Die Autopsie bleibt Gold wert
Ein Vergleich klinischer und autoptischer Befunde basierend auf einem Fall von Neuronophagie

Die Autopsie bleibt Gold wert

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08999
Swiss Med Forum. 2022;22(37):618-620

Affiliations
Standort Triemli, Stadtspital Zürich, Zürich: a Klinik Innere Medizin; b Abteilung für Neurologie; c Institut für Pathologie; d Institut für Neuropathologie, Universitätsspital Zürich, Zürich

Publiziert am 14.09.2022

Eine 73-jährige Patientin stellte sich notfallmässig wegen Gleichgewichtsstörungen, rechtsseitiger Beinschwäche und Fallneigung nach rechts vor, aufgrund derer es zu einem Sturzereignis ohne Kopfanprall gekommen war.

Hintergrund

Zwischen klinischer und autoptischer Diagnose finden sich in bis zu 25% der Fälle relevante Diskrepanzen. Die Autopsie als diagnostischer Goldstandard dient damit der Qualitätskontrolle, dem pathophysiologischen Verständnis und der Fortbildung der Ärztinnen und Ärzte. Zudem sind die Autopsiebefunde für die Angehörigen eine Hilfe bei der Aufklärung und Verarbeitung des plötzlichen Todes einer scheinbar gesunden Person.

Fallbericht

Anamnese

Eine 73-jährige Patientin stellte sich notfallmässig wegen Gleichgewichtsstörungen, rechtsseitiger Beinschwäche und Fallneigung nach rechts vor, aufgrund derer es zu einem Sturzereignis ohne Kopfanprall gekommen war. Ausserdem bestanden eine Stuhlinkontinenz und Kopfschmerzen. Die Beschwerden waren der Patientin nach dem morgendlichen Aufstehen erstmals aufgefallen. In der Nacht zuvor war sie aufgrund von seit Längerem bestehender Kreuzschmerzen aufgewacht und hatte ein Analgetikum (Diclofenac 50 mg) eingenommen. Bis auf eine Appendektomie in der Kindheit war die verwitwete Patientin nie in ärztlicher Behandlung gewesen und nahm keine regelmässige Medikation ein.

Status

Die Patientin präsentierte sich subfebril (37,5 °C) und hyperton (162/61 mm Hg). Es fand sich ein 5/6-Systolikum mit Punctum maximum über Erb und Ausstrahlung in die Karotiden und Herzspitze, die Halsvenen waren gestaut. Die Untersuchung von Lunge und Abdomen war ohne pathologischen Befund. Die neurologische Untersuchung ergab einen NIHSS («National Institutes of Health Stroke Scale») von 6/42 Punkten mit leichter Fazialisparese rechts (1 Punkt), Parese des rechten Beins (3 Punkte), Ataxie des rechten Arms (1Punkt) sowie einem taktilen Neglect nach rechts (1 Punkt). Ein Meningismus bestand nicht. Es fanden sich keine klinischen Hinweise auf eine Fraktur der Lendenwirbelsäule (LWS) oder Hüfte nach stattgehabtem Sturz.

Befunde

Laboranalytisch zeigten sich eine leichte Leukozytose von 10,6 G/l (Norm <10,2 G/l) und ein diskret erhöhtes C-reaktives Protein (CRP) von 14 mg/l (Norm <5 mg/l). Die Gerinnungs-, Leber-, und Nierenparamater waren normwertig. In der kranialen Computertomographie (cCT) mit Angiographie (neun Stunden nach dem morgendlichen Aufwachen) fanden wir keine Infarktfrühzeiten, demarkierte Ischämien, Blutungen oder Perfusionsanomalien.

