Biopsychosoziale Intensivmedizin am Lebensende
Jubiläumsschlaglicht: Palliativmedizin

Biopsychosoziale Intensivmedizin am Lebensende

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2022/0708
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09032
Swiss Med Forum. 2022;22(0708):126-128

Affiliations
a Universitäres Zentrum für Palliative Care, Inselspital, Universitätsspital und Universität Bern, Bern; b Service de médecine palliative, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genève

Publiziert am 15.02.2022

Im Jahr 2001 wurde das «Freiburger Manifest» editiert unter dem Titel «Heute für wenige, morgen für alle». Eine lange Wegstrecke folgte auf diese ambitionierte Aussage, und viel hat sich verändert.

Palliative Care: eine hochspezialisierte Disziplin

Die demographische Entwicklung in der Schweiz, die Diskussionen um die Suizidbeihilfe und zuletzt auch die Corona-Pandemie haben politisch der Palliative Care Rückenwind verliehen. Die Palliativmedizin trägt mit der medizinischen Kompetenz zum interprofessionellen Vorgehen der Palliative Care bei. Den spezifischen Bedürfnissen von schwerkranken und sterbenden Menschen und ihren Angehörigen gerade angesichts der hohen Erwartungen an die Machbarkeit einer hochtechnisierten Biomedizin mehr Aufmerksamkeit zu widmen, folgt nicht zuletzt einem humanen Imperativ. Die «American Society of Clinical Oncology» (ASCO) propagiert dieses bedürfnisorientierte Vorgehen neben dem diagnosespezifischen Vorgehen als«concurrent care» [1]. Dazu kommt trotz aller Erfolge der heutigen Medizin das Faktum der Sterblichkeit, und jede medizinische Spezialität kommt um die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit nicht herum. Bei fortschreitenden Erkrankungen geht es deshalb darum, einen realistischen Weg zwischen «hope for the best, prepare for the worst» gemeinsam zu gehen – und vor allem auch unter Vermeidung überoptimistischer Prognoseschätzungen auch aufrichtig zu kommunizieren; eine Art liebevolle Selbstrelativierung trotz aller phantastischen Mittel im «Kampf» gegen den Tod.
Der Werkzeugkasten der Palliative Care besteht grob aus vier Bereichen:
1. einem breiten, die Diagnosen, aber auch den Menschen und ihr soziales Umfeld umfassenden Assessment,
2. der Behandlung komplexer und instabiler Symptome oder des subjektiven komplexen Leidens mit vielfältigen körperlichen, psychischen, sozialen und auch spirituellen Anteilen, verschärft durch die schiere existentielle Bedrohung am Lebensende,
3. der gesundheitlichen Vorausplanung unter Einschluss des «Advance Care Planning» sowie
4. der Betreuung und Begleitung im Sterben und darüber hinaus.
Die medizinischen Fachgesellschaften in der Schweiz standen und stehen teilweise der Palliativmedizin, und noch mehr der Palliative Care als interprofessionelle Kompetenz, eher skeptisch gegenüber. Viele Soft Skills finden sich im Repertoire der Palliativspezialistinnen und -spezialisten: das Zuhören, das Sprechen, das Koordinieren, das Abwägen. Die Behandlung von bisher therapierefraktären Symptomen finden rasch Anerkennung als Fachkompetenz. Palliative Care als akademische Disziplin an Universitäten und Hochschulen muss sich erst beweisen, obwohl deren Wert und Wichtigkeit international unbestritten ist. Die Schweiz ist trotz nationaler Forschungsprogramme im internationalen Vergleich kaum kompetitionsfähig, die Attraktivität für eine akademische Karriere bleibt klar steigerungsfähig ebenso wie die Anzahl der Lehrstühle. Seit 2019 gibt es keine themenspezifischen Förderprogramme mehr für die Forschung in Palliative Care, und die zarten Pflänzchen beginnender Forschungsgruppen im Themengebiet beginnen wieder zu verdorren.

