Intestinale Spirochäten
Relevanter Befund oder bedeutungslos?

Intestinale Spirochäten

Editorial
Ausgabe
2022/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08984
Swiss Med Forum. 2022;22(3334):534-535

Affiliations
a mediX praxis altstetten, Zürich; b Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene, Universitätsspital Zürich, Universität Zürich, Zürich

Publiziert am 16.08.2022

Relevanter Befund oder bedeutungslos?

Im Jahre 1967 beschrieben Harland et al. [1] erstmals eine intestinale Spirochätose in der Rektumbiopsie eines 64-jährigen Mannes mit über drei Jahre persistierender Diarrhoe. Die Spirochäten wurden zunächst lichtmikroskopisch übersehen und erst elektronenmikroskopisch gefunden. Retrospektive wurden die Erreger in der Routinefärbung als bläulicher Saum auf der Oberfläche der Mukosa erkannt. Zudem wurden in der Folge retrospektiv nochmals 100 konsekutive Rektalbiopsien mikroskopiert und dabei die gleichen Befunde bei acht Personen mit monate- bis jahrelang andauernden sowie bei zwei Personen mit akuten gastrointestinalen Beschwerden gefunden. Die Autoren schlossen, dass die Signifikanz ihrer scheinbar häufigen Befunde noch unklar sei.
Im aktuellen Swiss Medical Forum schildern Boch et al. [2] den Verlauf eines 29-jährigen Mannes mit seit drei Monaten bestehenden abdominellen Schmerzen, Blähungsgefühl, einer Zunahme der Stuhlfrequenz und wechselnder Stuhlkonsistenz bei negativen bakteriologischen und parasitologischen Stuhluntersuchungen. Die Koloskopie ergab bioptisch die Diagnose einer intestinalen Spirochätose; nach Therapie mit Metronidazol war der Patient beschwerdefrei.
War die invasive Abklärung des jungen Patienten überhaupt indiziert? Oder wäre ein abwartendes Beobachten mit der Differentialdiagnose eines Reizdarmsyndroms sinnvoller gewesen, nachdem klinisch keine Hinweise auf «Red Flags» bestanden hatten? Boch et al. [2] stellen fest, dass die humanpathogene Bedeutung der intestinalen Spirochäten kontrovers diskutiert wird, da diese zum Teil auch in Biopsien asymptomatischer Personen nachgewiesen werden, andererseits aber Personen mit Spirochätennachweis und intestinaler Symptomatik eine Besserung auf eine antibiotische Therapie zeigen, was den möglichen pathogenen Stellenwert wiederum unterstreicht.
Bei den global verbreiteten intestinalen Spirochäten finden sich beim Menschen zwei Brachyspira-Spezies, bei Tieren diverse weitere Arten.Bei Gesunden wird eine Prävalenz von 0–64,8% beschrieben [3, 4], in gemässigten Klimazonen und urbanisierten Gebieten allerdings von nur 0,2–3,2%, während in Asien oder bei den indigenen Völkern Australiens mit 10,8–64,8% eine höhere Prävalenz beobachtet wurde. Auch bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), ist die Häufigkeit erhöht, beispielsweise liegt sie in Schottland bei 36% der MSM versus 3% bei heterosexuellen Männern.
Brachyspira (B.) pilosicoli kolonisiert das Kolon eines breiten Wirtspektrums. Bei Hühnern und Schweinen verursachen die Erreger eine Kolitis und verlangsamen das Wachstum, was zu ökonomischen Verlusten führt. Beim Menschen wurden abdominale Schmerzen, Diarrhoe oder perirektale Blutungen bei mit B.-pilosicoli infizierten Personen – und bei älteren, chronisch oder kritisch Kranken gar eine Spirochätämie – beschrieben, während bei vielen anderen eine asymptomatische Kolonisation festgestellt wurde [3–5].B. aalborgi wurde bisher nicht mit Erkrankungen beim Menschen assoziiert.
Thorell et al. [6] untersuchten die Kolonisierung mit Brachyspira spp. im Rahmen einer Prävalenzstudie zu endoskopischen Befunden bei 745 zufällig ausgewählten Erwachsenen in Stockholm, um die Ursachen funktioneller gastrointestinaler Beschwerden zu erforschen. Bei 17 Personen (2,3%) fand sich bioptisch eine Spirochätose im Kolon, die mit eosinophilen Infiltraten und einem klinisch 3-fach erhöhten Risiko für die Entwicklung eines Reizdarmsyndroms assoziiert war. Die genomische Charakterisierung zeigte mehrere Gene für Muzin abbauende Enzyme und andere mögliche Virulenzfaktoren.