Therapie und Verlauf

Die Patientin wurde mit Verdacht auf einen Wake-up-Stroke zur Komplexbehandlung auf die Stroke Unit aufgenommen. Aufgrund des verstrichenen Lyse-Zeitfensters und bei offenen Gefässen und fehlender Perfusionsstörung bestand keine Indikation zur intravenösen Lyse oder anderweitigen endovaskulären Therapie. Als Ursache für die Symptomatik gingen wir aufgrund der im Verlauf durchgeführten Magnetresonanztomographie (MRT) von einem Hirninfarkt im Thalamus links aus. Nebenbefundlich fanden sich kleine Diffusionsstörungen im Nucleus caudatus rechts ohne klinisches Korrelat. Zur weiteren Abklärung eines entzündlichen Geschehens bei anamnestischer Stuhlinkontinenz erfolgte eine MRT der Halswirbelsäule (HWS), die lediglich degenerative Veränderungen zeigte.
Am zweiten Tag der Hospitalisation kam es zu einer akuten Zustandsverschlechterung der Patientin mit Somnolenz, nun kompletter Hemiplegie rechts, Blickwendung nach rechts, Tachykardie und Dyspnoe. Klinisch präsentierte sie sich mit akuter Linksherzinsuffizienz und Lungenödem. Bei zwischenzeitlicher Entwicklung von Fieber ohne eindeutigen klinischen und mikrobiologischen Fokus – die Blut- und Urinkulturen waren ohne Keimnachweis – wurde die Verdachtsdiagnose eines infektiösen Geschehens mit septischen Embolien gestellt – möglicherweise eine infektiöse Endokarditis, für die mit neuer Klappeninsuffizienz und Fieber je 1 Major- und 1 Minor-Duke-Kriterium erfüllt waren.
Die notfallmässig durchgeführte transthorakale Echokardiographie ergab eine schwere Mitralklappeninsuffizienz mit «flail leaflet» und myxomatösen Veränderungen. Eindeutige flottierende Strukturen wurden nicht gesehen, wobei Vegetationen bei verdickten Segeln nicht ausgeschlossen werden können. Eine Lumbalpunktion konnte aufgrund der raschen Zustandsverschlechterung nicht mehr durchgeführt werden. Auf intensivmedizinische Massnahmen wurde auf Wunsch der Patientin verzichtet. Sie verstarb in der Folge. Die Angehörigen stimmten einer Autopsie zu.

Diagnose

Die Autopsie ergab eine biventrikuläre konzentrische Myokardhypertrophie mit myxoiden Veränderungen der Segelklappen. Es fanden sich keine Vegetationen. Lunge, Leber und Milz zeigten deutliche Zeichen einer akuten Stauung. Bei der Hirnsektion fiel in allen untersuchten Hirnarealen eine ausgeprägte lymphozytäre Meningomyeloenzephalitis ohne septische Embolien auf (Abb. 1). Die klinisch und bildgebend vermuteten ischämischen Hirninfarkte konnten nicht nachgewiesen werden.
In der Synthese aus Klinik und Autopsieresultaten ergab sich Folgendes: Die lymphozytäre Meningomyeloenzephalitis war ursächlich für die neurologischen Ausfälle. Die ausgedehnte Entzündung mit Neuronophagie der kardiorespiratorischen Hirnstammzentren ist die wahrscheinlichste Todesursache. Differentialdiagnostisch bestand ein septisch bedingtes Herzversagen.
Typischerweise gehören virale, weniger häufig parasitäre Erreger in die engere Auswahl der Differentialdiagnosen einer Meningomyeloenzephalitis. Die morphologischen und immunhistochemischen Untersuchungen konnten eine Infektion durch neurotrope Desoxyribonukleinsäure-(DNA-)Viren (insbesondere Herpes-simplex-Virus [HSV] 1 und 2, Zytomegalievirus [CMV], Varizella-zoster-Virus [VZV] und Epstein-Barr-Virus [EBV]) weitgehend ausschliessen. Toxoplasmen wurden ebenfalls nicht gefunden. Mittels viraler Metagenom-Analyse wurden lediglich die häufigeren Ribonukleinsäure-(RNA-)Viren (inklusive SARS-CoV-2) gesucht – ein Nachweis ergab sich nicht. Differentialdiagnostisch denkbar bleibt ein parainfektiöses oder autoimmunes Geschehen, wobei sich für letzteres bei fehlender Demyelinisierung im Autopsiepräparat keine Hinweise fanden.
Abbildung 1: In der neuropathologischen Untersuchung zeigen sich in allen untersuchten Hirnarealen herdförmige, entzündliche Verdichtungen, insbesondere intraparenchymal (H&E Färbung, Pons; links), in welchen sich sowohl Leukozyten (CD45; Mitte), sowie auch Makrophagen und Mikroglia (CD68; rechts) nachweisen lassen. H&E: Hämatoxylin-Eosin-Färbung; CD: «Cluster of Differentiation». Messbalken = 50 µm.