Dichtes Palliativnetz für individuelle Betreuung

Weiterhin scheint unklar, was der Unterschied von allgemeiner und spezialisierter Palliative Care ist. Die Übergänge sind fliessend. So sollte jede Ärztin und jeder Arzt über Kompetenzen der Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden haben. Die Grundversorgenden übernehmen bereits in sehr hoher Qualität vielfältige Aufgaben. Doch nehmen Instabilität und Komplexität zu, braucht es gut eingespielte Palliativteams, die das lokale oder regionale Netzwerk bestens kennen. Der Schwerpunkttitel für Palliativmedizin hat sicher zu einer Aufwertung dieser Kompetenzen in- und ausserhalb der Spitäler beigetragen. Spezialisierte Palliative-Care-Teams bieten viel Support, sind aber finanziell auch weiterhin akut gefährdet, obwohl sie den Anforderungen an ein modernes Health-Care-Team rund um die Patientin respektive den Patienten und ihre Angehörigen, wie in der «Gesundheit2030», der gesundheitspolitischen Strategie des Bundesrats 2020–2030 formuliert, voll entsprechen [2].
Die «Nationale Strategie für Palliative Care 2010–2015» [3] hat wesentlich zur Klärung des Angebots- und Leistungsprofils der Palliative Care und deren medizinischem Arm, der Palliativmedizin, beigetragen. Die Grundfrage, was eine Palliativpatientin respektive ein Palliativpatient ist, konnte dabei nicht befriedigend definiert werden. Dies ist auch nicht verwunderlich. Denn die Bedürfnisse der Betroffenen bei fortschreitendem Leiden und schliesslich am Lebensende sind enorm heterogen, nicht nur bezogen auf verschiedene Krankheitsbilder, sondern ganz besonders in Bezug auf die ganz verschiedenen Biographien – und nicht zu vergessen: in Bezug auf die mitbetroffenen Personen, nämlich die Angehörigen und das gesamte soziale Umfeld. Palliative Care ist also eine typische Querschnittsdisziplin mit variablen Leistungen je nach Problemstellung – von der Neonatologie/Pädiatrie, über die Notfall- und Intensivmedizin bis hin zur Geriatrie und Gerontopsychiatrie.
Die zentralen Instrumente der Palliative Care sind deshalb die Kommunikation, das interprofessionelle Teamwork und ein entsprechendes Netzwerk. Nur mit gut koordinierten Fachkompetenzen und verantwortungsvollen Mitträgern, von der hochspezialisierten Fachkräften bis zu den Freiwilligen, können derart komplexe Situationen erträglich werden mit einer zentralen Rolle der Grundversorgenden. Auch die nationale Strategie konnte wenig dazu beitragen, dass die Skills der Kommunikation und Koordination finanziell für Leistungsanbieter attraktiv werden. Beispielsweise rechnet es sich – nicht zuletzt auch aus Sicht der Betroffenen – weiterhin deutlich eher, in den letzten Lebenswochen eine Radiotherapie durchzuführen als ein komplexes Netzwerks 24/7 zuhause aufzubauen. Letzteres wird zu grossen Teilen auch weiterhin der betroffenen Person in Rechnung gestellt, ebenso wie die häufig sehr aufwändige Betreuung in einem Pflegeheim, das trotz aller Anstrengungen für die hohe Komplexität der jeweiligen Situation insbesondere aus personellen Gründen häufig nur unzureichend ausgerüstet ist. Eine Radiotherapie geht immer zulasten der Krankenkasse beziehungsweise des Kantons.

