HIV – Die letzten 20 Jahre
Jubiläumsschlaglicht: HIV/Virologie

HIV – Die letzten 20 Jahre

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08936
Swiss Med Forum. 2022;22(0102):14-15

Affiliations
Unité VIH/Sida, Hôpitaux universitaires de Genève

Publiziert am 04.01.2022

Niemand muss mehr an AIDS sterben. Die Lebenserwartung unter Behandlung gleicht derjenigen der Allgemeinbevölkerung. Die Patienten sind auch nicht mehr ansteckend. Eine medizinische Kontrolle zweimal pro Jahr genügt.

Eine Erfolgsgeschichte

Wer hätte dies vor 30 Jahren gedacht, angesichts der Todesrate von 50 Prozent zwei Jahre nach der AIDS-­Diagnose und der ständig zunehmenden Fallzahlen? Die anti-retrovirale Therapie (ART) ist ein beispielloser Triumph der modernen Medizin; ihre Wirkung auf die AIDS-Mortalität übertrifft die des Penicillins auf die Pneumokokken-Sepsis und die des Insulins auf den Diabetes.
Sie werden einwenden, die Behandlung sei aufwändig und mit Nebenwirkungen behaftet. Das war einmal – heute nimmt die grosse Mehrheit der Patienten eine Kombi-Pille mit zwei oder drei aktiven Substanzen pro Tag. Die früher häufige unästhetische Neuverteilung des Fettgewebes (Lipodystrophie), die Muskelatrophie, die Nierenschäden, die Übelkeit und das Erbrechen sind alle verschwunden. Eine Resistenzentwicklung ist auch kein Problem mehr, einerseits tritt sie bei korrekter Behandlung nicht mehr auf, andererseits stehen im Resistenzfall genügend alternative Medikamente zur Verfügung.

Afrika im Fokus

Und trotzdem: Nach Angaben von UNAIDS gab es 2020 680 000 (480 000–1 000 000) AIDS-Tote. Nur ganz wenige sind es bei uns – Patientinnen und Patienten, die eine Behandlung verweigern, oder ihre Diagnose zu spät erhalten. Die meisten AIDS-Toten sterben in Afrika. Verglichen mit anderen Seuchen ist AIDS immer noch an vorderster Stelle und verursacht beispielsweise mehr als das Hundertfache der Todesfälle durch Ebola, etwa gleich viel wie Malaria und etwa halb so viel wie Tuberkulose.
Aber auch in Afrika setzt sich ART mehr und mehr durch. Kostet diese in der Schweiz jährlich etwa 20 000 Schweizer Franken, so liegen die reinen Medikamentenkosten in Südafrika jetzt unter 100 US-Dollar pro Patientin oder Patient und Jahr. Für die spektakulären Kostensenkung gibt es viele Ursachen: Der Verzicht auf den Patentschutz für Medikamente, die vor allem in Indien hergestellt werden (bei fortbestehender Qualitätssicherung durch die WHO), die Konkurrenz unter den Herstellerfirmen und die Absatzgarantien für grosse Mengen. Die Standardisierung und Vereinfachung der Behandlungen und die Medikamentenabgabe durch Hilfspersonal («task shifting») vervielfachte die Anzahl der Behandelten. Finanziert wird das durch nationale und internationale Organisationen, allen voran PEPFAR («President’s Emergency Program for AIDS Relief», 2003). Fast 20 Millionen Menschen sind heute unter ART. 680 000 Tote sind 680 000 zu viel, aber 2004 waren es noch 1.9 Millionen, und 2010 1,3 Millionen.

Swiss Statement

2008 publizierte die Schweizer Ärztezeitung das sogenannte «Swiss Statement» [1], das besagte, dass mit ART wirksam Behandelte nicht mehr infektiös sind. Dieser Artikel wurde seither mehr als 300-mal zitiert, oft negativ – es sei verantwortungslos, so etwas zu behaupten, die Daten seien unvollständig, Kondome würden aufgegeben und die Infektionsrate explodierten. Die Aufregung hat sich inzwischen gelegt. Das «Swiss Statement» gilt seit langem als erwiesen, nach dem Slogan U = U («undetectable equals untransmittable»). Die Erfassung und Behandlung möglichst vieler Infizierter vermindert die Ansteckungsgefahr. ART wirkt nicht nur therapeutisch, sondern auch präventiv.
Dies gilt auch für HIV-Negative. ART, entweder kontinuierlich genommen oder kurz vor und nach einem Risikokontakt, schützt recht zuverlässig vor Ansteckung. Diese sogenannte PREP («Pre-exposure prophylaxis») mag im Vergleich zu Kondomen teuer und kompliziert erscheinen; sie ist aber besonders unter homosexuellen Männern recht populär.
So füllt ART zum Teil die klaffende Lücke im Kampf gegen HIV: es gibt keine Impfung. Nicht nur das – es gibt auch keine Hoffnung auf eine Impfung in absehbarer Zeit. Ende August wurde wieder ein gross angelegter Versuch in Südafrika wegen Unwirksamkeit aufgegeben. Ist es angebracht, hier weitere Mittel reinzustecken? Die Immunantwort gegen HIV ist vorhanden (sie dient ja zur Diagnose einer HIV-Infektion), aber sie ist unwirksam und verhindert AIDS nicht. Ist es logisch, mit einer Impfung zu versuchen, eine ähnliche, das heisst unwirksame, Immunantwort zu provozieren?

Ausblick

Unterdessen geht die Entwicklung von ART weiter. Im Januar 2021 hat die FDA die Kombination von Cabotegravir und Rilpivirin zugelassen, zur Injektion alle vier bis acht Wochen. Die therapeutische Wirkung ist ähnlich wie die der besten Vergleichstherapien, aber die präventive Wirkung («PREP») ist besser. Die Markteinführung einer Substanz mit halbjährlicher parenteraler Verabreichung (Lenacapavir) wird gegenwärtig von der FDA geprüft. Islatavir, kombiniert mit MK 8507, eignet sich vielleicht für einen Implant mit monatelanger, womöglich jahrelanger Wirksamkeit.
Und so könnte ART auch die zweite Lücke im Kampf gegen AIDS schliessen: Trotz allen Bemühungen gibt es bisher kein von Frauen kontrollierbares Vorbeugungsmittel. Das weibliche Kondom, vaginal angewendete Mikrobizide, mit ART imprägnierte Cervix-Ringe: Nichts hat bisher eingeschlagen. Ein Implant aber, analog dem Kontrazeptivum Depot-Provera, könnte in einigen Jahren Abhilfe schaffen.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med.
Bernhard Hirschel
Unité VIH/Sida
Hôpitaux universitaires
de Genève
4, rue Gabrielle-Perret-Gentil
CH-1211 Genève 14
Bernard[at]hirschel.ch
1 Vernazza P, Hirschel B, Bernasconi E, Flepp M. HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös. Schweiz Ärzteztg. 2008;89(5):165–9.