Zöliakie oder nicht?
Chamäleon der Medizin

Zöliakie oder nicht?

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08906
Swiss Med Forum. 2022;22(2728):459-461

Publiziert am 05.07.2022

Eine leicht adipöse 63-jährige Patientin stellt sich wegen ungewollter Gewichtsabnahme von 20 kg innerhalb von 18 Monaten vor.

Hintergrund

Gastrointestinale Beschwerden führen oft zu Konsultationen in der Hausarztpraxis. Mit einer Inzidenz von 1:132 für die Schweiz stellt die Zöliakie eine wichtige Differentialdiagnose dar [1]. Ihre Prävalenz liegt bei 1%, mit einem Häufigkeitsgipfel im Kindesalter respektive zwischen der zweiten und fünften Lebensdekade. Bei 20% aller Patientinnen und Patienten wird die Dia­gnose allerdings erst nach dem 60. Lebensjahr objektiviert [2]. Pathogenetisch führt eine gluteninduzierte Reaktion bei genetischer Prädisposition zu einer Lymphozyteninfiltration in die Dünndarmmukosa mit Veränderung der Krypten-Zotten-Relation bis zur kompletten Zottenatrophie, wodurch eine konsekutive Malabsorption ausgelöst wird. Aus diesen Veränderungen resultiert eine hohe Variabilität der Symptomatik, weshalb 80–90% der Betroffenen lange keine Kenntnis von ihrer Erkrankung haben [2]. Die leitliniengerechte Diagnostik der Zöliakie bei Erwachsenen bedingt die Kombination von Klinik, Serologie und Histologie. Nebst dem Nachweis des zöliakieassoziierten Immunglobulin-A-(IgA-)Antikörpers gegen Tissue-Transglutaminase (tTG-IgA-AK) und dem histologischen Korrelat entsprechend der Marsh-/Oberhuber-Klassifikation (Abb. 1) ist es wichtig, bei dem variantenreichen Erscheinungsbild die Zöliakie in jede einschlägige differentialdiagnostische Überlegung einzubeziehen.
Abbildung 1: Schematische Darstellung der histologischen Veränderungen gemäss der Marsh-/Oberhuber-Klassifikation mit Lymphozyteninfiltration, Veränderung der Zotten-Krypten-Relation bis Zottenatrophie (Quelle: Interreg Central Europe, Focus IN CD, © Interreg; Nachdruck mit freund­licher ­Genehmigung).
Im vorliegenden Fall soll auf eine Sonderform der Zöliakie aufmerksam gemacht und die Diagnosefindung wie auch die Abgrenzung gegenüber anderen Krankheitsbildern aufgezeigt werden.

Fallbericht

Anamnese und Status

Eine anfänglich leicht adipöse 63-jährige Patientin stellt sich wegen ungewollter Gewichtsabnahme von 20 kg innerhalb von 18 Monaten vor. Neben vermehrter Müdigkeit, postprandialen Bauchschmerzen, wechselhaftem Stuhlgang ohne Blutbeimengung beklagt die Patientin vermehrte Diarrhoe-Episoden. Fragen nach Nahrungsmittelunverträglichkeit, Änderung der Essgewohnheiten oder der Bewegungshäufigkeit sowie Fernreisen werden verneint. Die Frage nach Nikotinkonsum beantwortet die Patientin mit Ja. Die Patientin war stets normoton und ohne antihypertensive ­Therapie. Zur Vorgeschichte werden intermittierend auf­tretende ­Synovialitiden beider Hand-, diverser ­Finger- und Fussgelenke erwähnt. Bei positivem Rheuma­faktor wurde eine rheumatoide Arthritis vermutet, die mittels ­Methotrexat und Folsäure behandelt wurde. Mit der Zeit traten vermehrt Hautveränderungen (teils erythrosquamös, teils erythropustulös palmoplantar) begleitet von Mundwinkelrhagaden auf, so dass retro­spektiv eine Psoriasis-Arthritis dia­gnostiziert wurde. Methotrexat und Folsäure wurden letztmals zwei Jahre vor dem Auftreten der intestinalen Symptomatik appliziert. Die Psoriasis-Arthritis blieb seither symptomfrei. Die aktuelle medikamentöse Therapie umfasst Calcimagon, Vitamin D3 sowie Kaliumchlorid oral und bei Bedarf Metamizol-500-mg-Tabletten sowie lokale Kortikosteroide. Klinisch präsentiert sich die Patientin in guter Gemütsverfassung und reduziertem Ernährungszustand mit einem Body Mass Index (BMI) von 19,6 kg/m2 (48,3 kg Körpergewicht bei einer Grösse von 157 cm). Die Vitalparameter, der körperliche Status und das Elektrokardiogramm sind unauffällig.

