Allergen meiden oder sich daran gewöhnen: Das ist die Frage!
Jubliäumsschlaglicht: Allergologie

Allergen meiden oder sich daran gewöhnen: Das ist die Frage!

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/0910
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08970
Swiss Med Forum. 2022;22(0910):148-150

Affiliations
a ADR-AC GmbH, Bern; b Löwenpraxis, Luzern; c Klinik St. Anna, Luzern

Publiziert am 01.03.2022

Da Allergien potentiell vermeidbar sind, steht eine exakte Diagnose der Ursachen im Zentrum der Abklärung. Hier hat es in den letzten 20 Jahren entscheidende Fortschritte gegeben.

Vom experimentellen Ansatz zur ­therapeutischen Relevanz

Die Allergologie profitierte vor allem vom enormen ­Erkenntnisgewinn der Immunologie, der in den 1970er-Jahren richtig einsetzte und die Immunologie über Jahrzehnte zur am stärksten wachsenden Wissenschaftsrichtung der Medizin machte. Die Annahme, dass damit die Immunologie, die sich mit den natürlichen Abwehrmechanismen beschäftigt, ins Zentrum der Medizin rücken würde, ist allerdings weit gefehlt. Sie blieb lange eine exotische Disziplin, die anhand von Mausexperimenten das komplexe Immunsystem erforschte und als «hehre» Wissenschaft zwar einige Nobelpreise bekam, sich aber als zu komplex für die klinisch-praktische Medizin erwies. Eine stärkere ­Berücksichtigung der Immunologie in der Medizin trat erst ein, als mit Einsatz der monoklonalen Antikörper der therapeutische Nutzen der Immunologie offensichtlich wurde und man als Behandler gezwungen war, immunologisch bedeutsame Moleküle besser kennenzulernen und zu verstehen, z.B. Tumornekrosefaktor α (TNF-α), Interleukin 1 (IL-1), IL-6, IL-4/IL-13-­Rezeptor (IL-4/IL-13R) oder «cytotoxic T-lymphocyte-associated Protein 4» (CTLA-4) / «programmed cell death protein 1» (PD1).