Diskussion

Die Einstellung der Bevölkerung zur Autopsie, insbesondere die von multimorbid Erkrankten und ihren Angehörigen, wurde in verschiedenen Studien untersucht [1]. Dabei fiel zwar eine grundsätzlich positive Einstellung zur Autopsie auf, trotzdem sinken die Autopsiezahlen kontinuierlich [2–4]. Die abnehmenden Fallzahlen werden durch die Fortschritte in der prämortalen Diagnostik (Laboranalyse, endoskopische/radiologische Bildgebung, Molekularpathologie) und durch strukturelle Gründe (zusätzliche Arbeit / lange Bearbeitungszeiten, Angst vor Fehldiagnosen / möglichen Konsequenzen) erklärt. Auch die Frage der Kostenübernahme ist leider nicht befriedigend gelöst: Nach dem Tod einer Person übernehmen die Versicherungen gemäss Krankenversicherungsgesetz (KVG) diese Kosten nicht. Dies kontrastiert klar mit dem Stellenwert der Autopsie als eine der effizientesten Qualitätssicherungsmassnahmen.
Tabelle 1: Autopsiebefunde im Vergleich zu den prämortalen klinischen Diagnosen
OrgansystemAutopsiebefundePrämortale Befunde/Diagnose
NeurologischNoduläre Panmyeloenzephalitis und lymphozytäre MeningitisWake-up-Stroke; Befund MRT ohne Kontrastmittel: Verdacht auf Hirninfarkt im Thalamus links und im Nucleus caudatus rechts
KardiovaskulärBiventrikuläre konzentrische Myokardhypertrophie, Herzgewicht 360 g (Normgewicht: 245 g). Koronarsklerose des Hauptstamms links (bis 70%), des RIVA (bis 20%) und des RCX (bis 40% proximal). Myxoide Veränderungen der Mitral- und Trikuspidalklappe. Ausgeprägte allgemeine Arteriosklerose.
Akute Stauung der Lungen, der Leber und der Milz.
Arterielle Hypertonie. Im Verlauf klinisch akute Linksherzinsuffizienz.
Befund TTE: Visuell normal dimensionierter linker Ventrikel mit normaler systolischer Funktion (EF 60% visuell) ohne regionale Wandbewegungsstörungen, schwere Mitralklappeninsuffizienz mit «flail leaflet», dilatierter linker Vorhof.
PulmonalAnthrakose, Emphysem, LungenstauungKardiales Lungenödem
MuskuloskelettalMässige bis ausgeprägte Osteoporose (Grad 2–3) und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule 
MRT: Magnetresonanztomographie; RIVA: Ramus interventricularis anterior; RCX: Ramus circumflexus; TTE: transthorakale Echokardiographie; EF: Ejektionsfraktion.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt die Art der Kommunikation zwischen dem involvierten klinischen Personal und den Angehörigen [4]. Das gezielte Üben dieser Kommunikation, zusammen mit der informativen Aufklärung bezüglich des Nutzens einer Autopsie, kann die Autopsierate erhöhen [1].
In unserem Fall erfolgte die akute Zustandsverschlechterung der Patientin rasch. Bis auf ein kurzes Telefongespräch zum Zeitpunkt der Zustandsverschlechterung kannte das Behandlungsteam die Angehörigen nicht. Dieses Setting zum Einholen einer Autopsieerlaubnis ist nicht unüblich, erschwert aber ein ohnehin schon schwieriges Gespräch.
In Anlehnung an die oben erwähnten Studienergebnisse fand das Gespräch schliesslich in einem ruhigen Raum im Spital statt und wurde wie folgt durchgeführt:
In unserem Fall konnte die Autopsie die Ursache der fulminanten Meningomyeloenzephalitis nicht klären. Die Diskrepanz zwischen der Klinik und den autoptischen Befunden (Tab. 1) ist aber auch hier von besonderem Interesse und soll die Wertigkeit der Autopsie unterstreichen: In fast 25% der Fälle besteht eine grössere Diskrepanz [5] zwischen den prä- und postmortalen Befunden – dies hat sich auch trotz Meilensteinen in der Diagnostik nicht wesentlich geändert. Die häufigsten Diskrepanzen betreffen die Diagnose Lungenembolie und Pneumonie, etwas weniger häufig vermutlich auch Myokardinfarkte. In weiteren 30% handelt es sich um Unstimmigkeiten bei Nebendiagnosen, die nicht direkt mit der Todesursache in Zusammenhang stehen [3]. Ein übermässiges Vertrauen («overconfidence») in prämortale Testverfahren hat den Stellenwert der Autopsie vermeintlich reduziert. Die Diskrepanz zwischen prä- und postmortalen Befunden und das so sichtbar werdende Ausmass der prämortal nicht gestellten Hauptdiagnosen haben sich allerdings seit der seminalen Arbeit von Goldmann et al. in den frühen 1980er-Jahren kaum verändert [5]. Da es sich naturgemäss um eine rein retrospektive Erhebung der Fehlerquote im Kollektiv der Verstorbenen handelt, kann vermutlich davon ausgegangen werden, dass die Rate an diagnostischen Fehleinschätzungen im klinischen Alltag wesentlich tiefer liegt.

