Was reizt hier den Darm?
Seltene Ursache von Bauschmerzen

Was reizt hier den Darm?

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08983
Swiss Med Forum. 2022;22(3334):546-548

Affiliations
a Pilatus Praxis, Luzern; b Pathologie, Luzerner Kantonsspital, Luzern

Publiziert am 16.08.2022

Ein 29-jähriger Mann stellte sich mit seit etwa drei Monaten bestehenden abdominellen Beschwerden in der Hausarztpraxis vor.

Hintergrund

Der «Bauchschmerz» gehört zu den häufigsten Beratungsanlässen in der Hausarztpraxis. Harmlose, selbstlimitierende Beschwerden mit geringer Symptomausprägung gehören ebenso zum Spektrum wie Beschwerden, deren Ursachen potentiell lebensbedrohlich sind. Die Gratwanderung, abwendbar gefährliche Verläufe zu erkennen und Überdiagnostik bei einem unselektionierten Patientenkollektiv im Niedrigprävalenzbereich zu vermeiden, ist eine der grössten Herausforderungen in der Primärversorgung. Im vorliegenden Fall wird von einer seltenen Ursache für Bauchschmerzen in einer hausärztlichen Praxis berichtet.

Fallbericht

Anamnese

Wir berichten von einem 29-jährigen Mann, der sich mit seit etwa drei Monaten bestehenden abdominellen Beschwerden in der Hausarztpraxis vorstellte. Er berichtete von einer Zunahme der Stuhlfrequenz (3–4/d), wechselnder Stuhlkonsistenz (Diarrhoe und Obstipation) bei subjektiv unauffälliger, bräunlicher Stuhlfarbe sowie abdominellen, kolikartigen Schmerzen und Blähgefühl. Die Symptome träten unabhängig von der Nahrungsaufnahme auf. Anamnestisch ergaben sich keine «Red Flags» oder systemische Symptome. Zudem bestand keine regelmässige Medikam
enteneinnahme oder eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten. Auslandsreisen wurden verneint. Die Familienanamnese hinsichtlich gastrointestinaler Erkrankungen war negativ.
Etwa 14 Tage vor Beginn der Symptomatik war bei eitrigem, urethralem Ausfluss eine präemptive Therapie mittels Einmalgabe von Ceftriaxon und Azithromycin erfolgt. Im urethralen Abstrich des in einer homosexuellen Beziehung lebenden Mannes hatte Chlamydia trachomatis nachgewiesen werden können.

Status, Befunde und Diagnose

Die körperliche Untersuchung zeigte einen unauffälligen Befund. Der junge Mann präsentierte sich in ­einem guten Allgemein- und Ernährungszustand. Der abdominelle Auskultations- und Palpationsbefund sowie die Inspektion von Haut und Schleimhaut waren ebenso blande wie die digital-rektale Untersuchung. Eine Lymphadenopathie als möglicher Hinweis für eine «sexually transmitted infection» (STI) war nicht nachweisbar.
Im Differentialblutbild zeigten sich keine Auffälligkeiten. Die serologische Abklärung einer allfälligen Zöliakie zeigte negative Autoantikörper gegen die Gewebstransglutaminase. Die stuhlbakteriologischen Untersuchungen auf Campylobacter, Salmonella, Shigella und Yersinia enterocolitica waren negativ. Clostridioides-Toxin und ­Parasiten konnten ebenfalls nicht nachgewiesen werden. Das Calprotectin im Stuhl war nicht erhöht und ein kürzlich durchgeführter Test auf das humane Immundefizienz-Virus (HIV) negativ.
Aufgrund der beeinträchtigenden Symptome und des subakuten Beginns der Beschwerden entschied sich der Patient nach eingehender Beratung, eine Koloskopie durchführen zu lassen. Im immunhistochemischen Befund der koloskopischen Stufenbiopsien konnten Spirochäten nachgewiesen werden, passend zu einer intestinalen Spirochätose (Abb. 1A und 1B).
Abbildung 1: Koloskopisch entnommene Stufenbiopsien des Patienten; 400-fache Vergrösserung der Hämatoxylin-Eosin-(HE-)Färbung (A); 400-fache Vergrösserung der immunhistochemischen Färbung (B). Es zeigt sich histomorphologisch in der ­HE-Färbung ein basophiler Saum (A; Pfeile) an der luminalen Zellmembran der Dickdarmepithelzellen. Immunhistochemisch können Spirochäten (B; Pfeile), passend zu einer intestinalen Spirochätose, nachgewiesen werden. Weitere Veränderungen wie eine Entzündung oder eine Architekturstörung des Epithels finden sich nicht.

