Neutropenien
Hämatologische Erkrankungen

Neutropenien

Übersichtsartikel
Ausgabe
2022/0708
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08922
Swiss Med Forum. 2022;22(0708):138-143

Affiliations
a Labor für Hämatopoiese und molekulare Genetik, Departement BioMedizinische Forschung, Universität Bern, Bern b Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Gastroenterologie, Spital Tiefenau, Insel Gruppe AG, Bern

Publiziert am 15.02.2022

Die Ursachen von Neutropenien sind sehr vielfältig, wobei akquirierten Neutro­penien am häufigsten Infektionen, Medikamente oder ein Mangel an Substraten zugrunde liegen.

Definition

Die absolute Neutrophilenzahl («absolute neutrophil count» oder ANC) ergibt sich aus der Summe der Anzahl stab- und segmentkerniger Neutrophilen, die im Differenzialblutbild erhoben wird. Allfällige weisse Vorstufen (Metamyelozyten, Myelozyten, Blasten), die in der Regel bei Gesunden nicht im Blutbild nachweisbar sind, werden nicht miteingerechnet.
Bei Erwachsenen spricht man von einer Neutropenie bei einer ANC <1500/μl (<1,5 × 109/l), wobei manche ethnischen Gruppen tiefere Leukozytenwerte sowie eine tiefere ANC aufweisen können (z.B. aus Afrika abstammende Amerikaner, jemenitische Juden, Äthiopier sowie manche Araber). Eine deutlich höhere ANC findet sich bei Neugeborenen, etwas weniger erhöhte Werte zeigen sich ab zwei Wochen bis ein Jahr nach Geburt.
Basierend auf der ANC werden die Neutropenien in milde, moderate oder schwere Formen eingeteilt. Bei einer ANC zwischen 1000 und 1500 Zellen/μl (ANC 1,0–1,5 × 109/l) spricht man von einer milden Form, bei 500 bis 1000 Zellen/μl (ANC 0,5–1,0 × 109/l) von einer moderaten Form, bei <500 Zellen/μl (ANC <0,5 × 109/l) von einer schweren Form und bei <200 Zellen/μl (ANC <0,2 × 109/l) von einer Agranulozytose [1].

