Hypoglykämes Koma bei Anorexia nervosa
Eine seltene Komplikation

Hypoglykämes Koma bei Anorexia nervosa

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09083
Swiss Med Forum. 2022;22(2324):396-398

Affiliations
Kantonsspital Graubünden: a Innere Medizin; b Innere Medizin und Endokrinologie

Publiziert am 07.06.2022

Essstörungen sind ein ernsthaftes gesundheitliches Problem, sie gehen mit schwerwiegenden körperlichen, psychischen und sozialen Konsequenzen einher. Die Ursachen sind erst in Ansätzen geklärt.

Hintergrund

Essstörungen sind ein ernsthaftes gesundheitliches Problem, sie gehen mit schwerwiegenden körperlichen, psychischen und sozialen Konsequenzen einher. Die Ursachen sind erst in Ansätzen geklärt.
Die Lebenszeitprävalenz von Anorexia nervosa beträgt in der Schweiz circa 1,2% für Frauen und 0,2% für Männer und ist vergleichbar mit anderen industrialisierten Ländern. Verschiedene internationale Studien zeigen, dass die Prävalenz von Essstörungen in der industrialisierten Welt in den letzten Jahrzehnten zunimmt [1].
Die Anorexia nervosa weist mit 50% einen hohen Anteil chronischer Verläufe (>5–7 Jahre) und eine Mortalitätsrate von 5% auf [2, 3].

Fallbericht

Anamnese

Die Mutter einer jungen Frau Mitte zwanzig alarmierte in der Nacht den Rettungsdienst, nachdem sie ihre Tochter regungslos und nicht ansprechbar auf dem Boden liegend vorgefunden hatte.
Der Rettungsdienst brachte die komatöse Patientin in ein unmittelbar in der Nähe gelegenes Regionalspital, wo die Schutzintubation der reflexlosen Frau ohne Medikamente erfolgte. Sie transportierten sie direkt weiter auf die Notfallstation unseres Zentrumspitals.
Die Patientin litt bereits seit ihrer Jugend an einer Anorexia nervosa. Sie wünschte jedoch in den vergangenen Monaten keine parenterale Ernährung mehr; mit kleinen, meistens breiartigen Mahlzeiten hielt sie ihr Gewicht auf tiefem Niveau. Die Lebensqualität und der Lebenswille waren fremdanamnestisch seit Jahren eingeschränkt.
Die Patientin war in regelmässiger hausärztlicher Betreuung. Medizinische Interventionen hat sie aber wiederholt abgelehnt. Eine Patientenverfügung existierte nicht. Gemäss unseren Recherchen wurde ihr nie vorgeschlagen, eine solche zu verfassen. Die Mutter der Patientin wünschte sich, enger in die medizinische Betreuung ihrer Tochter miteinbezogen zu werden, fühlte sich aber teilweise ausgegrenzt.
Am Abend vor der verhängnisvollen Nacht freute sich die Mutter ebenso wie die Tochter, dass dieser das Essen mehr Genuss bereitete als üblich. Nach ihrer gewohnten Breimahlzeit ass sie eine Portion Schokoladenpudding, daraufhin gingen sie schlafen. Etwa fünf Stunden später schaute die Mutter nach der Tochter und machte die eingangs geschilderte Entdeckung.

Status

Wir übernahmen auf unserer Notfallstation eine intubierte, spontan atmende Patientin mit einem Glasgow Coma Score von drei und weit aufgerissenen, halonierten Augen sowie lichtstarren Pupillen. Bei einem Blutdruck von 95/76 mm Hg und einer Körpertemperatur von 35,2 °C zeigten sich eine leichte Akrozyanose sowie marmorierte Extremitäten, die Herzfrequenz war ausgeprägt variabel von knapp bradykard bis leicht tachykard. Die Patientin war kachektisch mit einem Körpergewicht von 23,8 kg bei einer Grösse von 167 cm was einem Body Mass Index von 8 kg/m2 entspricht. Das Abdomen war eingesunken und auf der Oberfläche zeichneten sich Organgrenzen ab, die Wirbelsäule konnte von ventral palpiert werden. Bei der Untersuchung liess sich der Oberschenkel mit Daumen und Mittelfinger umschliessen.

