Von Kräutern zu Pillen, Biologics und Genetic Tools
Jubiläumsschlaglicht: Kardiologie

Von Kräutern zu Pillen, Biologics und Genetic Tools

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/0304
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08960
Swiss Med Forum. 2022;22(0304):52-54

Affiliations
a Royal Brompton & Harefield Hospitals and National Heart & Lung Institute, Imperial College, London, UK; b Center for Molecular Cardiology, ­Universität ­Zürich, Schlieren

Publiziert am 19.01.2022

Die Pharmakotherapie der Zukunft steht vor der Tür. Genetische Tools revolutionieren die Behandlung von Dyslipidämien und bald auch von Herzmuskelerkrankungen und einigem mehr.

Der Beginn der Medizin

Angefangen hat die Medizin mit Kräutern, mit Morphin aus der Mohnblume, dem Laudanum gegen Schmerzen und Diarrhoe, danach dem Fingerhut bei «dropsy», heute als Herzinsuffizienz bekannt. Dann brachten uns Pilzextrakte Penicillin, Streptomycin und Cephalosporine. Schliesslich wurden Rezeptor­antagonisten wie Propranolol und Enzymhemmer wie Acetylsalicylsäure und Angiotensin-Converting-­Enzyme-(ACE-)Inhibitoren in die Medizin eingeführt. Zuletzt bereicherten humanisierte Antikörper die ­Therapie, so Tumornekrosefaktor-(TNF-)α-Antikörper bei Rheumatoider Arthritis und jüngst Proproteinkonvertase-Subtilisin/Kexin-Typ-9-(PCSK9-)Antikörper bei Hyperlipidämie.

Genetic Tools

Nun wurden die Fortschritte der Molekularbiologie hochrelevant: Wer sie noch nicht kannte, dem lieferte die COVID-19-RNA-Impfung ein Beispiel für Nukleotid-basierte «genetic tools». Diese Technologie hat auch die kardiovaskuläre Medizin erreicht: «small interfering RNA» (siRNA) und «antisense oligonucleotide» (ASO) werden zur Behandlung von Dyslipidämien entwickelt und werden unseren klinischen Alltag bereichern, weil diese Nukleinsäuren äusserst präzise und effektiv Stoffwechselwege in Zielorganen blockieren – und dies über einen sehr langen Zeitraum. ASO sind 13–20 Nukleinsäuren lang und werden so gestaltet, dass sie an die Ziel-messenger-RNA (mRNA) binden und ein Gen-­Silencing (d.h. eine Blockierung der Translation der mRNA in ein Protein) ermöglichen (Abb.) [1, 2]. Nackte RNA wird enzymatisch abgebaut und ist unwirksam. Um dies zu verhindern, werden Modifikationen des «Backbones» vorgenommen, die eine höhere Affinität für die Ziel-Sequenz und eine erhöhte Resistenz gegen Ribonukleasen (RNasen) erreichen. Damit lässt sich eine hohe klinische Wirksamkeit und Verträglichkeit erreichen.

RNA-Interferenz

Die RNA-Interferenz (RNAi) wurde 1998 durch Andrew Z. Fire (Stanford, Kalifornien) und Craig C. Mello (Worcester, Massachusetts) entdeckt und 2006 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet [3]. RNAi erlaubt eine wirksame und spezifische Gen-Stummschaltung durch doppelsträngige RNA (Abb. 1). Ihre Koppelung mit N-Acetylgalactosamin (GalNAc) erlaubt eine effektive organspezifische Behandlung.
Abbildung 1: Wirkung von Antisense-Oligonucleotide-(ASO-) bzw. RNAi-Technologie.
Im Moment ist die Leber das geeignetste Organ dank spezifischer Delivery-Systeme, die auf dem Liganden N-Acetylgalactosamin (GalNac) und dem Asialoglycoprotein-Rezeptor (ASGP-R) basieren. Dies ermöglicht eine zielgerichtete und spezifische Hemmung des Lipidstoffwechsels.
Aus [2]: Landmesser U, Poller W, Tsimikas S, Most P, Paneni F, Lüscher TF. From traditional pharmacological towards nucleic acid-based therapies for cardiovascular diseases. Eur Heart J. 2020;41(40):3884–99. doi: 10.1093/eurheartj/ehaa229.
© 2020 Oxford University Press. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press im Namen der ­Europäischen Gesellschaft für Kardiologie.
Nach subkutaner Injektion gelangt die «small interfering RNA» (siRNA) über den Blutkreislauf durch das ­fenestrierte Leberepithel in die Hepatozyten und bindet mit dem GalNAc-Anteil an die Asialoglycoprotein (ASGR)-Rezeptoren, die spezifisch an ihrer Oberfläche exprimiert werden. Danach kommt es zu einer sehr stabilen Verbindung mit dem «RNA-induced silencing complex», was zu einer sechsmonatigen Hemmung der mRNA-Zieltranskripte und zur Unterdrückung des durch sie kodierten Proteins führt. Inclisiran hemmt PCSK9 und senkt damit das Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin (LDL-C) wirksam über bis zu sechs Monaten bei bisher ausgezeichneter Verträglichkeit [4].

