Nicht immer steckt ein Paragangliom dahinter
Glomustumoren

Nicht immer steckt ein Paragangliom dahinter

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09045
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Affiliations
Stadtspital Triemli Zürich, Zürich, a Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefässchirurgie, b Institut für Pathologie

Publiziert am 01.01.2022

Bei der 56-jährigen Patientin hatten über eineinhalb Jahre starke Nackenbeschwerden nach einer Halswirbelsäulen-(HWS-)Distorsion bestanden, die chiropraktisch behandelt worden waren. Seither litt sie unter einem Tinnitus in beiden Ohren.

Hintergrund

Bei Tumoren im Bereich der Carotisbifurkation wird primär an ein Paragangliom gedacht. Wir präsentieren einen Fall mit klinisch und radiologisch hochgradigem Verdacht auf einen Glomustumor, der in der postoperativen histopathologischen Untersuchung jedoch als ektopes Schilddrüsengewebe identifiziert wurde.

Fallbericht

Anamnese

Bei der 56-jährigen Patientin hatten über etwa eineinhalb Jahre starke Nackenbeschwerden nach einer Halswirbelsäulen-(HWS-)Distorsion bestanden, die chiropraktisch behandelt worden waren. Seither litt die Patientin unter einem Tinnitus sowie einem unangenehmen Rauschen in beiden Ohren. Rechtsbetont hätte sich zudem ein höherfrequenter Ton ohne pulsatilen Charakter entwickelt. Des Weiteren hätte sie eine progrediente, asymptomatische Halsschwellung bemerkt.
In der Krankengeschichte fanden sich keine Hinweise auf einen zerebrovaskulären Insult oder eine Amaurosis, ebenso keine Hypertonie. Familienanamnestisch waren keine Tumorleiden oder Paragangliome bekannt. Bei der Patientin war 1990 eine Strumektomie durchgeführt worden, Operationsbericht wie auch histologischer Befund waren aufgrund der zurückliegenden Zeitspanne nicht mehr verfügbar.

Status

Klinisch konnte eine leichte Schwäche im Bereich der rechtsseitigen Schultermuskulatur ohne Paresen festgestellt werde. Klinisch fielen keine äusseren Anzeichen für eine Schilddrüsenfunktionsstörung auf.

Befunde und Diagnostik

Eine Tinnitus-Abklärung durch die Kollegen der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde ergab keinen Hinweis auf eine relevante Hörminderung. Laborchemisch bestand ein euthyreoter Stoffwechsel. In der Magnetresonanztomographie (MRT) der HWS ergab sich kein Hinweis auf eine Nervenwurzelkompression. Es zeigte sich jedoch eine glatt berandete, gut vaskularisierte Raumforderung an der Karotisgabel rechts. Ein Angiographie-Computertomogramm (Angio-CT) wurde zur technischen Planung der anvisierten Operation durchgeführt. Hier zeigte sich der Tumor rechtsseitig dorsal der Karotisgabel mit allenfalls Umfassung der dorsalen Zirkumferenz der Carotis interna, einem Typ-II-Paragangliom entsprechend (Abb. 1 und Abb. 2).
Abbildung 1: Angio-Computertomographie, Axialschnitt. Pfeil: Lokalisation des ektopen Schilddrüsengewebes.
Abbildung 2: Angio-Computertomographie, Koronarschnitt. Pfeil: Lokalisation des ektopen Schilddrüsengewebes. Darstellung der unmittelbaren Nähe zur Arteria carotis interna rechts.
Nach Fallbesprechung im interdisziplinären Tumorboard wurde das weitere Vorgehen gemäss den «National Cancer Institut Guidlines» (NCI) festgelegt [1]. Die Schilddrüsenwerte sowie Katecholamine, die in einem externen Spital bestimmt worden waren, lagen im Normbereich. Das präoperativ durchgeführte Positronenemissionstomogramm mit CT (PET-CT) zeigte einen Glomustumor rechts mit typischer Somatostatinrezeptor-Typ-2-(SSTR-2-)Positivität ohne Hinweis auf weitere parasympathische oder sympathische Paragangliome (Abb. 3). Nebenbefundlich fiel eine Struma multinodosa beidseits auf. Diesen Befund erklärten wir uns am ehesten im Rahmen der vorbekannten Strumektomie, die – wie für die damalige Zeit eher üblich – nur als Teilstrumektomie durchgeführt worden war. Das Schilddrüsengewebe hatte somit entsprechend nachwachsen können. Die Indikation zur operativen Sanierung wurde gestellt [2].
Abbildung 3: Positronen-Emissions-Tomographie mit Computertomographie (PET-CT), Koronarschnitt. Pfeil: Lokalisation des ektopen Schilddrüsengewebes.