Diagnostik

Eine erstmals bei Eintritt gemessene Blutglukose lag unterhalb der Nachweisgrenze des Gerätes (<1,1 mmol/l), dieser kapillär gemessene Wert wurde mehrfach, kapillär, bestätigt. Eine venöse Messung erfolgte erst nach Verabreichung von Glukose intravenös. Im Ultraschall zeigte sich eine «starry sky appearance» der ­Leber, die Transaminasen und INR waren erhöht, das Albumin tief (Tab. 1).
Tabelle 1: Klinische, laboranalytische und apparative Untersuchungsbefunde, die in Zusammenhang mit einer schweren Anorexia nervosa beobachtet wurden (Laborwerte bei Eintritt).
ParameterMesswerteReferenzwerte
Hämoglobin109 g/l120–140 g/l
Leukozyten2,1 G/l3,5–10,0 G/l
Thrombozyten116 G/l154–386 G/l
Natrium131 mmol/l136–145 mmol/l
Kalium3,9 mmol/l3,4–4,5 mmol/l
Albumin27,1 g/l39,7–49,5 g/l
Triglyzeride<0,1 mmol/l<2,3 mmol/l
ASAT280 U/l<32 U/l
ALAT337 U/l<33 U/l
INR / Quick2,2 / 28%0,9–1,2 / 80–120%
Neuron-spezifische Enolase28,2 ng/ml15,7–17,0 ng/ml
   
Klinik
Lanugobehaarung  
Akrodermatitis  
Hypotonie  
Hypothermie  
Lagophthalmus  
 
Apparative Untersuchungen
Sonographie Abdomen«starry sky»-Erscheinung der Leber als Zeichen der Fastenleber
CT Neurokranium nativLeichtgradige Hirnvolumenminderung
MRT NeurokraniumFlaue Signalveränderungen im FLAIR korrelieren mit ausgeprägten Diffusionsstörungen der weissen Hirnsubstanz supratentoriell, im Centrum semiovale sowie periventrikulär posterior
Röntgen ThoraxFehlender Weichteilmantel, schlanke Herzsilhouette
EEGBurstsuppression-Muster, keine Hinweise für einen ­Status epilepticus
ALAT: Alanin-Aminotransferase; ASAT: Aspartat-Aminotransferase; CT: Computertomogramm; EEG: Elektorenzephalogramm; INR: International Normalized Ratio; MRT: Magnetresonanztomogramm.
Das zerebrale Computertomogramm (CT) zeigte eine für das Patientenalter eindrückliche kortikale Atrophie ohne Hinweise für Blutungen, Ischämie, ein Hirnödem oder ein Tumorgeschehen.
Ein toxikologisches Screening für Medikamente inklusive Sulfonylharnstoffe, Alkohol und illegaler Substanzen fiel negativ aus.
Für eine Insulinapplikation als Ursache der Hypoglykämie hatten wir keine Hinweise.
Die Elektroenzephalogramme ohne Sedation am ersten und zweiten Hospitalisationstag waren vereinbar mit einer metabolischen Enzephalopathie, Hinweise für eine erhöhte Anfallsbereitschaft oder Epilepsie ergaben sich nicht. Magnetresonanztomographisch kamen am dritten Hospitalisationstag neben der im CT beschriebenen zerebralen Atrophie ausgeprägte Diffusionsstörungen der weissen Hirnsubtanz supratentoriell, im Centrum semiovale und periventrikulär posterior zur Darstellung, was als extrapontine Myelinolyse im Rahmen der metabolischen Mangelsituation gewertet wurde.

Therapie und Verlauf

Auf der Notfallstation wurden Thiamin und hochprozentige Glukoselösung intravenös verabreicht. Unmittelbar danach begann die Patientin zu blinzeln und zu schlucken, es erfolgten eine vorsichtige Analgosedation und nach abgeschlossener initialer Diagnostik die Verlegung auf die Intensivpflegestation. Die leichte Hyponatriämie korrigierte sich unter Verabreichung von Kristalloiden intravenös und das Serumnatrium blieb im Verlauf stabil. Vitamine wurden substituiert und die intravenöse Glukosegabe weitergeführt, mit der die Serumglukose aufrechterhalten werden konnte. Die leicht hypotherme Patientin wurde mechanisch beatmet und mithilfe einer Wärmedecke gewärmt. Zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur war anhaltend die externe Wärmequelle nötig. Initial war die Patientin normokaliäm; im Verlauf wurde eine Substitution mittels Kalium- und Phosphatperfusor nötig. Am dritten Tag begannen wir mit der Ernährung via Nasogastralsonde. Die Sedation wurde am Tag nach Eintritt gestoppt und im Verlauf nur noch intermittierend für Pflegeverrichtungen eingesetzt. Die Patientin zeigte keine adäquate Aufwachreaktion und nie gezielte Bewegungen oder suffiziente Schutzreflexe, wir beobachteten eine Bradypnoe mit Atempausen. Sie war intermittierend auf eine Kreislaufunterstützung mit Noradrenalin angewiesen. Die Thrombozytenzahl fiel stetig leicht ab, Hämoglobin und Leukozyten blieben in etwa unverändert. Die Trans­aminasen sanken.
Bald musste die neurologische Prognose als infaust eingestuft werden. Nach langen Gesprächen mit der Mutter wurde deshalb am siebten Therapietag beschlossen, auf ein palliatives Konzept zu wechseln. Kurze Zeit nach Extubation verstarb die Patientin.
Das Behandlungsteam war durch die schwere Erkrankung der jungen Frau und die schwierigen medizinischen Entscheidungen sehr belastet. In den Team­besprechungen und Supervisionen wurde häufig thematisiert, dass die schwerst kachektisch-gebrech­liche Patientin bei pflegerischen und medizinischen Massnahmen Berührungsängste auslöste.

