Diabetestherapie im Wandel – Evolution und Revolution mit Fokus auf die Betroffenen
Jubiläumsschlaglicht: Diabetologie

Diabetestherapie im Wandel – Evolution und Revolution mit Fokus auf die Betroffenen

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/0506
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08974
Swiss Med Forum. 2022;22(0506):85-87

Affiliations
Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Metabolismus, Inselspital Bern, Bern

Publiziert am 01.02.2022

Ein Blick zurück in die Geschichte der Diabetestherapie: die wichtigsten und prägendsten Errungenschaften der Diabetesforschung in den letzten 20 Jahren.

100 Jahre Insulin

Das Jahr 2021 ist in zweierlei Hinsicht ein Jubiläumsjahr – wir feiern 20 Jahre Swiss Medical Forum und 100 Jahre Insulin. Seit Einführung der Insulintherapie im Jahre 1921 hat sich die Diabetestherapie stetig verbessert. Insbesondere die letzten 20 Jahre haben für Betroffene und ihre Behandlungsteams massgebende Entwicklungen hervorgebracht. Nachfolgend gehen wir auf die wichtigsten Neuerungen in den Bereichen Insulinanaloga, Nicht-Insulin-Antidiabetika, Glukosemessung und Insulinabgabesysteme ein.

Neue Wirkstoffe, kontinuierliche Glukosemessung und «Closed-Loop»-Systeme

Von den weltweit 460 Millionen Menschen mit Diabetes mellitus sind etwa 30% auf eine Insulintherapie angewiesen. Für Personen mit Typ-1-Diabetes-mellitus (T1DM) ist Insulin auch 100 Jahre nach dessen erster therapeutischer Anwendung ein elementarer Bestandteil der Therapie. Vor rund 20 Jahren wurden in der Schweiz die ersten schnell- und langwirksamen Insulin­analoga eingeführt. Jüngste Entwicklungen umfassen ultraschnell wirksame Analoga, die sich durch ein noch schnelleres An- und Abfluten der Insulinwirkung auszeichnen und so postprandiale Glukosespitzen und akkumulationsbedingte Hypoglykämien weiter reduzieren. Die neuesten ultralang wirksamen Basalinsuline minimieren Hypoglykämien durch längere Wirkdauer und stabilere Wirkprofile. Trotz all dieser Entwicklungen kann mit der subkutanen Insulintherapie das physiologische 3:1-Verhältnis der Insulinexposition von Leber und peripheren Geweben noch nicht vollständig simuliert werden. Alternativen wie inhalatives Insulin sind in der Schweiz nicht zugelassen, andere Formen wie orale oder leberspezifische Insuline sind Gegenstand der Forschung.
Auch bei den Nicht-Insulin-Antidiabetika zeigten sich in den letzten 20 Jahren grosse Fortschritte. Bis um die Jahrtausendwende war die Therapie des Typ-2-Diabetes-mellitus (T2DM) durch Biguanide, Sulfonylharnstoffe, Glinide und Glitazone geprägt. Während Metformin weiterhin als medikamentöse Erstlinien-Therapie des T2DM etabliert ist, wurde das Repertoire an Add-on-­Therapien um drei Wirkstoffklassen erweitert: DPP-4-Hemmer (DPP-4i), GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) und SGLT-2-Hemmer (SGLT-2i). Die Entschlüsselung des Inkretin-Effekts (blutzuckerabhängige Anregung der endogenen Insulinausschüttung bei oraler Glukoseaufnahme durch Darmhormone) ebnete den Weg für die Entwicklung der GLP-1-RA und DPP-4i. Gerade die GLP-1-RA werden aufgrund ihrer potenten Effekte auf die Glukosekontrolle und der positiven Effekte auf Gewichtsreduktion und kardiovaskuläre Endpunkte zunehmend eingesetzt. Aufgrund des gewichtsreduzierenden Effekts haben die GLP-1-RA auch einen Platz in der Adipositastherapie eingenommen. Seit April 2020 ist Liraglutid als adjuvante Pharmakotherapie zur ­Gewichtsreduktion bei Personen mit einem «Body Mass Index» (BMI) ≥35 kg/m2 (oder ≥28 kg/m2 mit assoziierter Komorbidität) begleitend zu Kalorienrestriktion und körperlicher Aktivität kassenpflichtig.