Die pathogenetischen Mechanismen von B. pilosicoli sind aktuell ungeklärt [3, 4]. In den Brachyspira-positiven Biopsien wurde zumeist keine entzündliche Reaktion beschrieben, während andere Arbeiten [6,7] subepitheliale Cluster von Eosinophilen in Kolonbiopsien mit Spirochäten-Nachweis angaben. Zudem wurde über eine klinische Besserung nach antibiotischer ­Therapie oder nach spontanem Verschwinden der ­Spirochäten berichtet [8]. In einer «N=1»-Selbstinokulationsstudie eines Freiwilligen mit B. pilosicoli kam es zu einer (bioptisch nachgewiesenen) Kolonisierung, zu abdominalem Unwohlgefühl, Meteorismus und Kopfschmerzen; die Infektion und die Beschwerden verschwanden nach Therapie mit Metronidazol [9]. Die Transmission erfolgt wahrscheinlich über den fäkal-oralen Weg via Wasser oder kontaminierte Nahrungsmittel [4]. Zudem weist die Prävalenz bei MSM auf eine mögliche sexuelle Transmission hin [10].
Die Diagnose erfolgt mittels Kolonbiopsie. Die Anaerobier sind zwar kultivierbar, wachsen aber langsam und benötigen selektive Nährmedien, die routinemässig nicht angeboten werden. Die üblichen Primer-Sets für die molekulare Mikrobiom-Analyse sind nicht brauchbar für die Identifizierung von Brachyspira. B. pilosicoli sind empfindlich für Ceftriaxon, Meropenem, Metronidazol, Moxifloxacin, Tetracycline und Amoxicillin-Clavulansäure; resistent sind sie gegenüber Erythromycin und Ciprofloxacin [11], variabel resistent gegenüber Amoxicillin und Clindamycin. Metronidazol (500 – 1 000 mg/d über 10–14 Tage) wird als Therapie der Wahl angesehen, ohne dass dazu kontrollierte Studien vorliegen.
Die Signifikanz der intestinalen Spirochätose ist (noch) nicht geklärt. Aufgrund klinischer Beobachtungen – inklusive Verlaufsbeobachtungen nach Therapie – können die Erreger möglicherweise pathogen sein [3, 4, 8]. Molekulare und epidemiologische Studien haben Virulenzfaktoren identifiziert sowie ein erhöhtes Risiko für ein Reizdarmsyndrom postuliert [6]. Die Kasuistik zeigt zudem, dass bei einer chronischen Diarrhoe ohne klinische, laborchemische oder mikrobiologische Erklärung auch bei jüngeren Personen eine Koloskopie indiziert sein kann. Obwohl die Bedeutung der intestinalen Spirochätose zurzeit unklar ist, ist nach Ausschluss anderer Ursachen von Abdominalbeschwerden eine Therapie indiziert. Demgegenüber ist eine empirische antibiotische Therapie einer Diarrhoe ohne Erregernachweis aufgrund der Schädigung des Mikrobioms sowie der Gefahr der antimikrobiellen Resistenzentwicklung kontraindiziert.
Der Autor hat deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Prof. em. Dr. med
Rainer Weber
Klinik für
Infektionskrankheiten
und Spitalhygiene
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
rainer.weber[at]uzh.ch
1 Harland WA, Lee FD. Intestinal spirochaetosis. Br Med J. 1967;3(5567):718–9.
2 Boch M, Hürlimann S, Studer C. Was reizt hier den Darm? Swiss Med Forum. 2022;22(yy–yy):zzz–z.
3 Norris SJ. Hiding in plain sight: colonic spirochetosis in humans. J Bacteriol. 2019;201(21):e00465–19.
4 Hampson DJ. The Spirochete Brachyspira pilosicoli, enteric pathogen of animals and humans. Clin Microbiol Rev. 2017;31(1):e00087–17.
5 Trott DJ, Jensen NS, Saint Girons I, Oxberry SL, Stanton TB, Lindquist D, Hampson DJ. Identification and characterization of Serpulina pilosicoli isolates recovered from the blood of critically ill patients. J Clin Microbiol. 1997;35(2):482–5.
6 Thorell K, Inganäs L, Backhans A, Agréus L, Öst Å, Walker MM, et al. Isolates from colonic spirochetosis in humans show high genomic divergence and potential pathogenic features but are not detected using standard primers for the human microbiota. J Bacteriol. 2019;201(21):e00272–19.
7 Walker MM, Talley NJ, Inganäs L, Engstrand L, Jones MP, Nyhlin H, et al. Colonic spirochetosis is associated with colonic eosinophilia and irritable bowel syndrome in a general population in Sweden. Hum Pathol. 2015;46(2):277–83.
8 Esteve M, Salas A, Fernández-Bañares F, Lloreta J, Mariné M, Gonzalez CI, et al. Intestinal spirochetosis and chronic watery diarrhea: clinical and histological response to treatment and long-term follow up. J Gastroenterol Hepatol. 2006;21(8):1326–33.
9 Oxberry SL, Trott DJ, Hampson DJ. Serpulina pilosicoli, waterbirds and water: potential sources of infection for humans and other animals. Epidemiol Infect. 1998;121(1):219–25.
10 de Vries HJC, Nori AV, Kiellberg Larsen H, Kreuter A, Padovese V, Pallawela S, et al. 2021 European Guideline on the management of proctitis, proctocolitis and enteritis caused by sexually transmissible pathogens. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2021;35(7):1434–43.
11 Brooke CJ, Hampson DJ, Riley TV. In vitro antimicrobial susceptibility of Brachyspira pilosicoli isolates from humans. Antimicrob Agents Chemother. 2003; 47(7):2354–7.