Lippenschwellung, Gingivahyperplasie und Induration der Wangenmukosa
Unerwünschte Arzneimittelreaktion

Lippenschwellung, Gingivahyperplasie und Induration der Wangenmukosa

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08956
Swiss Med Forum. 2022;22(3334):552-554

Publiziert am 16.08.2022

Ein 56-jähriger langjähriger Raucher wurde vom Hausarzt aufgrund einer rechtsbetonten indolenten Schwellung der Unterlippe mit knotiger Veränderung der Mukosa, die seit zwei Monaten bestand, zugewiesen.

Hintergrund

Für eine Schwellung der Unterlippe wie auch für eine Gingivahyperplasie gibt es eine grosse Anzahl an Differentialdiagnosen. Bei der Kombination der beiden mit einer Induration der bukkalen Mukosa stellt sich die Frage nach einer Systemkrankheit oder einer unerwünschten Arzneimittelwirkung (UAW). Eine Lippenbiopsie ermöglicht, zwischen einer granulomatösen oder plasmazellulären Entzündung und einer Neoplasie zu unterscheiden. Bei fehlenden zusätzlichen Symptomen und medikamentöser Behandlung mit einem Kalziumkanalblocker (CCB), Phenytoin, Valproinsäure oder Ciclosporin liefert allenfalls der Auslassversuch weitere Hinweise auf die Ursache der Symptomatik.

Fallbeschreibung

Anamnese

Ein 56-jähriger langjähriger Raucher (88 «pack years») wurde vom Hausarzt aufgrund einer rechtsbetonten indolenten Schwellung der Unterlippe mit knotiger Veränderung der Mukosa, die seit zwei Monaten bestand, zugewiesen. Herpesbläschen, Rötungen oder eine Lymphknotenschwellung wurden nicht beobachtet. Neben Aspirin® Cardio (100 mg Acetylsalicylsäure täglich, seit 2014) hat der Hochbaupolier seit 2013 CoAprovel® (300 mg Irbesartan und 12,5 mg Hydrochlorothiazid täglich) und Logimax® (10 mg Felodipin und 100 mg Metoprolol täglich) sowie ab 2017 Atorvastax® (20 mg Atorvastatin täglich) und Sildenax® (50 mg ­Sildenafil bei Bedarf) eingenommen. Es waren keine gastrointestinalen Probleme, keine Schleimhautveränderungen anogenital und keine Allergien bekannt. Bisher waren weder erhöhte Blutzuckerwerte, Angioödeme, kutane Veränderungen noch eine Fazialisparese aufgetreten. Der Mann gab an, in den letzten Jahren nie ins aussereuropäische Ausland gereist zu sein. Abgesehen von der tendentiell eher progredienten ­Lippenschwellung war der Mann beschwerdefrei.

Status und Befunde

Bei der Inspektion imponierten neben der voluminösen Unterlippe (Abb. 1) eine Gingivahyperplasie mit Parodontitis (Abb. 2) und eine knötchenartige Veränderung der Wangenschleimhaut, vor allem rechts vestibulär (Abb. 3).
Abbildung 1: Diffuse, derbe Schwellung der ganzen ­Unterlippe.
Abbildung 2: Gingivahyperplasie als «drug-induced gingival overgrowth» (DIGO).
Abbildung 3: Knotige Induration der Wangenschleimhaut.
Die Gesichtshaut und die mimische Funktion waren normal. Nach Entfernung der Zahnvollprothese oben präsentierte sich eine unauffällige Schleimhaut der Mundhöhle mit unspezifischer Rötung der Rachenhinterwand, aber ohne Bläschen oder Ulzerationen. Mit der fiberendoskopischen Untersuchung der oberen Luft- und Speisewege konnte auch in der Nase, im Rachen und im Larynx kein weiterer pathologischer Befund erhoben werden. Die bidigitale Palpation ergab, dass die Unterlippe diffus voluminös war und dass es zu einer knotigen, indolenten Veränderung der Mukosa der perioralen Weichteile gekommen war. Die regionalen Lymphknoten waren nicht vergrössert.
Mittels serologischer Untersuchung wurde eine Seronarbe nach Epstein-Barr-Virus-(EBV-)Infektion gesehen, eine HIV-Infektion sowie Toxoplasmose und Lues konnten ausgeschlossen werden. Die Parameter ANA (antinukleäre Antikörper), ANCA (antineutrophile zytoplasmatische Antikörper), Anti-SSA-/Anti-SSB-Antikörper, CRP (C-reaktives Protein) sowie die Blutsenkungsreaktion (BSR), der Eiweisswert (inklusive Elektrophorese) und die IgG-Subklassen zeigten keine Abweichungen von der Norm. Auch das Blutbild, der Blutzuckerspiegel sowie die Leber- und Schilddrüsenwerte waren normal. Bei der Lippenbiopsie wurde eine plasmazellreiche Entzündung mit «nur» 5% IgG4-positiven Plasmazellen gesehen, was mit einer IgG4-assoziierten Erkrankung nicht vereinbar war. Hinweise auf ein Lymphom, eine epitheliale Neoplasie, eine Pilzinfektion oder ein granulomatöses Leiden waren nicht vorhanden. Die Herpes-simplex-Virus-1/-2-(HSV-1/-2-)Immunhistochemie blieb negativ. Aufgrund einer fehlenden gastrointestinalen Symptomatik und fehlenden Hinweisen auf eine granulomatöse Erkrankung wurde auf weiterführende gastroenterologische Untersuchungen und die Bestimmung des fäkalen Calprotectins zum Ausschluss eines Morbus Crohn verzichtet. Da bei einer persistierenden, palpatorisch eher derb verdickten Unterlippe über Monate hinweg ein Angioödem sehr unwahrscheinlich war, wurde auch auf die Bestimmung der Werte der Tryptase, C1-Inhibitor-Konzentration/-Funktion, C1q- und C4-Konzentration verzichtet.