Diagnose, Therapie und Verlauf

Intraoperativ erfolgten entsprechend die Abpräparation und Entfernung des Tumors in toto. Postoperativ erholte sich die Patientin zeitnah, die duplexsonographische Verlaufskontrolle zeigte einen regelrechten Fluss in der Arteria carotis interna rechts. Die postoperative Laryngoskopie bei neu aufgetretener Heiserkeit war unauffällig und wurde folglich im Rahmen der Intubation interpretiert. Die Patientin konnte am zweiten postoperativen Tag in gutem Allgemeinzustand und mit reizlosen und trockenen Wundverhältnissen in ihr häusliches Umfeld entlassen werden.
Der später eingegangene histopathologische Befund ergab einen scharf begrenzten Knoten von prädominant mikrofollikulär aufgebautem Schilddrüsengewebe mit makrofollikulären Arealen und zentral betonten, regressiven Veränderungen ohne Hinweis auf Malignität (Abb. 4).
Abbildung 4: Histopathologischer Schnitt durch das Schilddrüsengewebe. Hämalaun-Eosin-Färbung, 12,5× vergössert
In den Kontrollen nach drei und sechs Monaten beklagte die Patientin noch eine leichte Hypästhesie im Bereich des rechten Kieferwinkels. Diese ist – wie bei Karotisoperationen bekannt – auf eine Verletzung der Ansa cervicalis superficialis zurückzuführen. Innerhalb von weiteren drei Monaten hatten sich die Beschwerden jedoch schon gebessert.

Diskussion

Bei ektopem Schilddrüsengewebe handelt es sich um ein nicht anterolateral, also zwischen dem zweiten und vierten Trachealknorpel, lokalisiertes Schilddrüsengewebe. Im Jahr 1869 beschrieb Hickmann [3] als Erster einen Fallbericht von Schilddrüsengewebe unterhalb der Zunge. Es zeigte sich, dass das sogenannte Wölfler-Areal (vorderer Bereich der Zunge, submandibulär, tracheal, laryngeal und anteriores Mediastinum) mit etwa 90% der bisher aufgetretenen Fälle die häufigste Lokalisation darstellt [4]. Im Verlauf konnten mehrere Fallberichte mit ebenso seltenen Lokalisationen zusammengetragen werden, zum Beispiel in Mediastinum, Ösophagus, Lunge, Herz, Aorta, aber auch subdiaphragmal gelegenes Gewebe [5]. Der erste uns bekannte Bericht eines ektopen Schilddrüsengewebes im Bereich der rechten Karotisbifurkation wurde von Rubenfeld [6] beschrieben. Bei unserer Patientin fehlte jedoch die normotop angelegte Schilddrüse. Bei einer rechtsseitigen Lokalisation sollte nebst der Verdachtsdiagnose auf einen Tumor auch an ektopes Schilddrüsengewebe gedacht werden [7, 8]. Die Entstehung von ektopem Gewebe wird auf eine Verlagerung während der embryonalen Entwicklung zurückgeführt.
In Zusammenschau der Befunde unserer Patientin wurde initial von einem Glomus-caroticum-Tumor ausgegangen. Klinisch führten der Tinnitus und die Halsschwellung zur Diagnose. Bei normalen Katecholaminen zeigte sich im PET-CT eine SSTR-2-Positivität, die typisch für Glomustumoren gewesen wäre. Aufgrund des potentiell malignen Charakters von Paragangliomen (<10%) [9] werden diese als semimaligne eingeschätzt. Die Indikation zur operativen Sanierung ist somit bei Diagnosestellung sowie hochgradigem Verdacht indiziert [2]. Aufgrund der Ummauerung der Gefässe, der möglichen Malignität sowie der Gefahr von Komplikationen ist die Resektion in der Regel bei allen Typen (I–III) Therapie der Wahl.

