Medizinische Genetik – Vom Orchideenfach zur Schlüsseldisziplin
Jubiläumsschlaglicht: Medizinische Genetik

Medizinische Genetik – Vom Orchideenfach zur Schlüsseldisziplin

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08958
Swiss Med Forum. 2022;22(0102):11-13

Affiliations
a Universitätsspital Basel, Institut für Medizinische Genetik und Pathologie, Basel; b Universität Basel, Department Biomedizin, Basel; c Forschungszentrum Jülich, Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-1), Jülich, Deutschland; d Universität Zürich, Institut für Medizinische Genetik, Schlieren, Zürich; e Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich

Publiziert am 04.01.2022

Mit dem Abschluss des Humangenomprojektes im Jahr 2003 wurden grosse Erwartungen an die Rolle der Genetik im medizinischen Alltag geweckt. Haben sich diese heute bereits erfüllt?

Hintergrund

Als 2003 das internationale Humangenomprojekt mit der erstmaligen Erstellung einer weitgehend kompletten Sequenz- und Genkarte des Menschen abgeschlossen wurde, war die Medizinische Genetik noch ein Randfach der Medizin [1]. Aus der Entschlüsselung der Genomsequenz und aller Gene, zweifellos ein monumentaler Meilenstein der Wissenschaft, erwuchsen rasch hohe Erwartungen, diese Erkenntnisse in der gesamten Medizin für die Diagnostik, Behandlung und Prävention von Krankheiten anwenden zu können. Die Kenntnis einer Referenzsequenz reichte allerdings hierfür nicht aus, es mussten zunächst Sequenzinformation von vielen gesunden und kranken Menschen erhoben werden. Dies wurde erst durch bahnbrechende methodische Weiterentwicklungen ermöglicht, die es erlaubten, diese Daten unter vertretbaren Kosten zu generieren. Dabei spielten insbesondere Mikroarray- und Hochdurchsatzsequenzierungsverfahren eine Schlüsselrolle [2]. Erst die breite Anwendung dieser Analyseverfahren liess das tatsächliche Ausmass der interindividuellen genetischen Variabilität und deren medizinische Bedeutung erahnen und bahnte den Weg für eine genombasierte personalisierte Medizin mit einer insbesondere in den letzten fünf Jahren stetig wachsenden Bedeutung für alle klinischen Fächer.

