2001–2021: Was hat sich für den Arztberuf verändert?
Jubiläumsschlaglicht: Arztberuf

2001–2021: Was hat sich für den Arztberuf verändert?

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08934
Swiss Med Forum. 2022;22(1314):222-223

Affiliations
Université de Genève

Publiziert am 29.03.2022

«Panta rhei», alles fliesst und die Welt ist immerwährend in Bewegung. Dem Beispiel des vorsokratischen Philosophen Heraklit von Ephesus folgend ist dieses philosophische Prinzip besonders auf die Medizin anwendbar.

Die Medizin, eine Wissenschaft, eine Kunst und ein ­Beruf, ist eine Domäne in beständigem Wandel. Dabei ist die medizinische Welt keine klar definierte Struktur, sondern setzt sich aus zahlreichen Agierenden zusammen, die sie prägen, herausfordern und umgestalten. Darüber hinaus stehen diese verschiedenen Agierenden in ständiger Wechselwirkung miteinander. Die drei wichtigsten unter ihnen: die medizinischen und sozialen Wissenschaften, welche die Medizin nähren, die Ärztinnen und Ärzte, die sie anwenden und die Erkrankten, die sie in Anspruch nehmen. Um die Entwicklung der Medizin in den letzten 20 Jahren zu ­beschreiben, müssen wir diese drei Gesichtspunkte ­berücksichtigen und sie getrennt analysieren, bevor wir Schlussfolgerungen wagen und die neue medizinische Welt skizzieren, die heute daraus hervorgegangen ist. Dies ist ein sehr ehrgeiziges Unterfangen, dessen unvermeidliche Auslassungen mir die Leserin und der Leser bitte verzeihen mögen.

Der Wandel der drei Hauptagierenden

Werfen wir zunächst einen Blick auf die wissenschaftlichen Fortschritte: Sie waren beachtlich! Aber machen wir uns keine Illusionen. Die Errungenschaften, von denen wir heute profitieren, sind die Früchte geduldiger und sorgfältiger Hintergrundarbeit, mit der bereits von Jahrzehnten im Labor begonnen wurde. Manchmal wurde sie mit Beharrlichkeit verfolgt, immer mit Überzeugung. Ihre Erfolge sehen wir letztendlich in der Verwendung monoklonaler Antikörper, Zelltherapien, Organtransplantationen, Implantation neuer Prothesen und intelligenter biochemischen Sensoren, von denen wir heute profitieren können. Während dieses langsamen Prozesses haben nur zwei Behandlungsmethoden unlängst eine «Abkürzung» genommen und dank einer aussergewöhnlichen weltweiten Mobilisation, medizinisch wie politisch, den Sprung vom Labor zur erkrankten Person geschafft: die Dreifachtherapien für AIDS-Betroffene und die mRNA-Impfstoffe, die zur Überwindung der COVID-19-Pandemie eingesetzt werden.
Unter all den grossen wissenschaftlichen Errungenschaften dieses 21. Jahrhunderts können meiner Meinung nach drei Sektoren Anspruch auf einen Platz auf dem Siegertreppchen erheben [1]. Zuallererst: die medizinische Bildgebungstechnologie, die unseren Beruf vollkommen verändert hat. Dank der vorangehenden Entdeckungen im Bereich der Quantenphysik hat sie uns mit einer bis dahin unbekannten diagnostischen Stärke und Operationsassistenz ausgestattet, die die sprichwörtliche Handfertigkeit des Chirurgen noch übertrifft. Eine Bildgebung gänzlich anderer Natur hat unsere tägliche medizinische Praxis der klinischen Untersuchung in spektakulärer Art und Weise bereichert: die Verwendung von Schallwellen. Die Sonographie hat als Vertiefung der althergebrachten Palpation und als moderne Schülerin des verehrten Stethoskops die Medizin erobert – dank ihrer hohen Performance, ihrer erwiesenen gesundheitlichen Unbedenklichkeit und universellen Einsatzfähigkeit. Kein Organ, welches sie nicht erfassen kann, und kein medizinisches Versorgungszentrum, welches kein Gerät besitzt.
Als zweiten Fachbereich mit grossem Erfolg möchte ich die molekularen Sequenzierungsverfahren anführen, die in der Onkologie, Hämatologie [2] und bei ­Infektionserkrankungen eingesetzt werden. Alle drei Bereiche konnten enorm von dieser neuen schnellen, präzisen und effizienten Technik profitieren – was will man mehr? Schlagende Beispiele sind die gezielten Therapien bei Bronchial- oder Mammakarzinomen und die hämatologischen Erkrankungen, die nun auch auf Basis ihrer Entstehungsmechanismen und nicht nur nach ihrem einfachen mikroskopischen Erscheinungsbild behandelt werden können. Dieselbe Methode, angepasst an bakterielle oder virale Sequenzierungen, konnte die Diagnostik zahlreicher schwerer Erkrankungen wie nosokomialer Infektionen, HIV und jetzt COVID-19 beschleunigen und ihre Behandlung verfeinern. Über die wissenschaftliche Performance hinaus haben diese neuen Sequenzierungsmethoden zu einer neuen und für die Medizin wichtigen ethischen ­Dimension geführt: Ob in der Onkologie oder im Falle einer HIV-Infektion, der therapeutische Effekt einer Behandlung wird nicht mehr an der betroffenen Person selbst gemessen, sondern kann bereits vor Beginn der Behandlung vorhergesagt werden. Durch diese Vorgabe kann die Durchführung zahlreicher schwerwiegender und unnötiger Behandlungen verhindert werden.
Die medizinische Bildgebung und die molekulare ­Sequenzierung, im Grunde weit voneinander entfernt, haben doch eine Gemeinsamkeit. Sie generieren unzählige numerische Daten, die sortiert werden müssen, anschliessend geordnet und letztlich interpretiert. An diesem Punkt kam uns die Informatik, unsere «grosse Schwester», zur Hilfe. Aus ihrer Zusammenarbeit mit der biologischen und medizinischen Welt wurde bald eine Fusion. Diese fruchtbare Kollaboration war erwünscht und wurde schnell unerlässlich. Wie wir nur zu gut wissen, ist die digitale Revolution rasant und allgegenwärtig. Sie hat mittlerweile auch alle Fachbereiche der Medizin erobert, mal zu unserem Besten, mal zum Schlechteren. So sehr sie in der Welt der Therapie und der Leidenden von Nutzen ist, so sehr ist sie doch auch zum Kontrollsystem unserer Handlungen, Buchhalterin unserer Leistungen, und zur indiskreten Besucherin persönlicher Daten geworden. Engels- und Teufelsfigur, Freundin und Feindin, Befreierin und Bewacherin – die Paarung von Informatik und Medizin, aufgeladen mit Ambivalenz und Widersprüchen, muss wieder in Perspektive gesetzt werden. Sie sollte den Bedürfnissen der Einzelnen angepasst werden und sich nicht nur nach institutionellen Ansprüchen richten, um ihre ursprüngliche Mission zu erfüllen: den Erkrankten zu dienen.
Und was ist aus eben diesen Erkrankten geworden in den vergangenen 20 Jahren? Langsam und unaufhaltbar sind sie bei uns von Hilfesuchenden, bei denen ­gelegentlich und zufällig eine schnelle und punktuelle medizinische oder chirurgische Intervention nötig war, zu einem grossen und immerwährend wachsenden Kollektiv geworden: sie werden älter und sind ­Betroffene oft sogar mehrerer chronischer Erkrankungen, die sich zu einem komplexen klinischen Bild verflechten [3]. Zu den somatischen Problemen, die Verständnis und Geduld erfordern, gesellen sich kognitive Schwächen, Schwierigkeiten sich zu forzubewegen, ein schlechtes Verständnis der fragmentierten Pflege – kurzum ein schlechter globaler Umgang mit einer fragilen Gesundheit hinzu. Oft führt diese Kette von ­Beeinträchtigungen in ein soziales Abseits. Die ­Betreuung dieser komplexen Kranken erfordert eine schrittweise Neuorganisation der ambulanten Pflege, die unbedingt interprofessionell werden muss. Es braucht Orte ausserhalb des Klinikbetriebes, an denen die Behandlung adaptiert und zusammenhängender gestaltet werden kann.
Zahlreich sind die Ärztinnen und Ärzte einer neuen ­Generation – und wir kommen jetzt zu der dritten Gruppe von Agierenden –, die diese Entwicklungen inklusive der nötigen Neuorganisation der Behandlungen als positiv wahrnehmen. Der Beruf hat sich in 20 Jahren sehr weiterentwickelt: zunächst sind individuelle Praxen Gruppenpraxen gewichen, besser angepasst an die Komplexität der Erkrankten. Hierdurch werden auch Lockerungen der Arbeitspläne möglich, vor allem die Entwicklung der Teilzeitarbeit, was besonders unseren weiblichen Kolleginnen entgegenkommt, die oft gleichzeitig Mütter sind. Im Übrigen ist die Feminisierung unseres Berufes eine wunderbare Errungenschaft. Die Erfahrung zeigt, dass Frauen mit den aktuellen Herausforderungen besser umgehen können als ihre männlichen Kollegen: durch Empathie, soziale Reflexion, ganzheitliche Vision und Respekt vor dem Verhältnis von Familie zu Arbeit können sie die Aufteilung der ­Medizin in verschiedene Bereiche besser ausgleichen.