Eine weitere neuere Wirkstoffklasse sind die SGLT-2i. Neben einer signifikanten HbA1c-Senkung (durchschnittlich −0,6% bei T2DM) wurden kardio- und renoprotektive Effekte nachgewiesen. Seit August 2020 ist Dapagliflozin deshalb auch bei Personen ohne Diabetes für die ergänzende Behandlung der Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion (linksventrikuläre Ejektionsfraktion [LVEF] ≤40%) und bei chronischer Niereninsuffizienz zur Senkung des Progressionsrisikos zugelassen. Daneben könnten auch Menschen mit T1DM unter bestimmten Voraussetzungen von einer Add-on-SGLT-2i-Therapie profitieren. Die Therapie mit Dapagliflozin führte zu einer durchschnittlichen HbA1c-Senkung um 0,4%, reduzierte Glukoseschwankungen, Insulinbedarf und Gewicht, ohne das Hypoglykämierisiko zu erhöhen. Add-on-Dapagliflozin war entsprechend bis vor kurzem seitens der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) unter bestimmten Voraussetzungen auch für Menschen mit T1DM zugelassen, in der Schweiz bestand diesbezüglich bisher keine Zulassung. Allerdings wurde die europäische Zulassung nun zu Ende Oktober aufgehoben, da die zuständige Firma und die EMA gemeinsam die Risiken für ­Ketoazidosen als zu gross erachten.
Als weiterer Eckpfeiler der modernen Diabetestherapie hat sich das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM) etabliert. Wir unterscheiden zwischen CGM-Systemen, die kontinuierlich Messwerte an ein Empfängergerät senden, und «Flash Glucose Monitoring» (FGM)-Systemen, bei denen die Glukosewerte mit einem Lesegerät aktiv abgerufen werden müssen. Die Glukosemessung erfolgt dabei im subkutanen Fettgewebe mittels eines fadenförmigen und enzymbeschichteten Sensors. Im Vergleich zu den herkömmlichen kapillären Blut­zuckermessungen liefern CGM-/FGM-Systeme einen ­dynamischen Glukoseverlauf, was den Betroffenen ­erlaubt, Glukoseabweichungen zu antizipieren und therapeutisch zu intervenieren. In der klinischen Praxis zeigt sich, dass Betroffene durch die Anwendung dieser Systeme selbstbewusster und motivierter in Bezug auf das Diabetesmanagement sind. Zudem ermöglichen CGM-/FGM-Systeme den Behandlungsteams, die Diabeteseinstellung ganzheitlicher zu erfassen und die Therapie präziser und situativer anzupassen. Für CGM-/FGM-Systeme konnte in diversen Studien eine Verbesserung der glykämischen Kontrolle mit ­Reduktion von Hypoglykämien gezeigt werden.
In der Behandlung des Typ-1-Diabetes stellen Insulinpumpen mittlerweile die Therapie der ersten Wahl dar. Die Kopplung von Insulinpumpen mit CGM-Systemen unter Zwischenschaltung von Kontrollalgorithmen führte zur Entwicklung sogenannter «Closed-Loop»-Systeme (Abb. 1), die die Insulintherapie in der letzten Dekade revolutioniert haben. Diese geschlossenen ­Regelkreise ermöglichen eine automatisierte und bedarfsgerechte Insulinabgabe mit dem Ziel, die Glukosekontrolle zu verbessern und Betroffene hinsichtlich des Therapieaufwands zu entlasten. Dabei wird ­zwischen «Fully Closed-Loop»-Systemen (FCL), die autonom funktionieren, und «Hybrid Closed-Loop»-Systemen (HCL), die einen Input des Nutzers wie Mahlzeitenankündigungen benötigen, unterschieden. Aktuell ist kein FCL-System in der Schweiz zugelassen, es gibt jedoch robuste Evidenz, dass diese Systeme im stationären Setting [1], bei (par)enteraler Ernährung [2] oder bei Dialysepatienten [3] die Glukosekontrolle signifikant verbessern. Hingegen sind seit wenigen Jahren verschiedene HCL-Systeme kommerziell erhältlich und werden mit grossem Erfolg primär bei T1DM eingesetzt.
Abbildung 1: Schematische Darstellung eines Closed-Loop-Systems.