Klinische Fallpräsentationen

Fallbeispiel 1

Eine 18-jährige Patientin wurde der Notfallstation mit Verdacht auf akute Leukämie wegen deutlicher Verschlechterung des Allgemeinzustandes mit seit zwei bis drei Wochen intermittierenden Kopf- und Halsschmerzen, kurzzeitiger Diarrhoe mit leicht blutigem Stuhl zwei Wochen zuvor, persistierendem Nachtschweiss seit einer Woche und Fieber bis 39 °C seit einem Tag zugewiesen. Vorerkrankungen oder Auslandsreisen, auch in der Familie, bestanden nicht und die Patientin nahm ausser Paracetamol keine Medikamente ein.
In der Untersuchung fanden sich zahlreiche, leicht vergrösserte (1–2 cm), weiche, zum Teil druckdolente Lymphknoten zervikal, submandibulär und axillär sowie eine leichte Hepato- und Splenomegalie. Bei der ersten Laboruntersuchung fielen primär eine leichte, normochrome, normozytäre Anämie mit einem Hämoglobin von 109 g/l (Referenz: 121–154 g/l) sowie eine mittelschwere Thrombozytopenie von 68 × 109/l (Referenz: 140–380 × 109/l) auf; die Leukozytenzahl war mit 4,6 × 109/l (Referenz: 3,5–10,5 × 109/l) normal. Im Differenzialblutbild zeigte sich am ersten Tag sowie über mehrere Wochen eine leichte Neutropenie bei einer passageren leichten Leukozytose und Lymphozytose, und es konnten weisse Vorstufen, Plasmazellen, Lymphozyten mit Granula und Kernschatten, jedoch keine Blasten nachgewiesen werden (s. Tab. S1 im Online-Appendix des Artikels sowie Abb. 1).
Abbildung 1: Grössere, monozytär imponierende Lymphozyten mit feinen Granula (Pfeil; Färbung nach May-Grünwald-Giemsa; Vergrösserung 1000-fach).
Das C-reaktive Protein (CRP) war in den ersten zehn Tagen leicht erhöht bis maximal 24 mg/l (Referenz: <5 mg/l), zudem fielen Erhöhungen der Leberwerte (Aspartat-Aminotransferase [ASAT], Alanin-Aminotransferase [ALAT]) bis auf 163 respektive 159 U/l (Referenz: <35 U/l) an Tag 4 sowie der Laktatdehydrogenase (LDH) bis auf 1067 U/l (Referenz: <480 U/l) an Tag 7 auf. Die Gerinnungswerte waren unauffällig.
Differenzialdiagnostisch kam eine infektiöse, maligne oder immunologische Ursache infrage. Aufgrund des jungen Alters der Patientin und des Blutbildes mit initial isolierter Neutropenie und atypischen Lymphozyten ohne Hinweis auf Blasten stand primär eine infektiöse Ursache im Vordergrund. Die infektiologische Abklärung bei Eintritt mit Abnahme von Blutkulturen, einem Influenza-Schnelltest und serologischen Tests auf Zytomegalievirus (CMV), Epstein-Barr-Virus (EBV), Humanes Immundefizienz-Virus (HIV) sowie Hepatitis-B- (HBV) und -C-Virus (HCV) fiel negativ aus. Im Ul­traschall des Abdomens und im Hals- und Thorax-Computertomogramm (CT) bestätigten sich die leichte Hepato- und Splenomegalie sowie die leicht vergrös­serten Lymphknoten zervikal, submandibulär und axillär; weitere Pathologien fanden sich nicht. In der Eiweisselektrophorese zeigte sich das Bild einer Entzündungsreaktion mit polyklonalen Immunglobulinen. Laborchemisch ergaben sich keine Hinweise auf eine immunologische oder rheumatische Erkrankung.
Die Patientin wurde primär beobachtet und symptomatisch behandelt. Eine Knochenmarkpunktion war als nächster diagnostischer Schritt vorgesehen, sollten sich die Blutwerte innerhalb der nächsten zwei Tage verschlechtern, da differenzialdiagnostisch auch eine seltene aleukämische Leukämie möglich war. Am vierten Tag der Hospitalisation wurde bei anhaltendem Verdacht auf einen EBV-Infekt nochmals eine Serologie abgenommen, die sich mit Nachweis von Antikörpern gegen das virale Capsid VCA-IgM mit 1,8 (<0,5 Index) und VCA-IgG mit 5,6 (<0,8 Index) tatsächlich als positiv herausstellte.
Der klinische Verlauf mit deutlicher Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Tonsillopharyngitis, symme­trischen Lymphknotenschwellungen und Hepato- und Splenomegalie sowie der laborchemische Verlauf mit einer passageren leichten Leukozytose und Lymphozytose mit atypischen Lymphozyten ohne Nachweis von Blasten, einer leichten Anämie und Thrombozytopenie sowie einer anhaltenden leichten Neutropenie passen sehr gut zu einem EBV-Infekt. Negative Werte für die EBV-Antikörper IgM und IgG schliessen eine infektiöse Mononukleose bei kurzer Krankheitsdauer nicht aus, weshalb eine Verlaufstestung indiziert sein kann [2].