Genetik als Basis für gezielte Therapien

Im Anschluss an das Humangenomprojekt wurde rasch deutlich, dass Menschen genetisch sehr viel variabler sind als bis dahin angenommen. So gibt es Millionen von Varianten im Genom, die mit einer Frequenz von mehr als 1% in der Population auftreten, unter anderen die sogenannten «Single Nucleotide Polymorphisms» (SNPs) als häufigste Form der Variabilität. Man vermutete, dass viele dieser SNPs eine wesentliche Rolle bei der Entstehung häufiger Krankheiten spielen. Mithilfe genomweiter Assoziationsstudien («genome-wide association studies», [GWAS]) wurde in den letzten 15 Jahren der Beitrag von SNPs zu einer Vielzahl häufiger Merkmale und Krankheiten untersucht [3]. Das Ziel der Kenntnis krankheitsassoziierter SNPs ist einerseits, in Zukunft bei der Diagnosestellung unterstützen und verlässliche Risikovorhersagen treffen zu können; ihren wichtigsten Beitrag haben GWAS derzeit aber bei der Aufklärung zugrunde liegender Pathomechanismen als Basis für die Entwicklung gezielter Therapien. Hierbei wurden bislang mehr als 290 000 Assoziationen zwischen häufigen genetischen Varianten und häufigen Merkmalen beziehungsweise Krankheiten entdeckt [4].
Wo die genbasierte Medizin bereits einen wichtigen Stellenwert hat, ist in der Therapie und Prävention von Krebserkrankungen. Dies mittels diagnostischer Anwendung der Hochdurchsatzsequenzierung; einerseits in der Identifizierung von Betroffenen mit einem hohen Risiko aufgrund von vererblichen Keimbahnmutationen und andererseits durch die Identifizierung von somatischen Driver-Genen der Tumorentwicklung. Ersteres erlaubt eine effiziente Früherkennung insbesondere bei Risiko für Brust- und Darmkrebs und zunehmend auch eine gezielte medikamentöse Behandlung, während letzteres bei vielen häufigen Tumoren wichtige Informationen über das Ansprechen auf bestimmte Therapeutika liefert. Die prädiktive Bestimmung des Krebsrisikos beruht hierbei in erster Linie auf dem Nachweis von seltenen Genvarianten mit hoher Durchschlagskraft, während die Anwendung sogenannter «polygener Risiko-Scores», basierend auf einer Vielzahl von häufigen Varianten, noch diskutiert wird. Diese könnten insbesondere für Betroffene relevant werden, deren errechnetes Krebsrisiko basierend auf bekannten seltenen Genvarianten und Familiengeschichte eher grenzwertig ist.
Die am unmittelbarsten Diagnostik und Therapie beeinflussenden Erfolge erlangte unser Fach bisher bei den seltenen Krankheiten. Diese sind definiert durch eine Häufigkeit von weniger als 1:2000. Da es jedoch ungefähr 8 000 solcher seltenen Krankheiten aus allen klinischen Disziplinen gibt, betreffen sie in der Summe geschätzte 5–8% der Bevölkerung. Die allermeisten dieser Krankheiten sind durch monogene Defekte verursacht, das heisst, durch die abnorme Funktion eines einzigen Gens aufgrund einer oder zweier Mutationen mit starker Durchschlagskraft. Ferner spielen submikroskopische Chromosomenstörungen sowie epigenetische Veränderungen und regulatorische Defekte eine Rolle. Durch die breite Anwendung hochauflösender chromosomaler Mikroarray-Analysen in den letzten zehn Jahren, sowie der massiv parallelen Hochdurchsatzsequenzierung aller Gene in den letzten fünf Jahren, stieg die Effizienz der genetischen Krankheitsaufklärung exponentiell, so dass heute über 4 000 Gene mit monogenem Phänotyp bekannt sind und dabei viele neue Krankheitsentitäten definiert werden konnten [5]. Die Diagnose einer genetisch bedingten Krankheit resultiert heute auch zunehmend in gezielten Behandlungsempfehlungen [6] mit teils bereits zugelassenen hochwirksamen mutationsspezifischen Medikamenten (z.B. für Zystische Fibrose) und erfolgreichen Gentherapien (z.B. für spinale Muskelatrophie).
Jeweils mit etwas Verzögerung hielten die neuen Diagnoseverfahren für submikroskopische Chromosomenstörungen und monogene Krankheiten auch Einzug in die Pränataldiagnostik, was insbesondere bei auffälligem fetalem Ultraschallbild hilft, die Prognose für den Fötus klarer vorherzusagen, als Grundlage für ein informiertes Management der Schwangerschaft. Seit wenigen Jahren besteht auch die Möglichkeit, den fetalen Karyotyp ohne Abortrisiko für den Fetus nicht-invasiv aus einer Blutprobe der Schwangeren zu bestimmen. Seit Ende 2017 ist in der Schweiz bei schweren Erbkrankheiten in der Familie eine genetische Präimplantationsdiagnostik der Embryonen im Rahmen einer assistierten Befruchtung erlaubt. Unabhängig von solch familiären Erbkrankheiten darf nun auch der Chromosomensatz der Embryonen hinsichtlich allfälliger einer Schwangerschaft entgegenstehenden Imbalancen erfolgen.
Abbildung 1: Medizinische Genetik umfasst Risikovorhersagen und Diagnostik mit steigender Bedeutung für Prävention und Therapie über die gesamte Lebenspanne. Hochdurchsatzverfahren für Sequenz- und Chromosomenanalysen ergänzen die klinisch-genetische Evaluation und genetische Beratung.