Befunde

Laborchemisch zeigt sich eine makrozytäre, hyperchrome Anämie (Hb: 101 g/l, MCV: 99 fl, MCH: 35 pg) bei Vitamin-B12- und Folsäuremangel (Holotranscobalamin: 12,3 pmol/l, Ec-Folat [Folsäure in Blutzellen]: 170 nmol/l). Die INR («international normalized ratio») liegt bei 1,3. Es finden sich erniedrigte Werte des Albumin-korrigierten Kalziums und Magnesiums bei ­normaler Nieren- und Schilddrüsenfunktion. Die Entzündungsparameter sind normal und die Stuhlmikrobiologie hinsichtlich enterovirulente Escherichia coli, Salmonellen, Clostridioides difficile, Campylobacter, Yersinia enterocolitica, Tropheryma whipplei, Giardia lamblia fällt negativ aus. Eine HIV- oder Hepatitis-B-/-C-Infektion kann ausgeschlossen werden. Für ein Malignom besteht radiologisch (Computer­tomographie Thorax/Abdomen) sowie endoskopisch (Koloskopie) kein Hinweis. Differentialdiagnostisch werden eine intestinale Manifestation der Psoriasis-Arthritis sowie eine Zöliakie in Betracht gezogen. Der Test auf tTG-IgA-AK im ­Serum ergibt bei normwertigem IgA-Spiegel jedoch ein negatives Ergebnis. Gastroskopisch imponiert eine Duodenitis mit ulzero-erosiven Läsionen und makro­skopisch atropher Schleimhaut (Abb. 2).
Abbildung 2: Gastroskopie: Schleimhautatrophie im Bulbus duodeni mit fehlendem Zottenflor.
Histologisch zeigen sich massive intraepitheliale Lymphozyteninfiltrate, eine geringe Kryptenhyperplasie sowie eine fortgeschrittene Atrophie der Zotten entsprechend einer Marsh-/Oberhuber-Klassifikation Typ 3b–3c oder kurz: Marsh 3b–3c. Hinweise auf eine Besiedelung mit Helicobacter pylori oder auf eine chronisch atrophe Gastritis bestehen nicht.
Infolge der Diskordanz von Histologie und Serologie ­erfolgt eine genetische Bestimmung von HLA-DQ2 und -DQ8 mit positivem Resultat. Bei ausgewogener und insbesondere glutenhaltiger Ernährung wird bei der Patientin deshalb eine seronegative Zöliakie vermutet.

Therapie, Verlauf und Diagnose

Unter einer glutenfreien Ernährung und Substitution von Kalzium, Vitamin D, Vitamin B12 und Folsäure zeigt sich die Patientin nach drei Monaten beschwerdefrei mit Normalisierung der Stuhltätigkeit und einer Gewichtszunahme von 3 kg. Aufgrund des guten klinischen Ansprechens unter glutenfreier Diät sowie der Befundkonstellation mit positiver Histo­logie und Nachweis der genetischen Marker verdichten sich nach wenigen Monaten die Belege für eine sero­negative ­Zöliakie. In der Verlaufsendoskopie 17 Monate nach ­Beginn der strikt glutenfreien Diät zeigt sich eine Besserung des histologischen Befundes. Die Patientin ist beschwerdefrei und hat insgesamt 15 kg zugenommen.