Fallbeispiel 2

Eine 80-jährige Patientin wurde dem Spital notfallmäs­sig wegen Verschlechterung ihres Allgemeinzustandes und eines Hämoglobin-Abfalls von 110 auf 81 g/l zugewiesen. In der Anamnese ergab sich, dass sich der Allgemeinzustand schon über Wochen verschlechtert hatte und diverse Vorerkrankungen vorlagen: ein nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus, eine hypertensive und koronare Herzerkrankung mit Status nach diversen koronaren Stent-Einlagen, eine chronische Niereninsuffizienz Grad III, eine asthmoide Bronchitis, eine leichtgradige Antrumgastritis sowie eine seropositive chronische Polyarthritis. An Medikamenten nahm die Patientin Acetylsalicylsäure 100 mg/Tag, Clopidogrel 75 mg/Tag, Amlodipin 10 mg/Tag, Valsartan 160 mg/Tag, Torasemid 10 mg/Tag, Rosuvastatin 20 mg/Tag, Methotrexat 10 mg/Woche subkutan, ein Kombina­tionspräparat aus Metformin und Vildagliptin 50/1000 mg 2×/Tag und Pantoprazol 40 mg/Tag ein.
Im Blutbild zeigte sich bei Eintritt eine Panzytopenie mit einer normochromen, normozytären, hyporegenerativen Anämie bei einem Hämoglobin von 74 g/l (Referenz: 121–154 g/l), einer schweren Leukozytopenie von 0,8 × 109/l (Referenz: 3,5–10,5 × 109/l) bei deutlicher Neutropenie von 0,5 × 109/l sowie einer schweren Thrombozytopenie von 24 × 109/l (Referenz: 140–380 × 109/l) (s. Tab. S2 im Online-Appendix des Artikels).
Da die schwere Neutropenie sich nicht isoliert, sondern im Rahmen einer Panzytopenie präsentierte, stellte sich differenzialdiagnostisch primär die Frage nach dem ursächlichen Mechanismus, der den fehlenden Blutzellen in der Zirkulation zugrunde lag: Handelte es sich um einen vermehrten Verbrauch oder eine Sequestration hämatopoetischer Zellen in der Peripherie (z.B. bei Infekten oder einer Splenomegalie), um eine verminderte Regeneration/Produktion hämatopoetischer Zellen im Knochenmark (z.B. bei Sub­stratmangel, Toxizität, Myelodysplasie, aplastischer Anämie oder angeborenen Störungen) oder um eine Verdrängung der normalen Hämatopoese im Knochenmark (z.B. bei Infiltration des Knochenmarks durch Leukämie, Lymphome, Myelome oder knochenmarksfremde Elemente) – oder aber um eine Kombination aus den Genannten?
Als Ursprung der Panzytopenie ergaben sich bei dieser Patientin mehrere Ursachen: ein deutlicher Folsäuremangel von 4,5 nmol/l (Referenz: 10,4–42,4 nmol/l), der insbesondere durch die Kombination mit der langjährigen Einnahme von niedrig dosiertem Methotrexat, das zusätzlich die Produktion der Blutbildung bremst und damit zur Neutropenie respektive Panzytopenie führen kann, verstärkt wurde. Zudem bestand ein chronischer Blutverlust mit einem Eisenmangel. Deshalb war die Grösse der Erythrozyten mit einem MCV («mean corpuscular volume») von 94 fl normozytär und nicht makrozytär, wie beim Folsäuremangel und bei Methotrexat-Einnahme zu erwarten gewesen wäre, allerdings bei deutlicher Anisozytose.
Nach Substitution von Folsäure und Eisen, passagerem Absetzen von Methotrexat sowie des kurz zuvor eingeführten Pantoprazols (Acetylsalicylsäure und Clopidogrel waren wegen der erst kürzlich erfolgten koronaren Stent-Einlage noch indiziert) verbesserten sich die Leukozytopenie und Neutropenie langsam, und es kam zur Regredienz der Thrombozytopenie sowie Verbesserung der Anämie. Es ist bekannt, dass unter langjähriger Low-Dose-Therapie mit Methotrexat nicht selten Panzytopenien und schwere Neutropenien auftreten [3], weshalb die Indikation zur Fortsetzung der Therapie sowie die Substitution von Folsäure regelmässig überprüft werden sollten. Verbessern sich die Blutwerte unter diesen Massnahmen nicht, muss differenzialdiagnostisch auch ein Methotrexat-assoziiertes myelodysplastisches Syndrom in Betracht gezogen und mittels Knochenmarkpunktion abgeklärt werden. Bei Auftreten eines Infekts ist die Abklärung einer Agranulozytose aufgrund der therapeutischen Konsequenzen indiziert.

