Die periphere arterielle Verschlusskrankheit neu beleuchtet
Jubiläumsschlaglicht: Angiologie

Die periphere arterielle Verschlusskrankheit neu beleuchtet

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/1112
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08977
Swiss Med Forum. 2022;22(1112):186-187

Affiliations
Universitätsklinik für Angiologie, Medizinbereich Herz-Gefäss, Universitätsspital Bern, Bern

Publiziert am 15.03.2022

Moderne Sequenziertechniken, genetische Assoziationsstudien und eine leistungsstarke Bioinformatik ebnen den Weg für individualisierte Behandlungskonzepte.

Hintergrund

Die steigende Inzidenz der arteriosklerotischen peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (PAVK) der ­unteren Extremitäten stellt eine Belastung für Gesundheitssysteme weltweit dar und erfordert neue Strategien zur Eindämmung des Krankheitsverlaufs [1]. Arteriosklerose entsteht durch das Zusammenspiel von Umwelt- und Lebensstilfaktoren sowie von hunderten bis tausenden von Einzelnukleotidpolymorphismen (SNPs). Einzeln betrachtet haben SNPs eine relativ ­geringe krankheitsverursachender Wirkung. Im Zusammenspiel verursachen sie Unterschiede zwischen verschiedenen Phänotypen der Arteriosklerose.
Arteriosklerose weist per se ein erhebliches Mass an Heterogenität auf. So steht die Erkrankung bei Menschen mit Anfälligkeit für Arteriosklerose in peripheren Arterien nicht immer im klaren Verhältnis zur ­Risikofaktorbelastung, und bei einigen Betroffenen zeigt die PAVK trotz bester evidenzbasierter Behandlung eine rasche Krankheitsprogredienz. Im Vergleich zu Patientinnen und Patienten mit koronarer Arteriosklerose haben diejenigen mit einer PAVK, statistisch adjustiert, ein höheres Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko sowie ein teilweise abweichendes Ansprechen auf sekundärpräventive Medikamente [2, 3]. Eine Konsequenz der Heterogenität ist die Verdünnung des durchschnittlichen therapeutischen Effekts in Studien, in denen an einer PAVK Leidende nur als Subgruppe eingeschlossen wurden.
Eine wegweisende Erkenntnis der letzten Jahre war die Identifizierung genetischer Signale, die neben den mechanistischen Symmetrien Unterschiede zwischen der PAVK und anderen Gefässterritorien hervorhob. Die Arteriosklerose ist eine hochkomplexe Erkrankung, an der viele hunderte bis tausende von SNPs beteiligt sind. Das Verständnis des genetischen Beitrags von SNPs zum Risiko arteriosklerotischer Gefässerkrankungen wird durch genomweite Assoziationsstudien (GWAS) vorangetrieben. Durch den Vergleich der Allelhäufigkeit natürlich vorkommender Varianten (d.h. SNPs) – bei Personen mit und ohne eine bestimmte Krankheit – wurde eine zunehmende Anzahl von genetischen Risikoloci für multifaktorielle Erkrankungen wie Bluthochdruck identifiziert und unser Wissen über vererbte Varianten, die zu einer unterschiedlichen Ausprägung klinischer Phänotypen wie die einer koronaren oder peripheren Arteriosklerose führen, stark verbessert.

Gene bestimmen Ausprägung der ­peripheren arteriellen Verschlusskrankheit

Das Verständnis des gesamten Spektrums der phänotypischen Konsequenzen einer bestimmten DNA-­Sequenzvariante kann helfen den Mechanismus zu identifizieren, durch den eine Variante oder ein Gen zu einer Krankheit führt, und eine gezielte medikamentöse Beeinflussung zu etablieren. Das «Million Veteran Program» (MVP), eine 2011 eingerichtete Datenbank von Phänotyp- und Genomdaten von «Veterans Affairs Healthcare System», wurde unter anderem dazu verwendet, genetische PAVK-Varianten (nach untersuchtem Phänotyp) zu identifizieren [4]. Die MVP-Kohorte umfasst eine multiethnische Bevölkerung und Klarin et al. [4] haben den MVP-Datensatz verwendet, um etwa 32 Millionen DNA-Sequenzvarianten (31 307 PAVK-Fälle und 211 753 Kontrollen) bei Veteranen europäischer, afrikanischer und hispanischer Abstammung zu analysieren. Die Ergebnisse wurden in einer unab­hängigen Stichprobe von 5117 PAVK-Fällen und 389 291 Kontrollen der UK-Biobank repliziert. Es konnten 19 gene­tische PAVK-Loci identifiziert werden. Elf der PAVK-Risikovarianten wiesen eine signifikante Assoziation mit allen Arteriosklerose-Phänotypologien (koronar, zerebral, peripher) auf, die auf gemeinsame ­Mechanismen der Erkrankungsentstehung hinweisen, darunter Lipidstoffwechsel (LDLR, LPA, LPL, SORT1), ­Hypertonie (PTPN11) und Diabetes (TCF7L2). Umgekehrt waren vier genetische Varianten in den Genloci RP11-359M6.3, HLA-B, CHRNA3 (neuronaler Nikotin-Acetylcholin-Rezeptor / Nikotinabhängigkeit) und F5 p.R506Q (Faktor-V-Leiden, Thrombose) eindeutig mit PAVK-­assoziiert. Der Effekt der genetischen F5 p.R506Q-Variante stieg mit zunehmendem Schweregrad der PAVK, wobei Träger ein um 62% erhöhtes Risiko hatten, einer Amputation unterzogen zu werden (OR [Odds Ratio] = 1,62; 95%-Konfidenzintervall [95%-CI]: 1,16–2,26; p = 0,005). Neuere Erkenntnisse haben auch Tabakkonsum mit einem erhöhten Risiko für thrombotische ­Folgeerscheinungen in Verbindung gebracht. Eine ­Assoziation, die durch GWAS unterstützt wird und eine synergistische Wechselwirkung zwischen Rauchen und F5 p.R506Q-Trägerstatus nahelegen. Das Vorhandensein der F5 p.R506Q-Variante bei aktuellen Rauchern hatte einen grösseren Einfluss auf eine PAVK (OR = 1,40; 95%-CI: 1,25–1,58; p = 1,3 × 10–8) als bei ehemaligen Rauchern oder Nichtrauchern (OR = 1,16; 95%-CI: 1,09–1,24; p = 1,5 × 10–5). Die Ergebnisse der MVP-Kohortenstudie unterstreichen aber auch den Einsatz von ­lipid-, blutdruck- und blutzuckersenkenden Therapien über alle Gefässterritorien hinweg und liefern die ­genetische Begründung für die gezielte Behandlung der Gerinnungskaskade bei PAVK, wie in der VOYAGER-Studie gezeigt wurde [3].

