;14(3):469–75.e2.