Beurteilung und Zusammenfassung

Zu den wichtigsten Entwicklungen in den letzten 20 Jahren Diabetestherapie zählen die neuen ­In­sulinanaloga mit optimierter Pharmakokinetik, die Nicht-Insulin-Antidiabetika mit zusätzlichen ­po­sitiven Effekten auf assoziierte Komorbiditäten, das kon­tinuierliche Glukosemonitoring und die «Hybrid»-/«Closed-Loop»-Systeme mit adaptiver Insulinabgabe. Für Menschen mit Diabetes führen diese Fortschritte insbesondere zu mehr Autonomie und Empowerment, und zwar auf vielfältige Weise und in allen Lebens­abschnitten. Trotz all dieser Entwicklungen sind ­Lifestyle-Massnahmen wie Bewegungsförderung und ­Ernährungsoptimierung weiterhin ein zentraler Bestandteil der Diabetestherapie und sollten neben der Fülle an neuen therapeutischen Möglichkeiten im ­Patientengespräch nie zu kurz kommen.

Blick in die Zukunft

Vielversprechend ist die Entwicklung von noch länger wirksamen Insulinanaloga, beispielsweise in Form von einmal wöchentlich appliziertem Basisinsulin [4]. Im Bereich der Nicht-Insulin-Antidiabetika wird die Kombination aus den Darmhormonen GLP-1 und GIP mit potenten Effekten auf Glukosekontrolle und Gewichtsreduktion untersucht [5]. Neben den medikamentösen und technologischen Entwicklungen wird auch die Forschung im Bereich der Inselzelltransplantation ­weiter betrieben, zum Beispiel mit enkapsulierten ­Inselzellen. «Closed-Loop»-Systeme werden zunehmend nutzerfreundlich und durch präzisere CGM-Sensoren, noch schneller wirksame Insulinanaloga, Zugabe von Hormonen wie Glukagon oder Amylinanaloga («multiple-hormone artificial pancreas») oder Integration von Bewegungs- und Ernährungsdaten nochmals verbessert. Bei der integrativen Datenanalyse profitieren wir bereits jetzt von Methoden der künstlichen ­Intelligenz (KI). Mit neuen Technologien werden zunehmend grössere Datenmengen generiert, in denen KI-Methoden komplexe Muster erkennen und als sogenannte «Decision-Support»-Systeme Betroffene und ihre Behandlungsteams unterstützen können. Zudem ermöglicht es die Digitalisierung, telemedizinische Applikationen zu entwickeln, die den Betroffenen ­basierend auf den gewonnenen Daten unmittelbar Therapieempfehlungen ausgeben können. Auch wenn bezüglich KI und Digitalisierung zunächst gewisse regulatorische und datenschutzrechtliche Fragen beantwortet werden müssen, eröffnen sich dabei enorme Chancen und Möglichkeiten zum Nutzen und Wohle der Patientinnen und Patienten mit Diabetes.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med.
Markus ­Laimer
Universitätsklinik für ­Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Metabolismus
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 15
CH-3010 Bern
markus.laimer[at]insel.ch
1 Bally L, Thabit H, Hartnell S, Andereggen E, Ruan Y, Wilinska ME, et al. Closed-loop insulin delivery for glycemic control in noncritical care. N Engl J Med. 2018;379(6):547–56.
2 Boughton CK, Bally L, Martignoni F, Hartnell S, Herzig D, Vogt A, et al. Fully closed-loop insulin delivery in inpatients receiving nutritional support: a two-centre, open-label, randomised controlled trial. Lancet Diabetes Endocrinol. 2019;7(5):368–77.
3 Boughton CK, Tripyla A, Hartnell S, Daly A, Herzig D, Wilinska ME, et al. Fully automated closed-loop glucose control compared with standard insulin therapy in adults with type 2 diabetes requiring dialysis: an open-label, randomized crossover trial. Nat Med. 2021;27(8):1471–6.
4 Rosenstock J, Bajaj HS, Janež A, Silver R, Begtrup K, Hansen MV, et al. Once-weekly insulin for type 2 diabetes without previous insulin treatment. N Engl J Med. 2020;383(22):2107–16.
5 Frías JP, Davies MJ, Rosenstock J, Pérez Manghi FC, Fernández Landó L, Bergman BK, et al. Tirzepatide versus Semaglutide once weekly in patients with type 2 diabetes. N Engl J Med. 2021;385(6):503–15.