Diagnose und Verlauf

Ohne Hinweise auf eine Neoplasie, ein Angioödem, eine systemische oder eine orofaziale Granulomatose musste differentialdiagnostisch eine UAW in Erwägung gezogen werden. Bei Aspirin® Cardio, CoAprovel®, Sildenax® und Atorvastax® sind gemäss Schweizer Arzneimittelinformation weder persistierende Weichteilschwellungen noch eine Gingivahyperplasie bekannt [1]. Logimax® enthält einen Betablocker (Metoprolol) und einen CCB (Felodipin). Obwohl die Kombination von Lippenschwellung und Gingivahyperplasie bei Felodipin bisher als UAW nicht beschrieben wurde, war die Wahrscheinlichkeit gross, dass ein Zusammenhang der Symptomatik mit Felodipin bestand, da zumindest die Gingivahyperplasie bei CCB als Klasseneffekt beschrieben ist [1–4] und Einzelfälle von Lippenschwellungen in der UAW-Datenbank der «World Health Organization» (WHO) dokumentiert sind [3]. Die Befunde der histologischen Untersuchung waren gut vereinbar mit einer CCB-induzierten Weichteilveränderung [4]. Das Verschwinden der Symptomatik zwei Monate nach dem Auslassversuch von Logimax® untermauerte die Verdachtsdiagnose einer Felodipin-assoziierten Lippenschwellung, Induration der bukkalen Mukosa und Gingivahyperplasie. Auch noch ein Jahr nach Absetzen des CCB war die Unterlippe normal, die Gingivahyperplasie war deutlich geringer geworden und die Induration der Mukosa verschwunden.

