Noonan-Syndrom
Häufiger als angenommen, häufig zu spät diagnostiziert

Noonan-Syndrom

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08986
Swiss Med Forum. 2022;22(3334):549-551

Affiliations
a Pädiatrisch-Endokrinologisches Zentrum Zürich, Zürich; b Radboudumc, Department of Pediatrics, Nijmegen, the Netherlands; c Canisius-Wilhelmina Ziekenhuis, Nijmegen, the Netherlands

Publiziert am 16.08.2022

Die zeitgerechte Diagnose ist bedeutsam, da eine Verzögerung nicht nur den Leidensweg für Kind und Familie verlängert, sondern auch diagnostisch-therapeutisch relevante Interventionen verzögert.

Hintergrund

Das Noonan-Syndrom ist eine multisystemische genetische Störung mit überwiegend autosomal-dominantem Erbgang und einer geschätzten Inzidenz von 1 auf 1 000 bis 1 auf 2 500 Lebendgeburten [1]. Meist wird das Noonan-Syndrom klinisch durch spezifische Merkmale diagnostiziert, wobei als Hauptmerkmale der Kleinwuchs, das charakteristische Gesicht, angeborene Herzfehler und Entwicklungsverzögerungen unterschiedlichen Grades gelten [1]. Da die klinischen Merkmale jedoch extrem variabel sein können, ist die Diagnosestellung oft erschwert. Für viele Eltern ist es aber wichtig, eine Diagnose zu erhalten, da sie damit auch Antworten auf häufige Fragen bekommen. Und natürlich ist die Diagnosestellung nicht zuletzt für die Betroffenen wichtig, um ihnen die richtige Behandlung zukommen zu lassen.
Wir beschreiben einen aktuellen Fall, bei dem die Diagnosestellung verzögert war. In der Diskussion gehen wir auf die spezifischen Probleme ein, die bei der Diagnosestellung und Betreuung von Menschen mit Noonan-Syndrom zu beachten sind.

Fallbeschreibung

Anamnese

Gian (fiktiver Name) wurde mit normwertiger Geburtslänge und normalem Geburtsgewicht geboren. Postpartal konnte er seine Augen nicht richtig öffnen. Er hatte tief angesetzte und abstehende Ohren. Während des ersten Jahres nahm er kaum an Gewicht zu, was die Eltern beunruhigte. Das Stillen dauerte lange, da er nicht trinken wollte und insgesamt sehr langsam trank. Er war schwerhörig, fing spät zu sprechen an und war auch in der motorischen Entwicklung verzögert. Als er zwei Jahre alt war, erfolgte eine genetische Abklärung, die aber keine Diagnose erbrachte. Von Geburt an wurde er ständig von Ärzten und Psychologen untersucht und hatte verschiedene Therapien (unter anderem Logopädie). Das Essen war immer ein Thema; er hatte wenig Appetit und hatte ein sehr niedriges Gewicht. Als er acht Jahre alt war, wurde die Familie von einer Frau darauf angesprochen, ob ihr Sohn das Noonan-Syndrom haben könnte. Sie gingen daraufhin ­erneut zu einer genetischen Beratung, die die Diagnose des Noonan-Syndroms erbrachte. Die Eltern verstanden nicht, warum keiner zuvor diese Diagnose ­gestellt hatte.

Status

Der 9-jährige Junge zeigte sich mit einer Körpergrösse von 131,9 cm (−1,1 Standardabweichungen [SD]) und einer Sitzhöhe von 69,6 cm (−1,1 SD). Das Gewicht lag bei 22,5 kg (−2,2 SD), der BMI bei 12,9 kg/m2 (−2,3 SD), der Kopfumfang bei 51,5 cm (−1,3 SD). Die Bestimmung der Zielgrösse ergab 180 cm (0,2 SD). Gian hatte ein auffälliges Gesicht mit Ptosis (teils korrigiert), tief angesetzten Ohren mit dicker Helix sowie ein Pectus carinatum und Cubiti valgi. Die Hoden imponierten deszendiert. Die Haut war trocken und der Muskeltonus niedrig.

Befunde und Diagnose

Das Knochenalter wurde mit 7,5 Jahren bestimmt – bei einem chronologischen Alter von 9,4 Jahren. Die Screening-Labortests fielen normal aus. Der «insulin-like growth factor 1» (IGF-1) lag bei 15,6 nmol/l (für chronologisches Alter: −1,4 SD, für Knochenalter: −0,8 SD). Die Gerinnungstests fielen normal aus, das Herz zeigte sich echokardiographisch unauffällig. Es konnte eine De-novo-Mutation im SOS-1-Gen nachgewiesen werden. Somit konnte die Diagnose eines Noonan-Syndroms, verursacht durch eine heterozygote Mutation in SOS-1-Gen, gestellt werden.