Richtungswechsel durch markante Veränderungen

Die Allergologie der letzten 20 Jahre war geprägt von entscheidendem Erkenntnisgewinn, der in vielerlei Hinsicht ein Umdenken erforderte.
Zum einen gab es einen deutlichen Wissenszuwachs bei der Charakterisierungderallergieauslösenden Umweltfaktoren.Eine Besonderheit der Allergologie ist die Tatsache, dass die Auslöser (z.B. Pollen, Hausstaubmilben, Medikamente) an sich harmlos sind. Die daraufhin zu beobachtende Klinik, wie Rhinitis, Asthma oder Exanthem, ist ausschliesslich Folge der Immunreaktion und nicht wie bei einer Infektion ein Mischbild aus schädlichem Auslöser und immunologischen Abwehrmechanismen. Die genaue Charakterisierung der als harmlos eingestuften Allergene wurde lange vernachlässigt. Österreichische Forscher änderten dies und stellten die Allergencharakterisierung in den Mittelpunkt ihrer ­Forschung [1]. Struktur, biologische und biochemische Eigenschaften, Löslichkeit und mehr erklärten wann, wo und wie stark eine Allergie abläuft. Ein gutes Beispiel sind die Birkenpollen. Einzelne Proteine konnten als Hauptallergene identifiziert werden (Betula verrucosa Allergen 1 [Bet v 1]), andere Birkenpollenbestanteile dagegen lösen kaum je eine Allergie aus (Bet v 2 und Bet v 4, sogenannte Nebenallergene). Da Bet v 1 in ähnlicher Form auch in anderen Pflanzen und Früchten vorkommt (z.B. als Mal d 1 im Apfel) konnte die molekulare Basis der Kreuzreaktionen zwischen Birkenpollenallergie und Kern- und Steinobst geklärt werden. Die Menge des Proteins in der Allergenquelle, seine Löslichkeit und Resistenz gegenüber Verdauungsprozessen erklärt dabei auch die Unterschiede im klinischen Verlauf. Es ist heute möglich, aus 0,5 ml Serum mittels Chip-Techniken >400 verschiedene Immunglobuline E (IgE) auf Einzelallergene zu bestimmen. Die Kunst ist nun, das Wichtige zu erkennen und allen Beteiligten verständlich zu vermitteln.
Dabei war es auch wichtig zu beachten, wann und wo man den Allergenen ausgesetzt ist. Es war der Haus- und Schularzt Dr. med. Markus Gasser aus Grabs /­ St. Gallen, der als Erster die unterschiedliche Allergieprävalenz bei Kindern beobachtete, die abhängig ­davon war, ob sie im städtischen oder im bäuerlichen Milieu mit regelmässigem Hoftier-Kontakt aufwuchsen. Basierend auf weiteren Untersuchungen wurde die Hygienehypothese entwickelt, also die Annahme, dass die frühkindliche Auseinandersetzung mit bestimmten Mikroorganismen zur Entwicklung des Immunsystems beiträgt und vor allergischen Erkrankungen schützt [2].
Allergene kommen überall vor, aber wir beginnen erst jetzt zu verstehen, wieso die meisten Menschen die ­Allergenexposition problemlos tolerieren. Dabei stellten sich die Toleranzmechanismen in der Immunologie/Allergologie als viel potenter heraus als erwartet. Über Jahrzehnte hinweg haben die Richtlinien zur ­Ernährung und Beikosteinführung ein striktes Meiden der klassischen allergieauslösenden Nahrungsmittel (z.B. Erdnüsse, Kuhmilch oder Hühnerei) im ersten Lebensjahr empfohlen, um Nahrungsmittelallergien vorzubeugen. Eine grosse englische Studie zur frühen Einführung von Erdnüssen in die Säuglingsernährung (LEAP-Studie) hatte allerdings – im Gegensatz zu allen Richtlinien – einen protektiven Effekt gezeigt [3]! Es wird vermutet, dass der kindliche Magen-Darm-Trakt durch die frühe und regelmässige Auseinandersetzung mit allergieauslösenden Nahrungsmitteln eine Toleranz anstatt einer allergischen Immunantwort entwickelt. Weitere Faktoren für eine Allergieentwicklung sind die Allergenaufnahme über die Haut und die fehlende Auseinandersetzung mit Mikroorganismen [4] (Abb. 1). Es könnte daher sein, dass gerade die Vorsicht bei der Einführung allergieauslösender Nahrungsmittel kontraproduktiv war und zum späteren Erwerb einer Nahrungsmittelallergie beigetragen hat. Ein Paradigmenwechsel bahnt sich hier an.
Abbildung 1: Art, Ort und Zeitpunkt der Allergenexposition scheint für die Entwicklung einer Allergie entscheidend zu sein. Ein früher Kontakt mit verschiedenen Mikroorganismen kann die Immunantwort auf Allergene in eine protektive Richtung lenken (Toleranz/TH-1-Dominanz). Ein striktes Meiden der Allergene kann kontraproduktiv sein, da keine Toleranz entwickelt werden kann. Erfolgt ein Hautkontakt mit den Allergenen, bevor diese erstmals enteral aufgenommen wurden, kann dies zu einer Sensibilisierung und somit allergischen Reaktion bereits bei der ersten Einnahme führen. Eine intakte Hautbarriere spielt in diesem Sinne daher auch eine wichtige Rolle. GI: Gastrointestinal; T-reg: regulatory T cells. Aus [4]: Du Toit G, Sampson HA, Plaut M, Burks AW, Akdis CA, Lack G. Food allergy: Update on prevention and tolerance. J Allergy Clin Immunol. 2018;141(1):30–40. © 2008 Elsevier. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Auch in puncto Medikamentenallergien gab es einen bedeutenden Erkenntnisgewinn. Das dominierende Dogma der Medikamentenallergie setzt eine starke, kovalente Bindung an ein grösseres, körpereigenes Protein, also die Bildung eines Hapten-Protein-Komplexes, voraus, um eine Immunantwort auszulösen. Penicillin-Präparate «haptenisieren» aber bei allen Menschen körpereigene Proteine, allergisch werden gleichwohl nur wenige. Die Auseinandersetzung mit dem Hapten-Protein-Komplex führt also bei den meisten zu einer Toleranz und nicht zu einer allergischen Immunantwort.
Es brauchte einen Winkelried, um zu postulieren, dass die Medikamentenallergie vor allem dann auftritt, wenn ein Medikament in nicht kovalenter Form, also reversibel und quasi «off-target» an Immunrezeptoren wie Moleküle der Humanen Leukozytenantigene (HLA) oder T-Zell-Rezeptoren bindet («pharmakologische Interaktion mit Immunrezeptoren» [p-i-Konzept]) [5]. Es konnten für einzelne Wirkstoffe sogar starke Assoziationen mit spezifischen HLA-Allelen gefunden werden, die schwere Hypersensitivitätssyndrome vorhersagen, welche somit verhindert werden können (z.B. Assoziation von Abacavir und HLA-B*57:01). Verhinderung ­einer Allergie mit «personalized medicine» – ein echter Fortschritt in der Allergologie!
Die diskutierten Beispiele zeigen, dass die Allergologie – wie auch die gesamte Medizin – sich fortentwickelt. Andererseits zeigen sie auch, dass gesicherte ­Erkenntnisse und eingängige «Richtlinien» oft gar nicht so sicher sind. Sie spiegeln das von der Mehrheit vertretene aktuelle Wissen wider und könnten und sollten (!) stets hinterfragt werden. 2041 wird man sich über die Richtlinien von 2021 wundern!
Was sich auf dem Gebiet der Allergievermeidung und Genese der Medikamentenallergie abzeichnet, ist mehr als eine Anpassung der Richtlinien. In beiden Fällen wurden die Toleranzmechanismen des Immunsystems massiv unterschätzt. Die Beteiligung des Immunsystems bei Allergenaufnahme oder Bildung von Haptenen wurde immer als Konfrontation gesehen. Das Denken war geprägt vom Bild der immunologisch induzierten Entzündung. Dass diese Immunprozesse häufig protektiv sind, erfordert ein Umdenken. Insofern werden die Anpassungen der Richtlinien, die jetzt nötig zu sein scheinen, radikal werden. Allerdings sind solche überraschenden Kehrtwendungen in einer jungen und höchst aktiven Wissenschaft wie der Immunologie nicht unüblich. Man denke nur an den Siegeszug der neuen Immuntherapie mit Checkpoint-Inhibitoren, nachdem die «Immuntherapie» in der Onkologie schon mehrmals totgesagt worden war.
Wenngleich radikale Kehrtwendungen also vorkommen, sollte man doch fragen: «Warum haben die Allergologen/Immunologen so falsch gelegen?».Zum einen wurde die normale Immunabwehr, die ja bei den meisten Personen funktioniert und vor Allergien schützt, unterschätzt. Man hat zu wenig die Gesunden und ­ihren funktionierenden Toleranzmechanismus untersucht. Bei Gesunden passiert ja nichts, und dieses «Nichts» ist schwierig zu untersuchen. Zum anderen fokussierte man zu stark auf intellektuell verführerische Mausmodelle und zu wenig auf die humane Immunologie. Letztere ist schwieriger und aufwendiger – bietet aber den enormen Vorteil, dass man mit dem Menschen reden kann, und dass die Erkenntnisse meist auch relevant sind für die Menschen.