ASO bei Hypertriglyceridämie

ASO gegen die mRNA von Angiopoietin-like 3 (ANGPTL3) oder Apolipoprotein C-III (APOC3) reduzieren die hepatische Triglyceridsekretion und das LDL-C durch Hemmung der Endothelialen Lipase. «Missense mutations» von ANGPTL3 sind mit tiefen Werten von Triglyceriden, LDL-C und High-Density-Lipoprotein-Cholesterin (HDL-C) sowie einem reduzierten kardiovaskulären Risiko assoziiert [2]. Zwei Behandlungsstrategien wurden entwickelt: a) Eine antikörperbasierte Inaktivierung von ANGPLT3 mit Evinacumab und b) eine ­ASO-basierte Hemmung der hepatischen ANGPLT3-­Expression. Ein ASO gegen ANGPLT3-mRNA bewirkt eine dosisabhängige Abnahme der ANGPTL3-Protein- und Triglyceridspiegel. Auch APOC3 spielt eine wichtige Rolle im Triglyceridstoffwechsel. So führt beispielsweise das ASO Volanesorsen zu einer 77%igen signifikanten Senkung der Triglyceridspiegel. Alle ASO müssen allerdings erst noch in randomisierten Trials hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auf klinische «Outcomes» geprüft werden.

ASO gegen Lipoprotein (a)

Erhöhte Blutspiegel von Lipoprotein (a), kurz Lp(a), sind mit frühzeitigem Myokardinfarkt und Herztod sowie Aortenklappenstenosen assoziiert. Mendelsche Randomisierungsstudien wiesen eine genetische Kausalität nach. Spezifische ASO reduzieren die Lp(a)-Produktion in der Leber um 80%. Ob und in welchem Ausmass AKCEA-APO(a)-LRx oder andere ASO auch die Prognose von Patienten mit erhöhtem Lp(a) verbessern, wird in einer grossen klinischen Studie untersucht. Lp(a) korreliert allerdings invers mit Diabetes mellitus; ob eine Senkung der Lp(a)-Spiegel zu einer erhöhten Inzidenz von Diabetes führt, ist noch unklar und bedarf daher der Überprüfung.

Epigenetische Modulation

Das nicht kodierende menschliche Epigenom wird von multiplen Faktoren wie Transkriptionsfaktoren, DNS-Methylierungen, Histon-Modifikationen und RNA-­basierten Mechanismen beeinflusst und umfasst ­Genomveränderungen, die reversibel sind, da sie oberhalb der DNA-Sequenz wirken [2]. Unterschiedliche DNA-Methylierungs-Muster wurden beispielsweise bei myokardialer Dysfunktion und Herzinsuffizienz gefunden. Entsprechend besteht die Möglichkeit einer gezielten epigenetischen Modifikation auch bei Herz- und Kreislauferkrankungen.
Bromodomain-and-Extra-Terminal-motif-(BET-)Proteine sind epigenetische Leser der Lysin-Acetylierung. Sie interagieren mit acetylierten Lysinen über an DNA gebundene Histone und regulieren somit die Gentranskription [2]. Der BET-Inhibitor Apabetalone wurde in verschiedenen Studien bei kardiovaskulären Patienten untersucht. Eine gepoolte Analyse von nicht randomisierten Studien deutete auf weniger «major adverse ­vascular events» (MACE) bei behandelten Patienten hin; Befunde, die in randomisierten Studien nun überprüft werden. Schliesslich beeinflusst die pharmakologische Modulation von Sirtuin-1 (SIRT-1), das auch als Histon-Deacetylase wirkt, epigenetische Mechanismen, was ebenfalls Gegenstand verschiedener Studien ist.