Diskussion

Die Zöliakie gilt als «Chamäleon» in der Medizin und zeigt insbesondere bei Erwachsenen einen oligosym­ptomatischen Verlauf mit heterogener Klinik. Die Sonderform einer seronegativen Zöliakie findet sich nur in 3–5% der Fälle [3]. Bei negativem tTG-IgA-AK-Test unter glutenhaltiger Ernährung basiert die Diagnose auf ­einem typischen histologischen Befund (Marsh-/Oberhuber-Klassifikation Typ 3), auf positiven HLA-DQ2/-DQ8-Markern und auf einer Besserung der klinischen und histologischen Befunde unter einer glutenfreien Diät [4] (Abb. 3).
Abbildung 3: Schematische Darstellung des diagnostischen Algorithmus für seronegative Zöliakie. tTG-IgA-AK: Immunglobulin-A-Antikörper gegen Tissue-Transglutaminase.
Übereinstimmend zum vorliegenden Fall besteht bei der seronegativen Zöliakie eine höhere Prävalenz von gastrointestinalen Symptomen. Im Vergleich zur seropositiven Zöliakie sind die Betroffenen bei der Erstdiagnose im Median älter und haben eine höhergradige villöse Atrophie [5]. Die hierdurch verursachte Malabsorption kann eine Anämie verursachen und erhöht das Frakturrisiko um das Zwei- bis Dreifache [2]. Bei 30% der Zöliakie-Betroffenen besteht eine funktionelle Hyposplenie [3], sodass eine Auffrischung der Pneumokokken-Impfung erfolgen und die Hepatitis-B-Impfantwort überwacht werden sollen [6]. In unserem Fall zeigt sich anschaulich, dass ein negativer Antikörpertest trotz des hohen negativen prädiktiven Wertes die Klinikerin oder den Kliniker nicht dazu verleiten darf, eine Zöliakie auszuschliessen. Die Seronegativität könnte eine der Ursachen für die beträchtliche dia­gnostische Verzögerung sein, die für die Zöliakie insgesamt durchschnittlich 87 Monate (Median 24 Monate) beträgt. Bei Frauen erfolgt die Diagnose signifikant ­später als bei Männern [7]. Daher ist es wichtig, bei ­anhaltend intestinalen Symptomen, insbesondere mit ­Zeichen einer Malabsorption und trotz negativer ­Zöliakie-Serologie, eine histologische Untersuchung der Duodenalschleimhaut durchzuführen und diese durch Überprüfung der HLA-DQ2/-DQ8-Marker zu ergänzen. Erst mittels dieser differenzierten Abklärungen und nach Ausschluss infektiöser, autoimmuner oder medikamentös-toxischer Ursachen darf eine seronegative Zöliakie angenommen werden [8].
Differentialdiagnostisch existieren zahlreiche Krankheitsbilder unterschiedlicher Pathogenese, deren ­Gemeinsamkeit mit der Zöliakie in der Klinik, der ­Histologie, der immunologischen oder genetischen Veränderung oder in der Besserung unter glutenfreier Diät liegen kann. Bei der Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität klagen die Patientinnen und Patienten über ­Zöliakie-ähnliche Symptome. Immunologisch und gegebenenfalls genetisch bestehen vergleichbare Veränderungen; ausserdem bilden sich die Beschwerden unter einer glutenfreien Ernährung zurück. Im Gegensatz zur Zöliakie besteht jedoch keine villöse Atrophie der Duodenalschleimhaut [9]. Umgekehrt ist die villöse Atrophie nicht pathognomonisch für eine Zöliakie. Sie tritt beispielsweise bei einer Giardiasis oder Morbus Crohn sowie bei der medikamentös ­induzierten Enteropathie (beispielsweise verursacht durch Olmesartan oder nicht steroidale Antirheumatika) auf [8]. Letztere wie auch die Autoimmun-Enteropathie weisen histologisch und immunologisch dieselben Merkmale wie eine seronegative Zöliakie auf. Auch in diesen Fällen sind die Betroffenen HLA-DQ2/-DQ8-positiv. Allerdings tritt bei diesen Krankheitsbildern keine Besserung ­unter einer glutenfreien Diät ein [10].
Letztendlich handelt es sich bei der seronegativen ­Zöliakie um eine Ausschlussdiagnose. Sie sollte frühestens nach einem Jahr glutenfreier Ernährung bei ­gutem ­klinischem und histologischem Ansprechen mittels Verlaufsendoskopie diagnostiziert werden [3]. Die lebens­lange konsequente gluten- respektive getreidefreie Diät stellt, wie bei der seropositiven Zöliakie, aktuell die alleinige Therapie dar.