Fallbeispiel 3

Eine 47-jährige Patientin wurde wegen zunehmender Müdigkeit seit etwa sechs Monaten sowie schwerer Neutropenie und Anämie der Notfallstation zugewiesen. Wegen perimenopausaler Hypermenorrhoe wurde sie mit Eisen substituiert. Vorerkrankungen, auch in der Familie, oder gehäufte Infekte wurden nicht angegeben. Die Patientin hatte in der letzten Zeit keine Auslandsreisen unternommen und nahm ausser dem Eisenpräparat keine weiteren Medikamente ein.
In der Untersuchung fanden sich Fieberbläschen an den Lippen, jedoch keine Lymphadenopathie und keine Hepatosplenomegalie.
Laborchemisch bestanden eine mittelschwere, mikrozytäre, hypochrome Anämie mit einem Hämoglobin von 91 g/l (Referenz: 121–154 g/l), eine Leukozytopenie von 1,9 × 109/l (Referenz: 3,5–10,5 × 109/l) mit schwerer Neutropenie von 0,5 × 109/l, eine deutliche Monozytopenie von 0,01 × 109/l (Referenz 0,20–0,93 × 109/l) sowie eine mittelschwere Thrombozytopenie von 88 × 109/l (140–380 × 109/l) (s. Tab. S3 im Online-Appendix des Artikels). Die weiteren laborchemischen Werte und die Gerinnungsparameter waren unauffällig. Im Blutausstrich zeigten sich auffällige Lymphozyten mit haarförmigen Ausläufern (Abb. 2), die immunphäno­typisch nebst dem B-Zell-Marker die Marker für CD103, CD11c und CD25 exprimierten und somit sogenannten Haarzellen entsprachen. Die Diagnose der Haarzellleuk­ämie wurde sowohl immunhistochemisch als auch anhand des Nachweises einer BRAF-V600E-Mutation bestätigt.
Abbildung 2: A) Blutausstrich (Färbung nach May-Grünwald-Giemsa; Vergrösserung 1000-fach) und Immunphänotypisierung. B) Knochenmarkaspirat: zahlreiche Haarzellen (*) morphologisch (Färbung nach May-Grünwald-Giemsa; Vergrösserung 400-fach). Knochenmarkbiopsie: deutliche Vermehrung von B-Zellen (CD20+ in Braun; Vergrösserung 400-fach).
Therapeutisch erhielt die Patientin 2-Chlorodeoxyadenosin (2-CDA), das meist zu einer kompletten Remission der Erkrankung führt. Der Nachteil dieser Therapie ist die langanhaltende schwere Neutro- und Lymphopenie, die zu der bereits leukämiebedingten Neutropenie noch weiter beitragen. Beide Ursachen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, ein neutropenisches Fieber oder virale Infekte zu entwickeln. Als Infektprophylaxe bei anhaltender schwerer Neutropenie wurden deshalb Cotrimoxazol 800/160 mg oral 3× /Woche sowie bei rezidivierendem Herpes labialis Valaciclovir 500 mg/Tag oral verabreicht. Bei antizipierter, langanhaltender schwerer Neutropenie und Infekten oder grösserem Risiko für Infekte wurde auch die grosszügige Gabe des Wachstumsfaktors Filgrastim, eines «granulocyte-­colony stimulating factor» (G-CSF), empfohlen.