Therapie

Wir führten eine Therapie mit Metronidazol 500 mg viermal täglich über zehn Tage durch. Etwa eine Woche nach Abschluss der Antibiotikatherapie sistierten die Beschwerden gänzlich und traten laut Patienten auch in der Folge nicht mehr auf.

Diskussion

Bei der intestinalen Spirochätose handelt es sich um eine histopathologische Diagnose, wobei das Vorhandensein von Spirochäten in der Oberfläche der Kolonschleimhaut beweisend ist. Spirochäten werden in drei Gruppen eingeteilt: Die Spirochaetaceae, zu denen Borrelia und Treponema gehören, die Leptospiraceae, mit der Familie der Leptospira, und die Brachyspiraceae. Ursächlich für die intestinale Spirochätose ist die letztgenannte Familie mit den Gattungen Brachyspira aalborgi oder Brachyspira pilosicoli.
Bei Brachyspira aalborgi und pilosicoli handelt es sich um obligat anaerobe, in der Kultivierung anspruchsvolle Schraubenbakterien (Spirochäten), die im Darmtrakt von Säugetieren und Vögeln vorkommen.
Stuhluntersuchungen verschiedener Populationen zeigten eine höhere Prävalenz von Brachyspira in ökonomisch weniger entwickelten Ländern, was einen ­Zusammenhang der Prävalenz mit geringeren hygienischen Standards, geringerer Wasserqualität, Koinfektionen sowie Mangelernährung nahelegt. Hauptübertragungsweg ist der fäkal-orale. Biopsieresultate zeigten, dass die Prävalenz unter homosexuellen Männern mit 20–55% höher liegt als in der Normalbevölkerung (2,5–3%), weshalb auch ein sexueller Übertragungsweg diskutiert wird [1]. An HIV Erkrankte haben ebenso wie Männer, die mit Männern Sex haben (MSM), ein erhöhtes Risiko, kolonisiert zu sein und unter Symptomen zu leiden.
Die humanpathogene Bedeutung der intestinalen Spirochäten wird in der Literatur kontrovers diskutiert, da auch in Biopsieresultaten asymptomatischer Personen, beispielsweise in Vorsorgekoloskopien, Spirochäten nachgewiesen werden [2]. Es existieren Fallbeschreibungen von Personen mit Spirochätennachweis und beeinträchtigenden, intestinalen Symptomen wie abdominellen Schmerzen, Diarrhoe oder rektalen Blutungen sowie einer Besserung auf eine antibiotische Therapie [1], was den möglichen pathogenen Stellenwert unterstreicht.
Histologisch zeigt sich in der Hämatoxylin-Eosin-(HE-)Färbung an der Oberfläche des Kolonepithels typischerweise ein basophiler Randsaum als Ausdruck der aufsitzenden Spirochäten. Dieser Randsaum kann die einzige Auffälligkeit sein oder mit entzündlichen Veränderungen der Mukosa einhergehen [2]. Körner et al. postulieren, dass die Spirochäten invasive Eigenschaften besitzen, Epithelzellen oder die Lamina propria infiltrieren und dadurch die Architektur der Mikrovilli schädigen können. Infolge der geschädigten Mikrovilli komme es zu einer Reduktion der resorptiven Oberfläche, was die Diarrhoe erkläre [3]. Eine weitere Hypothese besteht darin, dass andere, nicht näher klassifizierte Erreger eine Rolle bei der Pathogenität der Spirochäten spielen [2].
Ob es sich bei der Spirochätose um eine asymptomatische Kolonisation oder einen pathogenen Befall handelt, scheint analog zur Helicobacter-pylori-Infektion von einer Reihe von Umfeld- und Wirtsfaktoren abzuhängen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es kaum klinische Evidenz für eine bestwirksame Antibiotikatherapie bei einer symptomatischen intestinalen Spirochätose. In-vitro-Daten von humanen Brachyspira-(B.-)pilosicoli-Isolaten (Australien, Oman, Italien) zeigten eine hohe Sensibilität auf Antibiotika wie Metronidazol, Meropenem, Ceftriaxon und Tetrazycline und eine Resistenz von etwa 60% gegenüber Ciprofloxacin.
Basierend auf diesen Daten und verschiedenen Fallbeschreibungen wird zur Behandlung der symptomatischen Spirochätose (obwohl nicht notwendigerweise mit B. pilosicoli assoziiert) eine antibiotische Therapie mit Metronidazol empfohlen [5]. Die Dosierungen und die Behandlungsdauer variieren hierbei von 500 mg bis 2 000 mg/d für 10–14 Tage [6]. Bei unserem Patienten konnte nach 10 Tagen mit einer Dosierung von 500 mg 4×/d Symptomfreiheit erreicht werden.
Auch wenn es keinen etablierten Standard zur Behandlung einer symptomatischen intestinalen Spirochätose gibt, sollte bei fehlenden anderen Ursachen für die intestinale Symptomatik eine antibiotische Therapie durchgeführt werden.
Aufgrund der initial unauffälligen Untersuchungsbefunde bei unserem Patienten und der passenden Symptomatik eines möglichen Reizdarmsyndroms (RDS) wäre ein «abwartendes Offenhalten» legitim gewesen. Allerdings lassen sich bei der Diagnose RDS bei etwa 5% der Betroffenen kurz- bis mittelfristig «organische» Erkrankungen finden. In Abhängigkeit von der individuellen Risikokonstellation kann es deshalb sinnvoll sein, eine weiterführende Diagnostik mittels Koloskopie in Erwägung zu ziehen. Bei unserem Patienten weist zumindest die Symptomfreiheit nach Metronidazol darauf hin, dass die diagnostizierte intestinale Spirochätose für die geschilderten Symptome verantwortlich war.

