Das De-Winter-EKG-Muster
Ein Infarkt, den man nicht übersehen darf

Das De-Winter-EKG-Muster

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08978
Swiss Med Forum. 2022;22(2728):456-458

Affiliations
a Service des Urgences, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne; b Service des Urgences, Hôpital Riviera-Chablais, Rennaz; c Service de Cardiologie, CHUV, Lausanne

Publiziert am 05.07.2022

Ein 58-jähriger Mann ohne bekannte kardiovaskuläre Risikofaktoren sucht die Notfallstation aufgrund einer erstmaligen Episode drückender Brustschmerzen auf, die zuvor während des Joggens aufgetreten sind und in Ruhe nicht abklingen.

Hintergrund

Bei einem Myokardinfarkt spielt das Elektrokardiogramm (EKG) eine zentrale Rolle, um einen akuten Verschluss der Herzkranzgefässe erkennen und über eine Notfall-Reperfusionstherapie entscheiden zu können. Die Kriterien für die Diagnose eines ST-Hebungs­infarkts («ST-elevation myocardial infarction» [STEMI]) sind in den Leitlinien festgelegt (Tab. 1) [1], auch wenn diese Kriterien als alleinige Marker eines Koronarverschlusses infrage gestellt werden [2].
In der Tat existieren besonders in der Frühphase des akuten Koronarverschlusses spezifische EKG-Veränderungen, die nicht die STEMI-Kriterien erfüllen [3, 4]. Ein Beispiel ist die hyperakute T-Welle, die man als Anstieg der T-Wellen-Amplitude definiert, im Allgemeinen in den anterioren Ableitungen und oftmals assoziiert mit spiegelbildlichen ST-Strecken-Senkungen inferior [5]. Sie sind vorübergehend in den ersten 30 Minuten nach einem Koronarverschluss zu beobachten. Der Anstieg der T-Wellen-Amplitude ist nicht absolut definiert, sondern relativ zum Ausmass der T-Welle eines früheren EKGs oder zur Höhe des QRS-Komplexes. Eine hyper­akute T-Welle weist also auf eine subendokardiale Myokardischämie ohne Nekrose hin, die einem STEMI vorausgehen kann [6].
Hyperakute T-Wellen sind auch Teil des De-Winter-Musters, das 2008 erstmals beschrieben wurde. Dabei gehen sie mit einer J-Punkt-Senkung um 1–3 mm und einer aszendierenden ST-Strecke in den präkordialen Ableitungen V1–V6 einher, ohne ST-Hebung ausser in der aVR-Ableitung (1–2 mm) (Tab. 1) [7]. Die Analyse des QRS-Komplexes zeigt zudem bisweilen einen Verlust der R-Progression in den präkordialen Ableitungen. Die gestörte Ausbreitung von De- und Repolarisation im Zusammenhang mit der Ischämie führen so zu einer Unausgewogenheit der QRS-Amplitude, deren Fläche unter der Kurve im Verhältnis zu den hyperakuten T-Wellen verringert ist. Dieses Muster ist bei 2% der Vorderwandinfarkte festzustellen und weist in der Mehrheit der Fälle auf einen akuten Verschluss des Ramus interventricularis anterior (RIVA) hin [7–9].
Tabelle 1: EKG-Kriterien eines STEMI («ST-elevation myocardial infarction») und des De-Winter-Musters mit ihrer Häufigkeit.
EKG-Kriterien eines STEMI gemäss den europäischen Empfehlungen [1]Neue ST-Hebung in ≥2 zusammenhängenden Ableitungen (anteriore Ableitungen: V1–V6, inferiore Ableitungen II, III, AVF oder lateral/apikal: I, aVL):
– ≥2 mm (≥0,2 mV, Männer ≥40 ans) oder ≥2,5 mm (≥0,25 mV, Männer <40 ans) oder ≥15 mm (≥0,15 mV, Frauen) in den Ableitungen V2–V3 und/oder
– ≥1 mm (≥0,1 mV) in den anderen Ableitungen (bei Abwesenheit einer linksventrikulären Hypertrophie oder eines Linksschenkelblocks)
oder neuer (vermuteter) Linksschenkelblock
oder ST-Senkung ≥0,5 mm (0,05 mV) in den Ableitungen V1–V3 (inferobasaler = posteriorer Infarkt)
EKG-Kriterien des De-Winter-­Musters [7]– Aszendierende Senkung (1–3 mm) der ST-Strecke ab dem J-Punkt in V1–V6
– Hohe, positive und symmetrische T-Wellen in V1–V6
– Keine ST-Hebung, ausser in aVR (1–2 mm)
De-Winter-Muster: 2% der anterioren Infarkte
Häufigkeit der STEMI je nach Lokalisierung [16]Anteriore STEMI (V1–V6): 32,8%
Inferiore STEMI (II, III, AVF): 37,2%
Laterale/apikale STEMI (I, aVL): 13,2%
STEMI mit multipler Lokalisierung: 16,8%