Minimierung der Risikofaktoren steht im Zentrum der PAVK-Behandlung

Der Aufbau grosser Kohorten an Gewebe- und Blut­proben aus Biobanken, ergänzt durch Hochdurchsatz-Omics-Plattformen und Fortschritte in der Bio­informatik, bietet verbesserte Möglichkeiten zur Entwicklung individualisierter Behandlungskonzepte und zeigt eine neue Perspektive für eine Versorgung von Patientinnen und Patienten mit PAVK.
Die MVP-GWAS-Analyse liefert genetische Beweise dafür, dass die Behandlung arteriosklerotischer Risikofaktoren die Basis der PAVK-Behandlung sein muss. Die Arbeit zeigt neben mechanistischen Symmetrien auch Unterschiede zwischen der koronaren, zerebralen und peripheren arteriosklerotischen Gefässerkrankung auf. Die Identifizierung von vier genetischen Signalen, die für die PAVK spezifisch sind, unterstützen den ­Ansatz, dass die Gerinnungskaskade als therapeutische Strategie für die PAVK spezifischer ist als für andere ­Arteriosklerose-Manifestationen. Die Ergebnisse der YOVAGER- und der COMPASS-Studie stimmen mit den genetischen Ergebnissen überein, dass die direkte Faktor-Xa-Hemmung etwas für PAVK-Betroffene Spezifisches haben könnte [3].

Bioinformatik ermöglicht individuelle Therapiekonzepte

Die Entschlüsselung der genetischen Architektur von Gefässerkrankungen ist von grundlegender Bedeutung im Bemühen, neue Ziele für therapeutische Interventionen festzulegen sowie Risikomarker zu iden­tifizieren. Genetische Assoziationsstudien haben genomische Loci identifiziert, die mit einem erhöhten PAVK-Risiko assoziiert sind und die die PAVK möglicherweise spezifischer vorantreiben als Arteriosklerose in anderen Gefässterritorien. Hochdurchsatz-Omics-Plattformen und die stärkere Einbindung der Bioinformatik können zur Entwicklung neuer Medikamente und zur Identifikation von Arzneimitteltoxizität, Krankheitsvariabilität von einem Individuum zum anderen oder Gen-Umwelt-Interaktionen bei PAVK ­verwendet werden [5]. Es müssen effizientere Frühphasenstudien folgen, die sich auf biologisch relevante Endpunkte bei PAVK-Betroffenen konzentrieren. Dabei könnten Stents, bioresorbierbare Gerüste oder die ­topische Abgabe von Substanzen zur Heilung bei ischämischen Geschwüren zur Anwendung kommen. Während der Einsatz generell wirksamer Therapien für alle arteriosklerotischen Gefässerkrankte ein wichtiges Ziel bleibt, kann die Erprobung neuer Behandlungen bei ­Betroffenen, bei denen die Therapie biologisch sinnvoll ist, dazu beitragen, den Umfang der Studien zu reduzieren und negative Auswirkungen zu vermeiden.
Die Autorin hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Iris ­Baumgartner
Universitätsklinik für ­Angiologie
Universitätsspital Bern
Freiburgstrasse 18
CH-3010 Bern
iris.baumgartner[at]insel.ch
1 Agnelli G, Belch JJF, Baumgartner I, Giovas P, Hoffmann U. Morbidity and mortality associated with atherosclerotic peripheral artery disease: A systematic review. Atherosclerosis. 2020;293:94–100.
2 Hiatt WR, Fowkes FG, Heizer G, Berger JS, Baumgartner I, Held P, et al. Ticagrelor versus clopidogrel in symptomatic peripheral artery Disease. N Engl J Med. 2017;376(1):32–40.
3 Bonaca MP, Bauersachs RM, Anand SS, Debus ES, Nehler MR, Patel MR, et al. Rivaroxaban in peripheral artery disease after revascularization. N Engl J Med. 2020;382(21):1994–2004.
4 Klarin D, Lynch J, Aragam K, Chaffin M, Assimes TL, Huang J, et al. Genome-wide association study of peripheral artery disease in the Million Veteran Program. Nat Med. 2019;25(8):1274–9.
5 Alsaigh T, Di Bartolo BA, Mulangala J, Figtree GA, Leeper NJ. Bench-to-bedside in vascular medicine: optimizing the translational pipeline for patients with peripheral artery disease. Circ Res. 2021;128(12):1927–43.