Das Wichtigste für die Praxis

Ektopes Schilddrüsengewebe kann aufgrund der Embryogenese verschiedene Lokalisationen aufweisen.
Im Bereich der Karotisbifurkation ist ektopes Schilddrüsengewebe sehr selten.
Entsprechend sollte bei rechtsseitiger Lokalisation eines Tumors initial an ein Paragangliom gedacht und die Differentialdiagnose eines ektopen Schilddrüsengewebes im Hinterkopf behalten werden.
Sonographie, Magnetresonanztomographie, Computertomographie (CT) und Positronenemissionstomographie-(PET-)CT sowie die Bestimmung der Katecholamin-Level sind diagnostische Hilfsmittel.
Die histopathologische Untersuchung ist, wie in diesem Fall, der einzige Weg zur Sicherung der Diagnose.
Alexandra Filips
Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefässchirurgie, Stadtspital Triemli Zürich, Zürich
MB hat angegeben, sich als «Medical Writer» ohne Honorare zu betätigen. Die anderen Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Alexandra Filips
Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefässchirurgie
Stadtspital Triemli Zürich
Birmensdorferstrasse 497
CH-8063 Zürich
1 National Cancer Institut (NCI). Pheochromocytoma and Paraganglioma Treatment (PDQ®) [Internet]. Bethesda (USA): NCI; 2021 [abgerufen am 31.07.2022]. Verfügbar unter: https://www.cancer.gov/types/pheochromocytoma/hp/pheochromocytoma-treatment-pdq
2 Grotemeyer D, Loghmanieh SM, Pourhassan S, Sagban TA, Iskandar F, Reinecke P, Sandmann W. Dignität von Glomus-caroticum-Tumoren. Literaturübersicht und klinische Erfahrungen. Chirurg. 2009;80(9):854–63.
3 Hickmann W. Congenital tumor of the base of the tongue, pressing down the epiglottis on the larynx and causing death by suffocation sixteen hours after birth.
Trans Pathol Soc Lond. 1869;20:160–1
4 Theurer S, Siebolts U, Lorenz K, Dralle H, Schmid KW. Ektopes Gewebe der Schilddrüse und der Nebenschilddrüsen. Pathologe. 2018;39:379–89.
5 Rosai J, Tallini G. Thyroid gland. In: Rosai J, Hrsg. Rosai and Ackerman’s Surgical Pathology. 10. Aufl. New York: Elsevier Mosby; 2011. S. 487–564.
6 Rubenfeld S, Joseph UA, Schwartz MR, Weber SC, Jhingran SG. Ectopic thyroid in the right carotid triangle. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 1988;114(8):913–5.
7 Iorio CB, Atkins KA, Nass RM, Shonka DC Jr. Ectopic thyroid tissue masquerading as a functional carotid body paraganglioma. AACE Clin Case Rep. 2020;6(4):e189–92.
8 Chahed H, Kharrat G, Bechraoui R, Marrakchi J, Mediouni A, Amor MB, et al. Ectopic thyroid tissue: unusual differential diagnosis of cervical paraganglioma. Pan Afr Med J. 2017;27:43.
9 Lee JH, Barich F, Karnell LH, Robinson RA, Zhen WK, Gantz BJ, Hoffman HT. National Cancer Data Base report on malignant paragangliomas of the head and neck. Cancer. 2002;94(3):730–7