Das Wichtigste für die Praxis

• Die Zöliakie zeigt ein variantenreiches Erscheinungsbild. Sie ist daher grosszügig in die Differentialdiagnostik einzubeziehen.
• Die Diagnose der Zöliakie erfolgt anhand Klinik, Bestimmung von tTG-IgA-AK und IgA (Serologie) und Histologie (Dünndarmbiopsie). Die genetische Untersuchung auf HLA-DQ2/-DQ8 sollte nur in Spezialfällen durchgeführt werden.
• Die seronegative Zöliakie ist eine Sonderform der Zöliakie mit negativem tTG-IgA-AK-Untersuchungsergebnis bei glutenhaltiger Ernährung.
• Bei der seronegativen Zöliakie sind die Betroffenen älter und haben häufiger gastrointestinale Symptome.
• Aufgrund der Malabsorption besteht ein höheres Frakturrisiko; Impfungen gegen Pneumokokken sollten aufgefrischt und die Hepatitis-B-Impfantwort überwacht werden.
Wir danken der Abteilung Gastroenterologie/Hepatologie des Luzerner Kantonsspitals für die Zurverfügungstellung der Bilder.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. univ.
­Danièle  Boullanger
Pilatus Praxis
Hallwilerweg 2
CH-6003 Luzern
d.boullanger[at]pilatuspraxis.ch
 1 Bai JC, Ciacci C. World Gastroenterology Organisation Global Guidelines: Celiac Disease February 2017. J Clin Gastroenterol. 2017;51(9):755–68.
 2 Oxentenko AS, Rubio-Tapia A. Celiac Disease. Mayo Clin Proc. 2019;94(12):2556–71.
 3 Caio G, Volta U, Sapone A, Leffler DA, De Giorgio R, Catassi C, Fasano A. Celiac disease: a comprehensive current review. BMC Med. 2019;17(1):142.
 4 Volta U, Caio G, Boschetti E, Giancola F, Rhoden KJ, Ruggeri E, Paterini P, De Giorgio R. Seronegative celiac disease: Shedding light on an obscure clinical entity. Dig Liver Dis. 2016;48(9):1018–22.
 5 Al-Toma A, Volta U, Auricchio R, Castillejo G, Sanders DS, Cellier C, et al. European Society for the Study of Coeliac Disease (ESsCD) guideline for coeliac disease and other gluten-related disorders. United European Gastroenterol J. 2019;7(5):583–613.
 6 Passanisi S, Dipasquale V, Romano C. Vaccinations and immune response in celiac disease. Vaccines (Basel). 2020;8(2):278.
 7 Vavricka SR, Vadasz N, Stotz M, Lehmann R, Studerus D, Greuter T, et al. Celiac disease diagnosis still significantly delayed – doctor’s but not patients’ delay responsive for the increased total delay in women. Dig Liver Dis. 2016;48(10):1148–54.
 8 Aziz I, Peerally MF, Barnes JH, Kandasamy V, Whiteley JC, Partridge D, Vergani P, et al. The clinical and phenotypical assessment of seronegative villous atrophy; a prospective UK centre experience evaluating 200 adult cases over a 15-year period (2000–2015). Gut. 2017;66(9):1563–72.
 9 Borghini R, Donato G, Alvaro D, Picarelli A. New insights in IBS-like disorders: Pandora’s box has been opened; a review. Gastroenterol Hepatol Bed Bench. 2017 Spring;10(2):79–89.
10 Corazza GR, Biagi F, Volta U, Andreani ML, De Franceschi L, Gasbarrini G. Autoimmune enteropathy and villous atrophy in adults. Lancet. 1997;350(9071):106-9.