Fallbericht

Anamnese und Status

Ein 58-jähriger Mann ohne bekannte kardiovaskuläre Risikofaktoren sucht die Notfallstation aufgrund einer erstmaligen Episode drückender Brustschmerzen auf, die 30 Minuten zuvor während des Joggens aufgetreten sind, in den Kiefer und den linken Arm ausstrahlen, in Ruhe nicht abklingen und bei seiner Ankunft persistieren. Weitere Symptome weist der Patient nicht auf.
In hämodynamischer und respiratorischer Hinsicht ist der Patient stabil (arterieller Blutdruck 120/80 mm Hg, Herzfrequenz 70/min, Sauerstoffsättigung bei Raumluft 97%), es liegen weder ein Hinweis auf Rechts- oder Linksherzinsuffizienz noch Fieber vor.

Befunde, Diagnostik, Therapie

Das Eintritts-EKG (Abb. 1) zeigt einen regelmässigen Sinusrhythmus, eine J-Punkt-Senkung in den Ableitungen V3–V6 mit hyperakuten T-Wellen in V2–V4, was auf ein De-Winter-Muster hindeutet.
Abbildung 1: Das Eintritts-EKG des Patienten zeigt hyperakute T-Wellen (rote Pfeile), eine J-Punkt-Senkung (schwarze Pfeile) und eine isolierte Hebung des J-Punkts in der aVR-Ableitung (blauer Pfeil), was dem De-Winter-Muster entspricht.
Eine Notfall-Koronarangiographie ergibt einen Myokardinfarkt infolge des akuten thrombotischen Verschlusses des mittleren RIVA-Segmentes und des Ramus diagonalis I (Abb. 2), der durch Angioplastie mit Implantation des aktiven Orsiro-Stents (3,0 × 35 mm, Biotronik, Bülach, Schweiz) in das proximale und mittlere RIVA-Segment sowie eine Ballondilatation des Ramus diagonalis I behandelt wird.
Abbildung 2: Koronarangiographie-Bilder. A) Kraniale Ansicht während der Rekanalisation des proximalen Segmentes des Ramus interventricularis anterior (RIVA – roter Pfeil) mit Führungsdraht in einem Diagonalast (weisser Pfeil); erkennbar ist die teilweise Rekanalisation der Bifurkation RIVA/ Diagonalast. B) Endergebnis in derselben Ansicht nach Angioplastie und Implantation eines Stents in den RIVA.

Verlauf

Der Patient wird darauf zwecks Rhythmusüberwachung hospitalisiert. Der Höchstwert der Kreatin­kinase (CK) beträgt 1900 U/l und jener des hochsensitiven Troponins 5900 ng/l. Zwei Tage später zeigt eine transthorakale Echokardiographie eine moderate Dysfunktion mit einer linksventrikulären Ejektionsfraktion von 48%, einer apikalen Akinesie und einer mittelschweren anterioren Hypokinesie.
Der Verlauf ist komplikationsfrei. Die medikamentöse Behandlung wird fortgesetzt mit Acetylsalicylsäure, Ticagrelor, einem Betablocker und – aufgrund einer Hypercholesterinämie – einem Statin. Der Patient wird nach vier Tagen nach Hause entlassen und beginnt eine ambulante Herz-Kreislauf-Rehabilitation.

