Neue Errungenschaften in der Hämatologie
Jubiläumsschlaglicht: Hämatologie

Neue Errungenschaften in der Hämatologie

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08943
Swiss Med Forum. 2022;22(0102):9-10

Affiliations
a SYNLAB Suisse SA, Luzern; b Universität Basel, Basel; c Hämatologie, Universitätsspital Basel, Basel

Publiziert am 04.01.2022

Die Omnipräsenz von Blutzellen und Gerinnungskaskade in allen Organsystemen sowie die gute Zugänglichkeit von Blut und Knochenmark haben weg­weisende Entwicklungen in Diagnose und Therapie ermöglicht.

Hintergrund

Das zunehmende Verständnis von Schlüsselfunktionen der normalen und der kranken humanen Zelle in den letzten 20 Jahren hat unausweichlich dazu geführt, diese Erkenntnisse in diagnostische und therapeutische Interventionen umsetzen zu wollen. Eine translationale Medizin wurde Realität.

Errungenschaften der Hämato-Onkologie und der Hämostase

Es ist schwierig zu behaupten, die eine oder die andere Entwicklung sei die wichtigste in der Hämatologie; nach welchem Kriterion sollte dies definiert werden? Wir haben im Folgenden auf repräsentative Errungenschaften der Hämato-Onkologie und der Hämostase fokussiert.

Genmutationen und zielgerichtete Inhibitoren bei myeloproliferativen Neoplasien

Das Philadelphia-Chromosom als zu Grunde liegende genetische Veränderung der chronisch myeloischen Leukämie (CML) wurde bereits 1959 entdeckt und führte in den 1990er-Jahren zur Zulassung von Imatinib als erstem Bcr-Abl-Inhibitor, was die Behandlung der CML revolutioniert hat. Die molekulare Grundlage der Philadelphia-negativen myeloproliferativen Neoplasien blieb länger ungeklärt. Die rasche Entwicklung moderner Sequenzierungstechnologien hat schliesslich die Entdeckung der Driver-Mutationen der myeloproliferativen Neoplasien ermöglicht – in der Tyrosinkinase JAK2 sowie im Thrombopoietin-Rezeptor MPL und dem Calreticulin-Gen. Dazu konnten zahlreiche zusätzliche Genmutationen identifiziert werden, die für Betroffene mit myeloproliferativen Neoplasien prognostische Relevanz haben und auch bei anderen myeloischen Neoplasien wie AML und MDS eine wichtige Rolle spielen. Diese Aufklärung der «genetischen Landschaft» hat es ermöglicht, neue Therapie-Optionen mit zielgerichteten Inhibitoren, sogenannte «small molecules», zu entwickeln. Der erste JAK2-Inhibitor für die Behandlung von myeloproliferativen Neoplasien wurde 2012 zugelassen, während 2021 ein zweiter JAK2-Inhibitor dieser Klasse klinisch verfügbar wurde. Für Betroffene mit AML wurden zielgerichtete Inhibitoren der FLT3 Tyrosinkinase oder der Isocitrat-Dehydrogenase (IDH) 1 und 2 entwickelt, denen eine wichtige Rolle in der Leukämogenese zukommt. Die molekulargenetische Aufklärung der myeloproliferativen Neoplasien und anderer myeloischer Leukämien hat der Hämatologie Möglichkeiten für eine zielgerichtetere Behandlung in die Hand gegeben. Diese Entwicklung ist in vollem Gang und hat uns einer personalisierten Medizin einen Schritt näher gebracht.

Genetisch modifizierte Immunzellen für den therapeutischen Einsatz – CAR-T-Zelltherapie

Die Verabreichung von Zellen zur Therapie hämato­logischer Neoplasien ist in der Hämatologie fest verankert. Die Entwicklung der CAR-T-Zelltherapie verfolgt das Ziel, dass Lymphozyten maligne Zellen spezifischer angreifen. Sie ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie immunologische Grundlagen translationell ent­wickelt und zur klinischen Anwendung gebracht ­werden können. Die CAR-T-Zelltherapie verwendet T-Lymphozyten, die genetisch modifiziert sind und dadurch chimäre Antigen-Rezeptoren (CAR) tragen. Von der Patientin respektive dem Pa­tienten gewonnene Lymphozyten werden ex vivo mit CARs modifiziert, expandiert und rücktransfundiert. Heute zugelassen sind CAR-T-Zelltherapien gegen B-Zelllymphome, die B-lymphoblastische Leukämie (B-ALL) und transformierte follikuläre Lymphome. CAR-T-Zellen zur Behandlung des fortgeschrittenen Plasmazellmyeloms sind in klinischer Entwicklung. Die Technologie der CAR-T-Zellen ist ein Erfolg von «bench to bedside», dem grosses klinisches Potential zukommt.

