«More (evaluation) is better» für Prognose und Prävention
Frailty

«More (evaluation) is better» für Prognose und Prävention

Kommentar
Ausgabe
2022/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09138
Swiss Med Forum. 2022;22(41):672-673

Publiziert am 12.10.2022

Das Lebensalter und das Vorliegen von Komorbiditäten liefern zwar einen ersten wichtigen Hinweis für die Prognose, gleichwohl ist nicht jeder ältere Mensch mit Komorbiditäten gebrechlich und umgekehrt.

In dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum stellen Gagesch et al. [1] eine Übersicht über das Konzept der «Frailty» («Gebrechlichkeit») vor, eines klinischen Syndroms, das das Ergebnis eines akkumulierten Abbaus in den physiologischen Prozessen mehrerer Systeme und Organe ist, was deren Funktion und die homöostatische Reserve beeinträchtigt. Diese Akkumulation verringert die Fähigkeit der gebrechlichen älteren Person zur Anpassung an ein gesundheitliches Problem und setzt sie dem Risiko eines breiten Spektrums unerwünschter Ereignisse aus: Stürze, Abnahme der Mobilitätsleistung und der funktionellen Unabhängigkeit im Alltag, Hospitalisierung, Institutionalisierung und Tod [2].
Laut den Autoren hat sich der Nutzen des Frailty-Konzepts, der sich lange auf die Gerontologie und Geriatrie beschränkte, heute auf die meisten medizinischen und chirurgischen Fachgebiete erweitert, da bestimmte Behandlungen und Interventionen nunmehr für ältere Menschen zugänglich sind, die noch vor einigen Jahren nicht dafür infrage kamen. Ein Aortenklappenersatz mittels «transcatheter aortic valve replacement» (TAVR), eine onkologische Kombinationstherapie oder auch eine einfache Antikoagulation sind zwar theoretisch möglich und technisch durchführbar, können jedoch zu einer Katastrophe bei älteren Personen führen, die a priori robust scheinen, aber vor der Behandlung nicht einer angemessenen Beurteilung unterzogen werden, die zeigen könnte, dass sie es eben nicht sind. Ein Merkmal der älteren Population ist ihre Heterogenität im Hinblick auf den Gesundheitszustand, die Erwartungen und Vorlieben bezüglich ihrer Pflege. Der Nutzen des Frailty-Konzepts liegt darin, dass man dadurch unter den robust scheinenden Personen jene identifizieren kann, die im Grunde gebrechlich sind, wodurch sie anfällig für einen negativen Verlauf im Falle eines unvorhergesehenen, akuten Gesundheitsereignisses, aber auch im Rahmen einer elektiven Intervention werden [3]. Die Einschätzung ihres Gebrechlichkeitsniveaus ermöglicht die Vorhersage und Antizipation eines erhöhten Risikos postoperativer Komplikationen [4], von Unverträglichkeit einer Chemo- oder Strahlentherapie [5] sowie von Blutungen [6] und gegebenenfalls die Anpassung des Behandlungsplans.
Das Lebensalter und das Vorliegen von Komorbiditäten liefern zwar einen ersten wichtigen Hinweis für die Prognose, gleichwohl ist nicht jeder ältere Mensch mit Komorbiditäten gebrechlich und umgekehrt. Eine aktuelle Studie zeigt die potentielle Bedeutung des Faktors Gebrechlichkeit – neben Lebensalter und Komorbiditäten ​– für die bessere Einschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeit unserer älteren Patientinnen und Patienten [7]. Dieser Studie zufolge wirkt sich das Gebrechlichkeitsniveau bei identischem Komorbiditätsniveau stark auf die Überlebenswahrscheinlichkeit aus. Demnach sinkt für einen 80-Jährigen ohne Komorbiditäten die Überlebenswahrscheinlichkeit nach fünf Jahren auf 82 bis 73%, falls er gebrechlich ist. Auch wenn dieser 80-Jährige erhebliche Komorbiditäten aufweist, ist eine allfällige Gebrechlichkeit ein unabhängiger Einflussfaktor der Überlebenswahrscheinlichkeit und verringert sie weiter auf 62 bis 49%. Das Erkennen einer zugrunde liegenden Gebrechlichkeit liefert nicht nur Hinweise zur Vorhersage der vorausschauenden Betreuung nach einer möglichen Intervention (etwa ob bereits im Vorfeld einer Intervention eine Rehabilitation geplant werden sollte), sondern ermöglicht auch allfällige Anpassungen, um unerwünschte Ereignisse zu minimieren, oder den Verzicht auf eine Intervention, deren Zeitspanne bis zum Eintreten des Nutzens («time to benefit») die Lebenserwartung der respektive des Betroffenen übersteigt.
Doch der Nutzen des Frailty-Konzepts beschränkt sich nicht nur auf Vorhersage und Prognose. Gagesch et al. weisen auch darauf hin, dass als gebrechlich erkannte Personen einer geriatrischen Gesamtbewertung unterzogen werden sollten, um veränderbare Faktoren zu identifizieren, auf die man mit dem Ziel einwirken kann, einem weiteren Abbau vorzubeugen und die funktionelle Entwicklung zu stabilisieren oder gar umzukehren.