Eine neue medizinische Praxis

Was für eine Art Medizin kommt also unter all den ­Veränderungen hervor? Sie ist dank frühzeitiger Diagnostik proaktiver geworden; sie entwickelt sich in Richtung eines Systems mit mehr Mitbestimmung, in dem auch die betroffene Person ein Mitspracherecht hat; sich stellt sich auf eine grössere «Interprofessionalität» und eine bessere Integration der übrigen Gesundheitsberufe ein [4]. Diese Entwicklung wird sich noch verschärfen, da sich mit der COVID-19-Pandemie eine neue Ära angekündigt hat, der wahrscheinlich weitere Pandemien folgen werden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Krankenhausabteilungen, den für die öffentliche Gesundheit zuständigen Beamten ­sowie den politischen Entscheidungstragenden wird nötig werden. Die Welt der Medizin wird sich noch ­tiefgreifend verändern; Heraklit hatte also recht…
Der Autor hat deklariert, keine finanziellen oder persönlichen ­Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Hon.-Prof. Dr. med.
Francis A. ­Waldvogel
33, chemin Fossard
CH-1231 Conches
Francis.Waldvogel[at]bvb-cie.ch
1 Waldvogel FA. La médecine d’aujourd’hui: entre émergences et errances. In: Waldvogel FA. Tableau de la vie – échanges, émergence, complexité. Odile Jacob Paris; 2020.
2 Malone ER, Oliva M, Sabatini PJB, Stockley TL, Siu LL. Molecular profiling for precision cancer therapies. Genome Med. 2020;12:8.
3 Plsek PE, Greenhalg T. The challenge of complexity in health care. BMJ. 2001;323:625–8.
4 American College of Physicians, Complete Home Medical Guide. Goldmann DR Ed. Philadelphia; 2003.