Neue direkte orale Antikoagulanzien

Die systemische Antikoagulation ist seit langer Zeit der Hauptbestandteil der Vorbeugung oder Therapie einer Thrombose. Die einzige perorale Form seit den 1940er- Jahren waren die Vitamin K-Antagonisten (VKA). Die Ende der 1970er-Jahre entwickelten niedermolekularen Heparine (NMH) waren eine direkte Konkurrenz mit verbesserter Pharmakokinetik und Pharmakodynamik, jedoch mit ungünstiger Applikationsart. Aus der Erfahrung mit den NMH wurde festgestellt, dass die Blockierung eines einzigen Gerinnungsfaktors, des Faktors X eine effiziente und sichere Antikoagulation erreichen könnte. Es war also eine Frage der Zeit, bis man Moleküle entwickeln konnte, welche direkt den aktivierten Faktor X (FXa) oder das Thrombin (FIIa) blockieren würden und peroral eingenommen werden könnten. Dies geschah mit dem FIIa-Inhibitor dabigatran etexilate und mit den FXa-Inhibitoren Rivaroxaban, Apixaban und Edoxaban. Alle sind kleine Moleküle, werden peroral eingenommen, haben eine konstante Bioverfügbarkeit und bedürfen keines Labor-Monitoring. Die ­direkten oralen Antikoagulanzien (DOAC) waren in den Zulassungsstudien gleich oder besser und sicherer verglichen mit NMH oder VKA, sie verdrängen allmählich die NMH und VKA aus fast allen Indikationen der Prophylaxe oder Therapie einer Thrombose.

Neuere Faktor- und Non-Faktor-Therapeutika für die Hämophilie

Hauptbestandteil der Therapie der Hämophilie seit den 1980er-Jahren ist die regelmässige intravenöse Substitution mit Gerinnungsfaktorenkonzentraten, eine effiziente, aber kaum praktikable beziehungsweise angenehme Behandlung. Erst vor 10 Jahren ist es der Technologie gelungen, modifizierte rekombinante Faktorenmoleküle mit verlängerter Halbwertszeit zu synthetisieren, anderthalbmal für Faktor VIII und viereinhalbmal länger für Faktor IX. Diese Produkte erlauben es, die Substitution bis auf einmal pro Woche zu reduzieren. Weiter wurden «non-factor»-Moleküle entwickelt, welche die fehlende Faktor VIII-Aktivierung umgehen und einen effizienten hämostatischen Effekt generieren. Diese werden subkutan einmal alle zwei oder alle vier Wochen gegeben. Die «non-factor»-Produkte als innovative Technologie haben die Belastung der Personen mit Hämophilie, insbesondere auch der Kinder, bei gleich erhaltener Effizienz spürbar eliminiert.

Klonale Hämatopoiese von ­unbestimmtem Potential

Moderne, genomweite molekulargenetische Analysen erlauben laufend neue Einblicke in die genetischen Veränderungen der hämatologischen Neoplasien. So werden Genmutationen mit Relevanz für die Hämatopoiese auch bei gesunden Individuen in einem nied­rigen Prozentsatz hämatopoietischer Zellen nachgewiesen. Dieses Phänomen, bekannt als «CHIP» – klonale Hämatopoiese von unbestimmtem Potential – nimmt mit fortschreitendem Alter an Häufigkeit zu. Heute wissen wir, dass gewisse CHIP-Mutationen mit einem erhöhten Risiko für hämatologische Neoplasien einhergehen. JAK2-mutierte CHIP erhöhen insbesondere das Thrombose- respektive kardiovaskuläre Risiko. Die nächsten Jahre lassen hier einen grossen Erkenntnisgewinn ­erwarten.

Gentherapie zur Eradikation der Hämophilie

Die Hämophilie A oder B als monogenetische Krankheit eignet sich als Ziel eines Gentherapie-Konzeptes. Dies war in den 1990er-Jahren bereits aktuell, jedoch ­waren die Versuche damals am Menschen kaum effizient. In den letzten 15 Jahren wurden durch die Entwicklung intelligenter viraler Vektoren für den Transfer des genetischen Materials massive Erfolge in diesem ­Bereich verbucht, das Resultat ist effizient, hält sich lange und ist tragbar sicher. Etwa sechs kommerzielle Anbieterfirmen arbeiten aktuell intensiv daran, ein Therapieprodukt zu finalisieren. Die Gentherapie wird nicht jede Hämophilie heilen können, sie wird jedoch die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten in allen Dimensionen radikal verbessern.
Die Autorin und der Autor haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med.
Dimitrios A. Tsakiris
SYNLAB Suisse SA
Alpenquai 14
CH-6002 Luzern
dimitrios.tsakiris[at]unibas.ch

Prof. Dr. med.
Sara Christina Meyer, PhD
Abteilung für Hämatologie
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
CH-4031 Basel
sarachristina.meyer[at]usb.ch
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