Diskussion

Die Anorexia nervosa gilt als schwer behandelbare Erkrankung. Die Heilungschancen sind am besten, wenn das Problem früh erkannt und angegangen wird. Im frühen Erkrankungsstadium (<3 Jahre) hat sich Psychotherapie, und vor allem bei Jugendlichen, die familienzentrierte Therapie als effektivste Therapie erwiesen. Für schwere, chronische Verlaufsformen sind innovative Neuromodulationstechniken wie die transkranielle Magnetstimulation in Erprobung [3, 4]. Bis dato gibt es kein Medikament, das spezifisch auf Anorexia nervosa wirkt [5].
Dieser Fall beschreibt eine terminale Komplikation nach langjährigem Verlauf einer Anorexia nervosa. Die Therapie gestaltete sich herausfordernd. Es gibt kaum Daten, besonders zur Pharmatherapie Erwachsener mit einem derart geringen Körpergewicht.
Die schwere Hypoglykämie war wahrscheinlich die unmittelbare Ursache für den Bewusstseinsverlust der Patientin.
Wir gehen davon aus, dass der Schokoladenpudding mit der grossen Menge von schnellwirksamen Kohlenhydraten zu einer inadäquaten Insulinausschüttung geführt hat. Inadäquate Insulinausschüttung mit Hypoglykämien postprandial nach Fasten wurde beschrieben [6]. Ähnliche Fälle wurden wie hier deskriptiv abgehandelt [7].
Bei unserer Patientin müssen die hepatischen Glykogenreserven depletiert gewesen sein; ein bekanntes Phänomen bei anorektischen Patientinnen und Patienten [7]. Aufgrund des sarkopenen Zustandes konnte sie keine glukogenen Aminosäuren mobilisieren, durch die Hepatopathie war die Glukoneogenese eingeschränkt. Der fehlende Nachweis von Ketonkörpern und die nicht messbar tiefen Triglyzeride wiesen zudem auf fehlende Fettspeicher hin.
Unter der etablierten Therapie liess sich die metabolische Situation der Patientin kontrollieren und zumindest laborchemisch verbessern. Die schwere und wahrscheinlich über mehrere Stunden anhaltende Hypoglykämie ohne Anstieg der Ketonkörper führte dann auf dem Boden der bereits strukturell beeinträchtigten Hirnsubstanz zur persistenten metabolischen Enzephalopathie.

Das Wichtigste für die Praxis

• Anorexia nervosa ist mit einem hohen Anteil chronischer Verläufe und einer hohen Mortalität assoziiert.
• Schwere Hypoglykämien sind eine seltene Komplikation bei Anorexia nervosa, sie müssen grundsätzlich bei jeder Person mit verändertem Bewusstsein gesucht werden.
• Die Wiederaufnahme einer kalorienreichen Ernährung sollte medizinisch von einem interdisziplinären Team begleitet werden, Hypoglykämien können noch längere Zeit nach stabilisiertem Körpergewicht auftreten.
• Die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit einer langen und schweren Anorexia nervosa sollte auf Risikoreduktion und Verbesserung der Lebensqualität abzielen.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Reto Tobler
Innere Medizin
Kantonsspital Graubünden
Loestrasse 170
CH-7000 Chur
reto.tobler[at]ksgr.ch
1 Prävalenz von Essstörungen in der Schweiz, im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) [Internet]. 2012. Available from: http://www.bag.admin.ch
2 Arcelus J, Mitchel AJ, Wales J, Nielsen S. Mortality rates in patients with anorexia nervosa and other eating disorders. A meta-analysis of 36 studies. Arch Gen Psychiatry. 2011;68:724–31.
3 Gebhard S. Anorexia nervosa: Die neuen Herausforderungen. Swiss Med Forum. 2016;16(33):648–54.
4 Walsh BT, Attia E, Glasofer DR, Sysko R. Handbook of assessment and treatment of eating disorders. Arlington, VA: American Psychiatric Association, 2016.
5 Zipfel S, Giel KE, Bulik CM, Hay P, Schmidt U. Anorexia nervosa: etiology, assessment and treatment. Lancet Psychiatry. 2015;2(12):1099–111.
6 Seizaburo M, Masanori M, Ryotaro B, Isao M. Repeated Hypoglycemic Episodes with Postprandial Hyperinsulinemia after Recovery from Acute Weight Loss Revealed by Continuous Glucose Monitoring and the Oral Glucose Tolerance Test. The Japanese Society of Internal Medicine. Intern Med. 2018;57:697–700.
7 Smith J. Hypoglycemic coma associated with anorexia nervosa. Aust N Z Psychiatry. 1988;22:448–53.