Therapie

Gian erhält aktuell Ergotherapie und Psychotherapie zur Verbesserung seines Sozialverhaltens. Sein Wachstum wird derzeit beobachtet.

Verlauf

Nachdem die Diagnose gestellt worden war, konnten die Eltern die Zeichen und das Verhalten von Gian besser verstehen. Die körperlichen Veränderungen und Verhaltensauffälligkeiten bekamen einen Namen, und die Eltern waren erleichtert. Sie mussten nicht mehr um Untersuchungen, Beratungen oder Therapien kämpfen.

Diskussion

Dieser Fall zeigt eindrücklich, dass bis zur korrekten Diagnose viel Zeit vergehen kann. Daher ist es wichtig, die Krankheitshinweise zu erkennen. Pränatal zeigen sich manchmal Ödeme und ein Hydrops (beispielsweise eine erhöhte Nackentransparenz). Postnatal fallen vor allem die Gesichtsdysmorphiezeichen auf (Abb. 1), die im Kindesalter stärker ausgeprägt sind und im Erwachsenenalter subtiler werden. Oft besteht eine hohe und prominente Stirn, ein Hypertelorismus und/oder eine Ptose. In der Kindheit erscheinen die Gesichtszüge oft grob mit einer Verlängerung des Gesichts. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen wirkt das Gesicht oft myopathisch und die Augen sind weniger prominent. Ältere Erwachsene haben prominente Nasolabialfalten, einen hohen vorderen Haaransatz, dicke Augenlider und faltige Haut [1]. Auch Thoraxdeformitäten, periphere Lymphödeme sowie ein Kryptorchismus können auffallen.
Abbildung 1: Junge im Alter von 10 Jahren und 6 Monaten mit typischen Gesichts-Dysmorphiezeichen: Epikanthus, Hypertelorismus, schräg nach unten verlaufenden Lidspalten, Ptosis und tief angesetzten Ohren. Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Zwischen 50% und 70% der Menschen mit Noonan-Syndrom haben einen Kleinwuchs, wobei eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation besteht. Menschen mit einer Mutation in SOS-1-Gen (wie in unserem Fall) können eine relativ normale Körpergrösse erreichen. Es wurde eine mittlere Endgrösse von 157,4–169,8 cm bei Männern und 148,4–153,3 cm bei Frauen beschrieben [2]. Zum Teil lässt sich der Kleinwuchs im Rahmen des Syndroms erklären, auch bestehen oft eine unzureichende Wachstumshormonsekretion und eine Wachstumshormonresistenz [3]. Derzeit gibt es eine begrenzte Anzahl an unkontrollierten prospektiven Studien und eine zunehmende Anzahl an retrospektiven Studien, die Evidenz für die Wirksamkeit der Wachstumshormontherapie beim Noonan-Syndrom liefern.
Angeborene Herzfehler kommen in etwa 66–87% der Fälle des Noonan-Syndroms vor. Die häufigsten kardialen Anomalien sind die Pulmonalklappenstenose, die hypertrophe Kardiomyopathie (HCM), der Vorhofseptumdefekt (ASD) und der Ventrikelseptumdefekt (VSD). Das Elektrokardiogramm (EKG) von Menschen mit Noonan-Syndrom zeigt in der Regel ein typisches Muster mit Linksachsenabweichung [1].
Ernährungsprobleme (schlechtes Saugen, Trinkverweigerung, Erbrechen und Verstopfung) kommen sehr häufig vor. Die Sprachentwicklung ist oft verzögert. Verhaltensprobleme treten gehäuft auf [4].
In Tabelle 1 sind die klinischen Merkmale des Noonan-Syndroms mit ihrer jeweiligen Prävalenz zusammengefasst.
Tabelle 1:Klinische Merkmale des Noonan-Syndroms (adaptiert nach [5–9]).
ZeichenHäufigkeit (%)
Kleinwuchs50–70
Verzögerte Pubertät100
Kryptorchismus70
Typischer Gesichtsausdruck100
Hypertelorismus70–95
Schrägstellung der Lidspalten nach unten40
Epikanthus40
Ptosis55
Tief angesetzte Ohren85
Einschnürung des Halses20–50
Herzfehler40–90
Pulmonale Stenose20–60
Hypertrophe Kardiomyopathie20–30
Vorhofseptumdefekt, ­Ventrikelseptumdefekt5–15
Koarktation der Aorta3–9
Skelettale Deformitäten 
Pectus-sternum-Deformität70–95
Cubitus valgus50
Skoliosebis 30
Hämatologische Anomalien 
Lymphatische Dysplasie20
Koagulopathie30–65
Entwicklungsverzögerung 
Fütterungsprobleme im Säuglingsalter65
Sonderpädagogischer Förderbedarf50
Verhaltensauffälligkeiten50
Epilepsie15
Ophthalmologische Probleme60–95
Schielen50
Refraktionsanomalien60
Andere 
Hautanomalien30–65
Chronische Schmerzen60
Schwerhörigkeit40
Hepato-/Splenomegalie25–50
Die eigentliche Diagnose wird durch einen Gentest gestellt, obwohl in 20% der klinisch diagnostizierten Fälle kein Gendefekt gefunden werden kann. Dieser Prozentsatz hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten deutlich verringert: Nach der Beschreibung des ersten Gens PTPN11 wurden 18 weitere Gene entdeckt. Alle diese Gene sind in den RAS-MAP-Kinase-Weg involviert, weshalb das Noonan-Syndrom auch als RASopathie bezeichnet wird [10]. Die Diagnose kann mittels Gen-Panel gestellt werden.
Nach Diagnosestellung sind weitere Untersuchungen notwendig. Eine kardiologische Untersuchung, ein Ultraschall der Nieren, eine ophthalmologische Untersuchung und eine Beurteilung des Gehörs sollten direkt nach der Diagnosestellung durchgeführt werden. Das Wachstum sowie die Gewichtsentwicklung (es gibt Noonan-spezifische Wachstumskurven) sollten regelmässig überwacht werden. Wenn nach dem Alter von zwei Jahren die Körpergrösse unter dem Mittelwert für Noonan-Syndrom-Standards liegt, sollte eine Beurteilung durch einen pädiatrischen Endokrinologen erfolgen. Bei Kleinwuchs sollten die üblichen Abklärungen durchgeführt werden. Die Wachstumshormontherapie wird bei kleinwüchsigen Kindern mit Noonan-Syndrom von der Invalidenversicherung (IV) bezahlt. Die Schilddrüsenfunktion sollte alle 3–5 Jahre überprüft werden. Eine Basisuntersuchung der Blutgerinnung sollte nach dem 5. Lebensjahr erfolgen, oder aber früher, wenn eine grössere Operation ansteht. Entwicklungsbeurteilungen sollten am Ende des ersten Lebensjahres sowie bei Eintritt in die Grundschule und in weiterführende Schulen durchgeführt werden. Die neuropsychologische Beurteilung sollte im Erwachsenenalter wiederholt werden, wenn Symptome einer Stimmungs-/Angststörung auftreten.