Den Ursachen weiter auf den Grund gehen

Der aktuelle Trend in der Medizin und Medizinerausbildung geht hin zu der Frage: «Was ist es und was muss ich tun?». Dieser pragmatische Zugang ist verständlich angesichts der zunehmenden Datenmenge und der Notwendigkeit, rasch zu handeln. Er gibt auch eine gewisse Sicherheit. Aber es ist eigentlich problematisch, wenn ein Verständnis der Krankheit gar nicht mehr als nötig erachtet wird, um zu intervenieren. Man sollte – wie die Betroffenen selbst – mehr nach ­Ursachen und Abläufen fragt, also: «Was ist passiert, wieso dieser Patient?». Es ist zu wünschen, dass wir in jeder Fachrichtung der Medizin genügend Ärzte und Ärztinnen haben, die interessiert sind, den Mechanismus zu hinterfragen, und die Pathophysiologie verstehen wollen, und dass wir uns so dem Ideal annähern, dass jeder Arzt und jede Ärztin ein Immunologe respektive eine Immunologin ist – also sachkundig auf dem Gebiet der natürlichen Abwehr und eben auch der natürlichen Toleranzmechanismen.
WJP hat deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben. OH hat angegeben, über sein Anstellungsverhältnis mit der Firma ADR-AC GmbH hinaus Honorare für klinische Beratungen sowie das Verfassen eines gesponsorten Beitrags zum Thema «Tryptase-Messung bei Anaphylaxie» von Thermo Fisher Diagnostics erhalten zu haben.
Prof. Dr. med.
Werner J. Pichler
ADR-AC GmbH
Holligenstrasse 91
CH-3008 Bern
werner.pichler[at]adr-ac.ch
1 Valenta R, Lidholm J, Niederberger V, Hayek B, Kraft D, Grönlund H. The recombinant allergen-based concept of component-resolved diagnostics and immunotherapy (CRD and CRIT). Clin Exp Allergy. 1999;29(7):896–904.
2 Braun-Fahrländer C, Riedler J, Herz U, Eder W, Waser M, Grize L, et al. Environmental exposure to endotoxin and its relation to asthma in school-age children. N Engl J Med. 2002;347(12):869–77.
3 Du Toit G, Roberts G, Sayre PH, Bahnson HT, Radulovic S, Santos AF, et al. Randomized trial of peanut consumption in infants at risk for peanut allergy. N Engl J Med. 2015;372(9):803–13.
4 Du Toit G, Sampson HA, Plaut M, Burks AW, Akdis CA, Lack G. Food allergy: Update on prevention and tolerance. J Allergy Clin Immunol. 2018;141(1):30–40.
5 Pichler WJ. The important role of non-covalent drug-protein interactions in drug hypersensitivity reactions. Allergy. 2022;77(2):404–415.