Das Wichtigste für die Praxis

• Spirochäten der Gattung Brachyspira sind potentielle Erreger einer intestinalen Spirochätose. Die klinische Bedeutung des Erregers bleibt kontrovers und reicht vom kommensalen, über den opportunistischen bis hin zum pathogenen Keim.
• Homosexuelle Männer und HIV-positive Personen sind häufiger besiedelt und leiden öfter unter Symptomen.
• Die Behandlung einer symptomatischen Person mit nachgewiesener intestinaler Spirochätose besteht in der Regel aus Metronidazol. Hinsichtlich der Dosierung gibt es keine einheitliche Empfehlung.
• Trotz unauffälliger Basisdiagnostik sollte bei gastrointestinalen Symptomen in Abhängigkeit von der individuellen Konstellation eine weiterführende Diagnostik mittels Koloskopie in Erwägung gezogen werden.
• CAVE: bei etwa 5% der Betroffenen mit der Diagnose eines Reizdarmsyndroms finden sich kurz- bis mittelfristig «organische» Erkrankungen.
Wir bedanken uns herzlich bei Stefan Essig, Sebastian Rupp und Daniel Venetz für die kritische Durchsicht des Manuskripts.
Ein schriftlicher Informed Consent für die Publikation liegt vor.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
1. Mikosza AS, Hampson DJ. Human intestinal spirochetosis: Brachyspira aalborgi and/or Brachyspira pilosicoli? Anim Health Res Rev. 2001;2(1):101–10.
2. Carr NJ, Mahajan H, Tan KL, Sharma R. The histological features of intestinal spirochetosis in a series of 113 patients. Int J Surg Pathol. 2010;18(2):144–8.
3. Körner M, Gebbers JO. Clinical significance of human intestinal spirochetosis a morphologic approach. Infection. 2003;31(5):341–9.
4. Anthony NE, Blackwell J, Ahrens W, Lovell R, Scobey MW. Intestinal spirochetosis: An enigmatic disease. Dig Dis Sci 2013;58(1):202–8.
5. Brooke CJ, Hampson DJ, Riley TV: In vitro antimicrobial susceptibility of Brachyspira pilosicoli isolates from humans. Antimicrob Agents Chemother. 2003:47(7):2354–7.
6. Hampson DJ. The spirochete Brachyspira pilosicoli, enteric pathogen of animals and humans. Clin Microbiol Rev. 2017;31(1): e00087–17.