Diskussion

Das EKG unseres Patienten, der einen akuten Koronarverschluss aufweist, zeigt nicht die klassischen STEMI-Kriterien, sondern ein De-Winter-Muster. Die notfallmässige Reperfusionsbehandlung von Personen mit diesem EKG-Typ wird allerdings in den Empfehlungen der grossen amerikanischen und europäischen Fachgesellschaften nicht aufgeführt [1, 10].
Das De-Winter-EKG-Muster tritt oftmals bei jüngeren Männern mit Hypercholesterinämie und nur geringen Anzeichen von Herzinsuffizienz auf (Killip I) [11], wie bei unserem Patienten. Es ist meist mit einer Läsion des RIVA oder Ramus diagonalis I assoziiert, mit einem positiven Vorhersagewert zwischen 98,4% (95% CI 91,2–100%) und 100% für einen Koronarverschluss [9]. Allerdings wurden auch Läsionen anderer Koronararterien beschrieben [9, 12]. In den meisten Fällen ist dieses EKG nicht dynamisch [7, 8] und normalisiert sich nach der Reperfusionstherapie. Es wurden aber auch mehrere Fälle veröffentlicht, in denen sich das EKG zu einem EKG mit den klassischen Kriterien eines anterioren STEMI entwickelt hat [13, 14].
Die elektrophysiologischen Mechanismen, die diesem Muster zugrunde liegen, sind noch nicht vollständig geklärt. Die normale Repolarisation des Myokards verläuft vom Epikard zum Endokard. Bei akutem Koronarverschluss ist das Endokard anfälliger für Ischämie als das Epikard. Die verlängerte Repolarisation des Epikards führt dann zu einer Zunahme des Repolarisationsvektors, der seine Richtung nicht ändert, was sich im EKG in einem Anstieg der T-Wellen-Amplitude äussert [6].
Wie lässt sich das Fehlen einer ST-Hebung trotz des – bisweilen vollständigen – Verschlusses des RIVA erklären? Eine Hypothese lautet, dass die grosse Ischämiezone keinen pathologischen Strom in Richtung der präkordialen Ableitungen erzeugt, sondern nur in Richtung der aVR-Ableitung [8]. Ebenfalls möglich sind eine anatomische Variation der Purkinje-Fasern mit verzögerter Erregungsleitung im Endokard (dadurch wäre das Fehlen der ST-Hebung erklärbar), eine mangelnde Aktivierung der Adenosintriphosphat-(ATP-)abhängigen Kaliumkanäle bei Ischämie sowie das Vorliegen eines Kollateralnetzes [7, 8].
Möglicherweise liegt das De-Winter-Muster auf einem Kontinuum von Myokardinfarkt-EKGs zwischen sub­endokardialer Ischämie und dem mit ST-Hebung assoziierten transmuralen Infarkt [14].
Die Analyse des EKGs unseres Patienten zeigt ausserdem das Fehlen spiegelbildlicher Veränderungen in den inferioren Ableitungen. Dies ist bei rund 30% der Myokardinfarkte durch RIVA-Verschluss zu beobachten [15]. Das Fehlen spiegelbildlicher ST-Strecken-Senkungen schliesst also einen akuten Koronarverschluss nicht aus.

Das Wichtigste für die Praxis

• Das De-Winter-EKG-Muster sowie isolierte hyperakute T-Wellen müssen als Zeichen eines akuten Koronarverschlusses angesehen und im Falle von Brustschmerzen, die auf ein akutes Koronarsyndrom hindeuten, erkannt werden.
• Auch wenn das Muster in den STEMI-Leitlinien bisher nicht als offizielles Kriterium für eine sofortige Koronarangiographie gilt, sollte die Initial­behandlung dieselbe wie bei STEMI sein und eine interventionelle Kardiologin respektive ein interventioneller Kardiologe zwecks einer dringende Koronarangiographie kontaktiert werden.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Perrine Truong
Service des Urgences
Centre Hospitalier ­Universitaire Vaudois
Rue du Bugnon 46
CH-1011 Lausanne
Perrine.Truong[at]chuv.ch
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