Der Wert des Lebensendes

In den letzten Jahren wurde über integrierte oder koordinierte Versorgung viel geschrieben. Menschen in fortgeschrittenen Krankheitssituationen leiden enorm unter dem sektorisierten, fragmentierten Gesundheitssystem der Schweiz. Vieles wurde bereits vorgeschlagen für die Verbesserung der Kooperation und Koordination [4]. Das «Ja, aber» gegenüber gut funktionierenden lokalen oder regionalen Netzwerken rührt her von der Sorge, ein neues Anreiz- und Vergütungssystem für die Betreuung und Behandlung von chronisch kranken, schwerkranken oder allgemein fragilen Menschen mit deutlicher Aufwertung der «social care» einrichten zu müssen – mit bislang unbekannten ­Folgen für Versicherungen. Der Kampf um einen bezahlbaren Platz in der Herberge für schwerkranke Menschen, die nach Ausreizen der «Diagnosis Related Groups» (DRGs) im Spital nicht mehr, aber leider zuhause oder im Pflegeheim häufig auch nicht betreut werden können, ist einer der reichsten Gesellschaften der Welt unwürdig. Daran hat sich leider in den letzten Jahren kaum etwas geändert.
Eine der Grundfragen, die in den vergangenen Jahren für viele Akteure im Bereich der Palliative Care aufgekommen ist, ist deshalb in unserer Gesellschaft die Frage nach dem Wert des Lebensendes. Diejenigen, die heute politisch die Weichen stellen und in Fachgesellschaften und -organisationen, aber auch in Verwaltungsräten Verantwortung tragen, gehören zur Generation «Babyboomer». Schrittweise kommen diese Personen in den Bereich des Lebensendes, immer mehr Freundinnen und Freunde sowie Bekannte trifft es: Zunehmend wird man mit dem Sterben konfrontiert. Es geht deshalb darum, gemeinsam zu definieren, welchen Wert eine hohe Qualität der Unterstützung und Betreuung am Lebensende in unserer Gesellschaft haben soll. Für den Lebensanfang hat unsere Gesellschaft über Jahrzehnte enorm investiert in die Bildung (bereits in der Schule!), in die Forschung sowie in den Aufbau bestens vernetzter und weitgehend finanzierter Strukturen vom Geburtshaus bis zur Notfallverlegung und Neonatologie. Niemand würde heute auf diese Errungenschaften verzichten wollen.

Gesellschaftliche Akzeptanz des ­Unausweichlichen

In Anbetracht der soziodemographischen Entwicklung, die wir am eigenen Leib spüren, stellt sich deshalb die Frage: sollte nicht mehr investiert werden in das Lebensende, also in Information, Bildung, Forschung und den Ausbau vernetzter Leistungsangebote? Hierfür braucht es eine Gesellschaft, die das Thema Endlichkeit als Grundlage ihrer Existenz akzeptiert – trotz aller Erfolge in der Medizin. Ein wenig mehr Bescheidenheit in der Medizin, gepaart mit dem gesellschaftlichen Engagement, beginnend in der Nachbarschaft, sich dem Thema Sterben und Tod zu öffnen und kreativ und wertschätzend damit umzugehen, könnte die Kultur des Miteinanders deutlich verbessern. Eine sehr wertvolle Aufgabe nicht nur für die nächsten 20 Jahre.
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Prof. Dr. med.
Steffen Eychmüller
Universitäres Zentrum für Palliative Care
Inselspital, Universität Bern
Freiburgstrasse 38
CH-3010 Bern
steffen.eychmueller[at]insel.ch
1 Ferrell BR, Temel JS, Temin S, Smith TJ. Integration of palliative care into standard oncology care: ASCO clinical practice guideline update summary. J Oncol Pract. 2017;13(2),119–21.
2 Bundesamt für Gesundheit [Internet]. Liebefeld: Gesundheit2030; [cited 2021 Jan 06]. Available from: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/gesundheit-2030.html.
3 Bundesamt für Gesundheit [Internet]. Bern: Nationale Strategie Palliative Care 2010–2015; [cited 2022 Jan 6]. Available from: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/strategie-palliative-care.html.
4 WHO-Regionalbüro für Europa [Internet]. Kopenhagen: The European Framework for Action on Integrated Health Services Delivery: an overview. [cited 2022 Jan 06]. Available from: https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0010/317377/FFA-IHS-service-delivery-overview.pdf