Das Wichtigste für die Praxis

Die Autopsie dient nicht nur der Bestimmung der Todesursache, sondern auch der medizinischen Qualitätskontrolle, der Weiter- und Fortbildung, der Gewebegewinnung für die Forschung, der epidemiologischen Datenerhebung und dem Erkennen von genetischen Erkrankungen mit allfälliger Relevanz für die Angehörigen.
In etwa 50% der Autopsien finden sich Unterschiede zwischen klinischer und autoptischer Diagnose, wobei es sich fast bei jedem vierten Fall um grössere Diskrepanzen handelt, deren Kenntnis den Krankheitsverlauf relevant beeinflusst hätte.
Eine Autopsie bietet die Möglichkeit zur Selbstreflexion im diagnostischen Prozess.
Das gezielte Erlernen von Kommunikationstechniken und das Bewusstsein um die Wertigkeit der Autopsie erhöhen die Autopsierate.
Samantha Jeffery-Dervichian, dipl. Ärztin
Klinik Innere Medizin, Standort Waid, Stadtspital Zürich, Zürich
Ein schriftlicher Informed Consent für die Publikation liegt vor.
KF hat angegeben, ein uneingeschränktes Forschungsstipendium von Ono Pharmaceutical, Beratungsgebühren von Collective Acumen und einen Reisekostenzuschuss der European Confederation of Neuropathological Societies (Euro-CNS) erhalten zu haben. Des Weiteren ist er unentgeltlicher Teilnehmer eines Datensicherheits-/Beratungsgremiums bei Mabylon AG. Die anderen Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Samantha Jeffery-Dervichian
Klinik Innere Medizin
Standort Waid
Stadtspital Zürich
Tièchestrasse 99
CH-8037 Zürich
1 Rosenberg I, Gierer B, Flury R, Battegay E, Balmer PE. Motivational interviewing increases autopsy rates. Swiss Med Wkly. 2018;148:w14679.
2 Bassat Q, Castillo P, Alonso PL, Ordi J, Menéndez C. Resuscitating the dying autopsy. PLoS Med. 2016;13(1):e1001927.
3 Kuijpers CC, Fronczek J, van de Goot FR, van Diest PJ, Jiwa M. The value of autopsies in the era of high-tech medicine: discrepant findings persist. J Clin Pathol. 2014;67(6):512–9.
4 Stone JR, Tran KM, Conklin J, Mino-Kenudson M. Case 23-2020: A 76-year-old woman who died from Covid-19. N Engl J Med. 2020;383(4):380–7.
5 Goldman L, Sayson R, Robbins S, Cohn LH, Bettmann M, Weisberg M. The value of the autopsy in three medical eras. N Engl J Med. 1983; 308(17):1000–5.