Daten über die Wirksamkeit von Interventionen zur Primär- oder Sekundärprävention, die konkret auf Gebrechlichkeit abzielen, sind weiterhin wenig zahlreich und beschränken sich vor allem auf Interventionen in bestimmten Teilbereichen von Gebrechlichkeit, etwa Bewegung und Ernährung [8]. Manche Interventionen, die auf die zugrunde liegenden biologischen Mechanismen ausgerichtet sind (insbesondere die Veränderungen des Mitochondrienstoffwechsels [9]), scheinen zwar vielversprechend, bleiben aber Zukunftsmusik.
Angesichts der raschen Zunahme der Zahl älterer Menschen in der Schweiz sollten wir indes die politischen Massnahmen zur Primärprävention von Gebrechlichkeit durch Förderung von Bewegung und gesunder Ernährung stärken. Gleichzeitig sollten wir die Früherkennung von Gebrechlichkeit in bestimmten Gruppen älterer Menschen allgemein einführen, nach dem Vorbild mehrerer europäischer Länder, die beschlossen haben, diesem Problem aktiv zu begegnen. Gagesch et al. erinnern daran, dass dies in Spitälern bald der Fall sein sollte, und zwar mithilfe des «Swiss Frailty Network and Repository», das den Spitalärztinnen und -ärzten letztlich automatisch einen Gebrechlichkeitsindex ihrer Patientinnen und Patienten schon bei ihrer Aufnahme zur Verfügung stellen wird.
Diesbezügliche Strategien können aber nur dann wirksam sein, wenn der ärztliche Nachwuchs geeignet ausgebildet ist, um die Situation gebrechlicher älterer Menschen zu erfassen. Darum ist es erstaunlich, dass manche Weiterbildungscurricula für Allgemeine Innere Medizin keinen Kontakt mit geriatrischer Medizin vorsehen [10]. Darüber hinaus sollte die Beteiligung neuer Berufsgruppen, insbesondere der «Nurse Practitioner», ebenfalls dazu beitragen, auf den steigenden Pflegebedarf dieser gebrechlichen Personen besser zu reagieren.
Prof. Dr. med. Christophe J. Büla
Service de gériatrie & réadaptation gériatrique, Centre hospitalier universitaire vaudois, Lausanne
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Der Nutzen des Frailty-Konzepts liegt darin, dass man unter den robust scheinenden Personen jene identifizieren kann, die im Grunde gebrechlich sind.
© Yuri Arcurs / Dreamstime
Dr. M. Humbert für die Durchsicht und seine Vorschläge.
Der Autor hat deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Prof. Dr. med. Christophe J. Büla
Service de gériatrie & réadaptation gériatrique
Centre hospitalier universitaire vaudois
Ch. de Mont-Paisible 16
CH-1011 Lausanne
1 Gagesch M, Beck S, Freystätter G, Bischoff-Ferrari HA. Frailty – Ein geriatrisches Syndrom von grosser Bedeutung. Swiss Med Forum. 2022;22(41):674–677.
2 Clegg A, Young J, Iliffe S, Rikkert MO, Rockwood K. Frailty in elderly people. Lancet 2013;381:752–62.
3 Stuck AE. Frailty im Alter. Swiss Med Forum. 2022;22(07–08):116–18.
4 Kiani S, Stebbins A, Thourani VH, Forcillo J, Vemulapalli S, Kosinski AS, et al; STS/ACC TVT Registry. The effect and relationship of frailty indices on survival after transcatheter aortic valve replacement. JACC Cardiovasc Interv. 2020;13(2):219-31.
5 Kim DH, Pawar A, Gagne JJ, Bessette LG, Lee H, Glynn RJ, Schneeweiss S. Frailty and clinical outcomes of direct anticoagulants versus warfarin in older adults with atrial fibrillation. A cohort study. Ann Intern Med. 2021;174(9):1214–23.
6 Ethun CG, Bilen MA, Jani AB, Maithel SK, Ogan K, Master VA. Frailty and cancer: Implications for oncology surgery, medical oncology, and radiation oncology. CA Cancer J Clin. 2017;67(5):362–77.
7 Schoenborn NL, Blackford AL, Joshu CE, Boyd CM, Varadhan R. Life expectancy estimates based on comorbidities and frailty to inform preventive care. J Am Geriatr Soc. 2022;70(1):99–109.
8 Macdonald SH, Travers J, Shé ÉN, Bailey J, Romero-Ortuno R, Keyes M, et al. Primary care interventions to address physical frailty among community-dwelling adults aged 60 years or older: A meta-analysis. PLOS ONE. 2020;15(2):e0228821.
9 Buondonno I, Sassi F, Carignano G, Dutto F, Ferreri C, Pili FG, et al. From mitochondria to healthy aging: The role of branched-chain amino acids treatment: MATeR a randomized study. Clin Nutr. 2020;39(7):2080–91.
10 Streit S, Perrig M, Rodondi N, Aujesky D. Das Berner Curriculum für Allgemeine Innere Medizin. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(21):649–51.