Klinische Perspektiven der Gen-Schere CRISPR/Cas

2020 erhielten Jennifer A. Doudna (Berkeley, Californien) und Emmanuelle M. Charpentier (Berlin, Deutschland) für die Entdeckung des CRISPR/Cas-Systems, das anders als ASO und RNAi direkt in die DNA-Sequenz eingreift, den Nobelpreis. Damit konnten vorerst experimentell einzelne Gen-Defekte erfolgreich korrigiert werden. Von Interesse sind hier zunächst monogenetische Herzerkrankungen wie die MYBPC3-Mutation, die zur hypertrophen Kardiomyopathie führt. In menschlichen embryonalen Zellen konnte mit CRISPR-Cas9 erfolgreich die MYBPC3-Mutation durch eine gesunde Genvariante ausgetauscht werden. Weiter wurde kürzlich gezeigt, dass CRISPR-Basiseditoren, die in vivo in Lipid-Nanopartikeln infundiert ­wurden, bei Cynomolgus-Affen effizient und präzise einen fast vollständigen Knock-down von PCSK9 in der Leber und damit der LDL-C-Plasmaspiegel erlauben [5].

Künftige Entwicklungen

Die Ausweitung von ASO und RNAi sowie anderer (epi-)genetischer Technologien auf Herz und Gefässsystem nach Lipidstoffwechselstörungen ist vor allem bei ­monogenetischen Kardiomyopathien vielversprechend [2]. Da diese Technologien spezifische und langfristige Wirkungen entfalten, bleibt ihre Sicherheit eine Herausforderung. Was in der Leber bereits Routine ist, muss für die myokardiale Verwendung erst entwickelt werden. Dazu müssen spezifische myokardiale Oberflächenproteine als Andockstellen gefunden werden, um spezifisch nur im Herzmuskel zu wirken und unerwünschte «Off-target-Effekte» zu vermeiden. Für die klinische Bereitstellung von therapeutischen CRISPR-Instrumenten sind noch weitere Hürden zu überwinden, insbesondere ein mögliches Einfügen von Off-target-Mutationen in das Genom von Patienten. Dennoch sind diese Technologien ein historischer Durchbruch und die Pharmakologie der Zukunft – in der Kardiologie wie auch in anderen Bereichen der ­Medizin.
Prof. Lüscher deklariert Zuschüsse für Forschung und/oder Lehre durch Abbot Europe, Amgen US/UK/CH, Boehringer Ingelheim, Daichi-Sankyo UK/CH, Novartis, Roche Diagnostics CH, Sanofi, Servier und Vifor; Beraterhonorare von Amgen, Daichi-Sankyo sowie Sanofi und Expertengutachten durch Pfizer UK. Prof. Lüscher ist Sekretär / Kassier der European Society of Cardiology, Vorsitzender des Forschungsausschusses der Schweizerischen Herzstiftung, Präsident der Stiftung für Kardiovaskuläre Forschung und Mitglied es Erziehungsausschusses der British Cardiovascular Society.
Prof. Dr. med. Thomas F. Lüscher, FRCP, FESC
Center for Molecular
Cardiology
Biotech Campus Schlieren, Universität Zürich
Wagistrasse 12
CH-8952 Schlieren
cardio[at]tomluescher.ch
1 Nordestgaard BG, Nicholls SJ, Langsted A, Ray KK, Tybjærg-Hansen A. Advances in lipid-lowering therapy through gene-silencing technologies. Nature Rev Cardiol. 2018;15(5):261–71.
2 Landmesser U, Poller W, Tsimikas S, Most P, Paneni F,Lüscher TF. From traditional pharmacological towards nucleic acid-based therapies for cardiovascular diseases. Eur Heart J. 2020;41(40):3884–99.
3 Fire A, Xu S, Montgomery MK, Kostas SA, Driver SE, Mello CC. Potent and specific genetic interference by double-stranded RNA in Caenorhabditis elegans. Nature. 1998;391(6669):806–11.
4 Ray KK, Landmesser U, Leiter LA, Kallend D, Dufour R, Karakas M. Inclisiran in patients at high cardiovascular risk with elevated LDL cholesterol. N Engl J Med. 2017;376(15):1430–40.
5 Musunuru K, Chadwick AC, Mizoguchi T, Garcia SP, DeNizio JE, Reiss CW. In vivo CRISPR base editing of PCSK9 durably lowers cholesterol in primates. Nature. 2021;593(7859):429–34.