Ätiologien von Neutropenien

Die Ursachen von Neutropenien sind sehr vielfältig und können zum einen anhand des Mechanismus der Entstehung und zum anderen anhand des Auslösers klassifiziert werden. Die Einteilung nach dem Mechanismus hat den Vorteil, dass der Reservepool an vor allem im Knochenmark befindlichen Neutrophilen miteinbezogen wird, was für die Beurteilung des Infektrisikos von Bedeutung sein kann. Da diese Klassifizierung aber im klinischen Alltag nicht praktikabel ist, wird die zielführendere Einteilung anhand des Auslösers angewendet.
Bei den akquirierten Neutropenien sind Infektionen, Medikamente und ein Mangel an Substraten die häufigsten Auslöser.
Postinfektiöse Neutropenien durch Bakterien (z.B. Rickettsien), Viren oder Pilze sind bei Weitem die häufigste Ursache. In der Regel ist die postinfektiöse Neutropenie von kurzer Dauer und führt selten zu bakteriellen Superinfektionen. Typischerweise zeigt sich jedoch eine protrahierte Neutropenie bei Infektionen mit HBV, EBV (s. Fallbeispiel 1) und HIV.
Die zweithäufigste Ursache für akquirierte Neutrope­nien sind Medikamente. Dabei werden zytotoxische Medikamente (Chemo- und Immuntherapeutika), bei denen eine Neutropenie durch Hemmung der Myelopoese erwartet werden kann (s. Fallbeispiel 2), und idiosynkratische Reaktionen von Medikamenten, die in der Regel innerhalb von vier Wochen nach Beginn der Medikation auftreten und durch verschiedene Mechanismen (z.B. immunologisch oder direkt toxisch) ausgelöst werden können, unterschieden. Im Memo (Tab. 1; s.  auch Table 2 der Referenz 4) finden sich die zehn häufigsten Medikamente, die zu schweren Neutropenien führen können [4]. Vor allem ältere Menschen sind anfällig für medikamentös bedingte Neutropenien und Agranulozytosen [5].
Tabelle 1: Memo.
Wichtige FragenBasis bei LabordiagnostikWeiterführende Untersuchungen in Zusammenarbeit mit ­Hämatologinnen/Hämatologen
• Dauer und Ausmass der Leukopenie? ­(Vorwerte, falls eruierbar)
• Weitere Fälle in der Familie?
• Medikamenteneinnahme? Welche? ­Dosis und Dauer?
• Vorerkrankungen? Auch familiär?
• Immunerkrankungen? Auch familiär?
• Malignome? Auch familiär?
• Auslandaufenthalte?
• Infekte? Häufung und Ausmass?
• Erhöhte Temperatur? Höhe, Dauer und ­Häufigkeit?
•Veränderungen an Haut oder ­Schleim­häuten?
• Blutwerte und visuelles Differenzial­blutbild (Handdifferenzierung)
•Entzündungsparameter: CRP, allenfalls Proteinelektrophorese, Gerinnungsstatus
• Substrate: Folsäure, Vitamin B12, Eisenstatus, allenfalls Kupfer
• Virenserologie: EBV, CMV, HIV, Hepatitis B und C
• Organbeteiligung: Leber- und Nierenwerte
• Autoimmunserologie: Rheumafaktor, ANA, anti-DNA
• Knochenmarkaspirat: Morphologie, Menge und Verteilung der Zellen
• Knochenmarkbiopsie: Knochen- und Knochenmarkstruktur, ­Zellgehalt, -verteilung und Expression von Zellmarkern
• Blut und/oder Knochenmarkaspirat für Flow-Zytometrie ­(Veränderungen von Zellmarkern auf der Oberfläche oder ­intrazellulär, z.B. bei Leukämien)
• Blut und/oder Knochenmarkaspirat für Zytogenetik (Meta- ­[konventionell] oder Interphasenuntersuchungen [FISH]), z.B. bei Verdacht auf Neoplasien oder vererbten Veränderungen
• Blut und/oder Knochenmarkaspirat für molekulare Genetik, z.B. bei Verdacht auf Neoplasien oder vererbten Veränderungen
Häufige Risikopatientinnen/-patientenHäufige RisikomedikamenteHäufige Risikosituationen
Bei Immunsuppression durch:
• Chemotherapie
• Angeborene Immundefekte
• Autoimmunerkrankungen
• Therapeutische Immunsuppressiva, z.B. bei chronisch- entzündlichen Darm­erkrankungen oder rheumatologischen Erkrankungen
• Gewisse Leukämien, Knochenmarkaplasien und myelodysplastische Syndrome
• Bei Hemmung der Hämatopoese, z.B. Methotrexat, Propylthiouracil, ­Carbimazol
• Bei Eingriff in Zytokinsysteme, z.B. ­Antikörpertherapien wie z.B. ­Rituximab
•Bei idiosynkratischen Medikamenten­nebenwirkungen, z.B. Metamizol, ­Sulfasalazin, Cloxapin, Ticlopidin, ­Penicillin, Dapson
• Ältere Patientinnen/Patienten
• Kombination von zahlreichen Medikamenten
• Infekte, v.a. viral, z.B. durch EBV, HIV, Hepatitis B
• Substratmangel, z.B. Vitamin B12, Folsäure, Kupfer
ANA: Antinukleäre Antikörper; CMV: Zytomegalievirus; CRP: C-reaktives Protein; EBV: Epstein-Barr-Virus; HIV: Humanes Immundefizienzvirus.
Auch ein Mangel an den Substraten Vitamin B12, Folsäure oder Kupfer kann zu Neutropenien und vor allem auch Panzytopenien führen (s. Fallbeispiel 2).
Weiter können Immunerkrankungen mit antineutrophilen Antikörpern ebenfalls zu akquirierten isolierten Neutropenien und Agranulozytosen führen.
Weit häufiger sind jedoch Ursachen, die die gesamte Blutbildung betreffen und sich als Panzytopenien mit Anämie, Thrombozytopenie und Neutropenie/Agranulozytose präsentieren. Im Vordergrund stehen das myelodysplastische Syndrom, das vor allem ältere Menschen betrifft, sowie Leukämien (s. Fallbeispiel 3), eine aplastische Anämie oder eine Panzytopenie im Rahmen einer Chemotherapie, die alle Altersstufen betreffen können.
Zu den seltenen Ursachen zählen die angeborenen Neutropenien/Agranulozytosen, wie die kongenitale Neutropenie, die zyklische Neutropenie, angeborene Stoffwechselstörungen oder primäre Immundefekte.