Das Wichtigste für die Praxis

• Das Noonan-Syndrom ist eine der häufigsten genetischen Erkrankungen. Die Diagnose wird wegen der variablen Klinik oft erst sehr spät gestellt.
• Die zeitgerechte Diagnose ist bedeutsam, da eine Verzögerung nicht nur den Leidensweg für Kind und Familie verlängert, sondern auch diagnostisch-therapeutisch relevante Interventionen verzögert.
• Merkmale sind die typischen Gesichtsdysmorphien, Herzfehler, Kleinwuchs und Entwicklungsverzögerungen.
• Das Noonan-Syndrom ist eine RASopathie mit 19 bekannten ursächlichen Genen im RAS-MAP-Kinase-Signalweg, mit unterschiedlicher Genotyp-Phänotyp-Relation.
• In den meisten Fällen wird eine lebenslange medizinische Betreuung empfohlen, vor allem aber in der Kindheit. Eine psychosoziale Beobachtung empfiehlt sich vor allem in der frühen Kindheit.
Ein schriftlicher Informed Consent für die Publikation liegt vor.
Prof. Dr. Dr. med.
Cornelis Noordam
Pädiatrisch-Endokrino-­logisches Zentrum Zürich
Möhrlistrasse 69
CH-8006 Zürich
kees.noordam[at]pezz.ch
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2 Cessans C, Ehlinger V, Arnaud C, Yart A, Capri Y, Barat P, et al. Growth patterns of patients with Noonan syndrome: correlation with age and genotype. Eur J Endocrinol. 2016;174(5):641–50.
3 Noordam K, van der Burgt I, Brunner HG, Otten BJ. The relationship between clinical severity of Noonan’s syndrome and growth, growth hormone (GH) secretion and response to GH treatment. J Pediatr Endocrinol Metab. 2002;15(2):175–80.
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10 Tajan M, Paccoud R, Branka S, Edouard T, Yart A. The RASopathy Family: Consequences of germline activation of the RAS/MAPK pathway. Endocr Rev. 2018;39(5):676–700.