Beurteilung

GWAS haben wichtige Erkenntnisse über die genetischen Grundlagen komplexer, multifaktorieller Krankheiten geliefert. Dabei ist vor allem die Komplexität, die sich aus der Zahl der beteiligten Varianten (Polygenität), den individuell sehr unterschiedlichen Kombinationen von Varianten (Heterogenität) und den beteiligten Umweltfaktoren ergibt, klarer geworden. Bei vielen Volkskrankheiten gibt es mittlerweile bessere Vorstellungen, welche biologischen Prozesse an der Krankheitsentstehung beteiligt sind. Die genauen Pathomechanismen müssen in den meisten Fällen aber noch erforscht werden. Erschwerend ist dabei, dass die meisten krankheitsassoziierten Varianten ausserhalb von Genregionen liegen und eher regulatorische Auswirkungen auf die Genexpression haben werden. Eine bessere Charakterisierung der nicht-kodierenden Regionen (immerhin 98%) unseres Genoms wird hier zum Verständnis beitragen. Eine genaue Prädiktion der Erkrankungswahrscheinlichkeit aufgrund von GWAS-Ergebnissen hat sich als unrealistisch herausgestellt und wird auch in Zukunft schwierig sein, da – anders als bei vielen monogenen Krankheiten – neben genetischen Faktoren auch Umweltfaktoren entscheidend zur Krankheitsentstehung beitragen. Diese sind momentan für die Prädiktion noch schwer fassbar. Derzeit wird aber intensiv geforscht, inwiefern sich polygene Risikoscores für eine biologisch besser fundierte Krankheitsklassifikation und Diagnosestellung eignen sowie für die Vorhersage von Krankheitsverläufen und wirksamen Therapien.
Deutlich konkretere Anwendungsmöglichkeiten der genetischen Diagnostik im klinischen Alltag haben sich in den letzten fünf Jahren bereits bei Tumoren und erblichem Krebsrisiko sowie bei einer Vielzahl von chromosomalen und monogenen Krankheiten ergeben. In Prävention und Therapie vieler häufiger Krebserkrankungen hat die genbasierte Stratifizierung aufgrund von Keimbahn- und somatischen Mutationen bereits einen wichtigen Platz im medizinischen Alltag erlangt. Darüber hinaus weisen erste Studien darauf hin, dass der Nachweis von nicht-invasiven genetischen Biomarkern aus zirkulierender Tumor-DNA ein vielversprechender Ansatz zur weiteren Verbesserung der Krebsfrüherkennung werden könnte. Bei vielen klinisch schwer fassbaren und genetisch sehr heterogenen Krankheitsgruppen haben die neuen Analysemethoden für chromosomale und genbasierte Defekte zu einer stetig wachsenden, erstaunlich hohen Diagnoserate und neuen molekulargenetisch basierten Nosologien geführt. In manchen Bereichen, wie etwa bei vielen neuromuskulären Krankheiten, fand durch diese enormen Fortschritte in den letzten Jahren auch ein Paradigmenwechsel statt, der weg von der primär histologischen Untersuchung der invasiv gewonnenen Muskelbiopsie hin zu einer an einer Blutprobe durchführbaren breiten genetischen Testung als weiterführende Diagnostik der ersten Wahl führt [7].

Ausblick

Als Zukunftsvision steht die Interpretation unserer gesamten Genomsequenz im Raume, so dass es nicht nur möglich sein wird, im eingetretenen Krankheitsfall rasch eine sichere Diagnose mit klarer Prognose und Therapieempfehlung auszusprechen, sondern auch prädiktiv ein grosses Spektrum von Krankheitsrisiken zu erkennen und präventive Massnahmen zu ergreifen. Dem steht heute noch die grosse Anzahl an ungeklärten Pathomechanismen und Genvarianten unklarer klinischer Bedeutung entgegen.
SC deklariert Forschungszuschüsse von der EU und vom Schweizerischen Nationalfonds. AR meldet finanzielle Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds und die Sick Stiftung. Sie hat zudem Honorare erhalten von diversen Spitälern.
Prof. Dr. rer. nat. Sven Cichon
Universitätsspital Basel
Institut für Medizinische Genetik und Pathologie
Schönbeinstrasse 40
CH-4031 Basel
sven.cichon[at]usb.ch

Prof. Dr. med. Anita Rauch
Universität Zürich
Institut für Medizinische Genetik
Wagistrasse 12
CH-8952 Schlieren
anita.rauch[at]medgen.uzh.ch