Folgen einer schweren Neutropenie

Die weitaus häufigste klinische Präsentation bei schweren Neutropenien sind rezidivierende Infekte. Es ist zu beachten, dass klassische Zeichen einer Infektion mit Schwellung, Rötung und Überwärmung aufgrund der Agranulozytose weniger evident sein können. Die Lokalisation von Infektionen ist vor allem im Bereich der Mundhöhle, der Haut, perirektal und genital zu suchen. Kommt es zur Bakteriämie, sind oft die Lungen oder der Gastrointestinaltrakt betroffen.

Infektionsrisiko bei Neutropenien

Bei Neutropenien und Agranulozytosen ist die Einschätzung des Risikos, eine Infektion zu erleiden, aber auch der Fähigkeit des Körpers, adäquat auf eine Infektion zu reagieren, sehr wichtig. Dabei spielt die Reserve von Neutrophilen im Knochenmark, also deren Produktion und Mobilisation in die Peripherie eine wichtige Rolle. Das Risiko für Infekte steigt mit dem Ausmass und der Dauer der Neutropenie/Agranulozytose, insbesondere bei Unfähigkeit, Neutrophile zu produzieren und zu mobilisieren. Ein klar erhöhtes Risiko besteht bei einer ANC <500 Zellen/μl (0,5 × 109/l) und ungenügender Neutrophilenreserve oder zusätzlichen Immundefizienzen, während bei einer ANC >1500 Zellen/μl (1,5 × 109/l) das Infektrisiko in der Regel nicht erhöht ist [1].
Während bekannt ist, dass bei Menschen mit chemotherapieinduzierten Neutropenien/Agranulozytosen meist ein erhöhtes Risiko für Infekte und eine Unfähigkeit des Körpers, adäquat auf den Infekt zu reagieren, besteht, ist die Einschätzung bei den nicht chemotherapieinduzierten Neutropenien/Agranulozytosen oft viel schwieriger, da diese sehr heterogen sind und das Ausmass von keinen bis hin zu lebensbedrohlichen Infekten reichen kann.
Da die Untersuchung des Knochenmarks, die einen Anhaltspunkt über den Zustand der Blutbildung gibt, meist zum Zeitpunkt der initialen Beurteilung nicht vorliegt und bei milden und transienten Neutropenien, bei Fehlen von Infekten oder Zeichen von adäquatem Neutrophilennachschub primär auch nicht nötig ist, sollte man bei der Beurteilung des Infektionsrisikos auf klinische Zeichen einer adäquaten Reserve und Funktion von Neutrophilen achten. Das Vorhandensein von Abszessen oder die Gewinnung von purulentem Material sprechen für eine adäquate Neutrophilenreserve und -verteilung. Ulzerationen der Mundschleimhaut, Karies und schwere Gingivitis zeigen dagegen eher eine schlechte Neutrophilenreaktion an. Eine Splenomegalie könnte auf eine chronische Entzündung oder eine hämatologische Erkrankung hinweisen, die mit einer eingeschränkten Neutrophilenreaktion einhergehen kann (s. Fallbeispiel 3). Zeigt sich zusätzlich zur Neutropenie/Agranulozytose noch eine Lymphozytopenie, suggeriert dies ein noch höheres Risiko für eine Infektion.