Diskussion

Bei der Differentialdiagnose des primär störenden Befundes der Lippenschwellung ist zu berücksichtigen, dass eine persistierende respektive sogar progrediente Veränderung über Monate eine allergische oder infektiöse Ursache unwahrscheinlich macht. Bei einem Angioödem wäre auch nicht zu erwarten, dass gleichzeitig eine Gingivahyperplasie und eine knotige Induration der Mukosa auftreten würden. Die schlechte Mundhygiene mit Parodontitis bei einem Raucher könnte ein Stimulans für die Veränderung der Gingiva sein, was eventuell eine Erklärung der Persistenz der Gingivareaktion nach Absetzen des Felodipins ist; sie erklärt aber nicht die Lippenveränderung. Bei einem Melkersson-Rosenthal-Syndrom wären intermittierende Weichteilschwellungen mit Fazialisparese und Faltenzunge zu erwarten. Im Gegensatz zur Cheilitis granulomatosa, die ebenfalls zum Formenkreis der orofazialen Granulomatosen gehört, wäre aber, wie beim Angioödem, eher nicht mit einer mehrmonatigen Schwellung der Lippe ohne weitere Symptome zu rechnen. Andere granulomatöse Systemerkrankungen (Sarkoidose, Granulomatose mit Polyangiitis, Tuberkulose, systemische Pilzinfektionen oder eine Fremdkörperreaktion) wären weitere mögliche Differentialdiagnosen, falls zusätzliche Symptome oder entsprechende Hinweise bei der histologischen Untersuchung einer Lippenbiopsie vorhanden wären. Ein Morbus Crohn kann mit einer oralen Manifestation starten; die Kombination einer Lippenschwellung mit einer Gingivahyperplasie ohne die geringsten gastroenterologischen Symptome wäre bei dieser Erkrankung aber doch überraschend.
Im vorliegenden Fall zeigte die histologische und immunologische Untersuchung der Lippenbiopsie eine plasmazelluläre Entzündung ohne Granulome. Damit stand neben einer medikamenteninduzierten Veränderung differentialdiagnostisch auch eine IgG4-assoziierte Erkrankung im Raum, für die per definitionem aber nicht nur der Serum-IgG4-Spiegel erhöht sein müsste, sondern auch >40% der Plasmazellen positiv für IgG4 sein müssten. Mit der histologischen Untersuchung konnte auch eine maligne Neoplasie ausgeschlossen werden. Aus der Analyse der Medikamente mithilfe der Schweizerischen Arzneimittelinformation [1] zeigte sich Felodipin im Kombinationspräparat Logimax® als verdächtig. Für CCB auch der zweiten Generation, wie Felodipin, ist eine Gingivahyperplasie als gelegentlich auftretende UAW bekannt, nämlich bei 0,1% bis 1,0% der Behandelten [1, 4]. Eine Lippenschwellung unter Felodipin wird in der Fachinformation nicht erwähnt, ist aber in Einzelfällen in der UAW-Datenbank der WHO dokumentiert [3]. Neben CCB sind Gingivahyperplasien auch als unerwünschte Wirkungen unter Phenytoin, Valproinsäure und Ciclosporin beschrieben [2]. Da es keine spezifischen Marker zum Ausschluss einer medikamentös bedingten Pathologie gibt, ist auch bei einer Einnahme eines der erwähnten Medikamente seit Monaten oder Jahren ein Auslassversuch diagnostisch wichtig. Dieser konnte hier einen Zusammenhang dieses Medikaments mit der gleichzeitigen Lippenschwellung und der Induration der Wangenmukosa zeigen. Der Verlauf mit Besserung der Symptomatik innerhalb von zwei Monaten und das fehlende Wiederauftreten der Unterlippenschwellung anlässlich der Kontrolle ein Jahr nach Absetzen von Logimax® untermauerten die Assoziation der Beschwerden mit der medikamentösen Therapie. Warum die Symptomatik erst nach sieben Jahren aufgetreten ist, bleibt unklar. In der Literatur werden für die arzneimittelinduzierte Gingivahyperplasie («drug-induced gingival overgroth» [DIGO]) Zeitspannen von einigen Monaten genannt [2, 4], es gibt jedoch keine Studien, die die Zeit- und Dosisabhängigkeit adäquat untersucht haben.
Im Rahmen der Meldung über das Elektronische Vigilance-Meldeportal (ElViS) an das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic (https://www.swissmedic.ch) wurde die Kausalität dieser UAW gemäss WHO-UMC-(«Uppsala Monitoring-Centre-»)Kriterien als «wahrscheinlich» beurteilt. Im Rahmen der Abklärung einer unklaren Lippenschwellung, allenfalls in Kombination mit einer Gingivahyperplasie und/oder Induration der Wangenmukosa, kann eine Lippenbiopsie hilfreich sein. Die medikamentöse Behandlung mit einem CCB muss bei der Differentialdiagnose berücksichtigt und bei fehlenden Hinweisen auf eine Systemerkrankung soll ein Auslassversuch in Erwägung gezogen werden.

Das Wichtigste für die Praxis

• Mögliche unerwünschte Wirkungen eines Kalziumkanalblockers können neben einer Gingivahyperplasie auch eine Lippenschwellung und/oder eine Induration der Wangenmukosa sein.
• Nach Ausschluss anderer Ursachen soll ein Auslassversuch veranlasst werden.
• Eine Lippenbiopsie kann in der Differentialdiagnostik der Unterlippenschwellung hilfreich sein, zum Beispiel zum Abklären des Vorliegens einer granulomatösen versus einer plasmazellulären Entzündung oder neoplastischen Erkrankungen.
Die Autoren bedanken sich bei Prof. Dr. med. Werner Kempf, Kempf und Pfaltz Histologische Diagnostik, Zürich, für die Befundung des histologischen Präparats und die Diskussion des Befundes.
Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Martin Scherler
HNO-Praxis Meilen
Dorfstrasse 116
CH-8706 Meilen
m.scherler[at]hno-scherler.ch
1 Stiftung Refdata [Internet]. Zug: Arzneimittelinformation. c2019 [cited 2021 Jan 22]. Available from: https://www.swissmedicinfo.ch.
2 Samudrala P, Chava VK, Chandana TS, Suresh R. Drug-induced gingival overgrowth: a critical insight into case reports from over two decades. J Indian Soc Periodontol. 2016;20(5):496–502.
3 WHO Datenbank der Pharmakovigilanz [Internet]. Uppsala: Uppsala Monitoring Center [cited 2021 Jan 22]. Available from: https://who-umc.org/pv-products/vigilyze.
4 Livada R, Shiloah J. Calcium channel blocker-induced gingival enlargement. J Hum Hypertens. 2014;28(1):10–4.