Massnahmen bei erhöhtem ­Infektions­risiko

Patienten und Patientinnen sollten bei einer Neutropenie/Agranulozytose über ihr individuelles Infek­tionsrisiko aufgeklärt werden. Wichtig sind eine gute Hand-, Zahn- und Mund-Hygiene und die regelmässige Überprüfung des Impfplans (z.B. saisonale Grippeimpfung) durch die Behandelnden. Bei rezidivierenden oder schweren Infekten kann auch bei nicht chemotherapieinduzierter Neutropenie/Agranulozytose die Gabe eines myeloiden Wachstumsfaktors wie Filgrastim (G-CSF) zielführend sein, insbesondere bei Personen mit einer ANC <500 Zellen/μl (<0,5 × 109/l) und rezidivierenden Ulzerationen oder wenn zwei oder mehr schwere Infektionen pro Jahr vorkommen (s. Fallbeispiel 3). Kurzwirksame G-CSF-Präparate in einer Dosierung von 1–3 μg/kg/Tag subkutan (allfällige Nebenwirkungen wie Knochenschmerzen, Fieber und Malaise sind zu beachten) sollten bei nicht chemotherapie­induzierter Neutropenie/Agranulozytose nicht aufgrund einer tiefen absoluten Neutrophilenzahl, sondern aufgrund rezidivierender Infekte eingesetzt werden. Prophylaktische Antibiotikatherapien bei nicht chemotherapieinduzierten Neutropenien haben sich nicht wirklich bewährt.
Da sich bei einem Mangel an Neutrophilen die Betroffenen nicht mit typischen Zeichen einer Infektion präsentieren, muss bei Fieber immer von einer Infektion ausgegangen werden und rasch mit einer empirischen Breitbandantibiotikatherapie begonnen werden. Vor Gabe der Antibiotika sollten jedoch möglichst rasch Blutkulturen sowie weitere, gezielt auf einen möglichen Infektfokus gerichtete Kulturen (aus Urin, Sputum etc.) zur Diagnostik abgenommen werden.
Die Hospitalisationsindikation hängt vom Ausmass der Neutropenie/Agranulozytose sowie der Schwere der Infektion ab. In der Regel können Personen mit einer ANC >1000 Zellen/μl (>1,0 × 109/l) ambulant behandelt werden, während diejenigen mit einer ANC <500 Zellen/μl (<0,5 × 109/l) und ohne Neutrophilenreserve hospitalisiert werden müssen. Liegt die ANC zwischen 500 und 1000 Zellen/μl (0,5–1,0 × 109/l), muss die Situation individuell beurteilt werden.

Das Wichtigste für die Praxis

• Die häufigsten Ursachen für akquirierte Neutropenien sind Infektionen, Medikamente und ein Mangel an Substraten.
• Ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Infektion besteht bei einer ANC <500 Zellen/μl (0,5 × 109/l) und ungenügender Neutrophilenreserve oder zusätzlichen Immundefizienzen, während dieses bei einer ANC >1500 Zellen/μl (1,5 × 109/l) in der Regel nicht erhöht ist.
• Bei rezidivierenden Infekten sollte nach einer Neutropenie gesucht werden. Klassische Zeichen einer Infektion mit Schwellung, Rötung und Überwärmung können aufgrund einer schweren Neutropenie fehlen.
• Bei Fieber und schwerer Neutropenie muss immer von einer Infektion ausgegangen werden. Die Abnahme von Blut- und anderen Kulturen (aus Urin, Sputum etc.) zur Diagnostik sowie der rasche Beginn einer empirischen Breitbandantibiotikatherapie sind entscheidend.
Der Online-Appendix ist als separates Dokument verfügbar ­unter: https://doi.org/10.4414/smf.2022.08922.
Wir danken Herrn Dr. med. Raimondo Cacciatore, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin in Stettlen, für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und die wertvollen Ergänzungen.
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Prof. Dr. med.
Gabriela Maria Baerlocher
Labor für Hämatopoiese und molekulare Genetik
Departement BioMedi­zinische Forschung
Universität Bern,
Murtenstrasse 40
CH-3008 Bern
gabriela.baerlocher[at]hematology.ch
1 UpToDate® [Internet]. UpToDate, Inc. bzw. Angebundene Unternehmen; ©2020 [cited 2020 Sept 10]. Neutropenia: Approach to the adult with unexplained neutropenia; Approach to the adult with pancytopenia; Overview of neutropenia in children and adolescents; Management of the adult with non-chemotherapy-induced neutropenia; Drug-induced neutropenia and agranulocytosis.
2 Karrer U, Nadal D. Epstein-Barr Virus und infektiöse Mononukleose. Swiss Med Forum. 2014;14(11):226–32.
3 Fässler EMI, Galeazzi RL. «Low-dose»-Methotrexat: Nebenwirkungen und Toxizität. Swiss Med Forum. 2003;03(49):1211–15.
4 Njue L, Baerlocher GM. Medikamentös-induzierte Neutropenien/Agranulozytosen. der informierte arzt. 2018;2:23–6.
5 Lorenzo-Villalba N, Alonso-Ortiz MB, Maouche Y, Zulfiqar AA, Andrès E. Idiosyncratic drug-induced neutropenia and agranulocytosis in elderly patients. J Clin Med. 2020;9(6):1808.