Intoxikation mit Ricinus communis
Tatort Faktencheck

Intoxikation mit Ricinus communis

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09155
Swiss Med Forum. 2022;22(3132):522-523

Affiliations
Institut für Intensivmedizin, Universitätsspital Zürich, Zürich

Publiziert am 02.08.2022

Ein Patient Anfang 30 stellte sich in Begleitung aufgrund von Erbrechen und Diarrhoe auf einer Notfallstation vor.

Fallbericht

Anamnese

Ein Patient Anfang 30 stellte sich in Begleitung aufgrund von Erbrechen und Diarrhoe auf einer Notfallstation vor. Etwa zwölf Stunden zuvor hatte er 20 Rizinussamen (Ricinus communis) in suizidaler Absicht gut zerkaut geschluckt. Die Idee zum Suizid mit Rizinus­samen stammte aus der Kriminalfilmreihe «Tatort». In einer Folge wurde Ricinus communis als ein tödliches Agens ohne entsprechendes Gegenmittel präsentiert. Der Patient hatte im Internet bei einem Händler für Gartenbedarf Saatgutbeutel mit Samen von Ricinus communis bestellt. Zwei Stunden nach Einnahme begannen gastroenteritische Symptome mit wiederholtem Erbrechen und nicht blutiger Diarrhoe, die auch noch beim Eintreffen auf der Notfallstation anhielten.

Status und Befunde

Auf der Notfallstation präsentierte sich ein wacher, orientierter Patient, der nun angab, die suizidale Handlung zu bereuen. In der klinischen Untersuchung fand sich ein leicht diffus druckdolentes Abdomen bei anhaltender Übelkeit und Diarrhoe.
Die Blutgasanalyse zeigte eine respiratorisch knapp kompensierte metabolische Azidose (pH 7,309, pO2 12 kPa, pCO2 3,99 kPa, HCO3- 16,7 mmol/l). Im Labor fanden sich eine akute Niereninsuffizienz Stadium 2 nach KDIGO1 (Kreatinin 186 μmol/l; Vorwert 77 μmol/l), ein Hämatokrit von 53% sowie deutlich erhöhte Entzündungsparameter und eine ausgeprägte Leukozytose mit Linksverschiebung (C-reaktives Protein 27 mg/l, Procalcitonin 2,82  μg/l, Leukozyten 29,4 G/l).

Diagnose und Therapie

Diese Befunde wurden im Rahmen der Dehydratation (Erbrechen, Diarrhoe) als Folge der Intoxikation mit ­Ricinus communis gewertet. Bei fehlendem spezifischem Antidot und verstrichenem Zeitfenster für die Gabe von Aktivkohle wurde eine Rehydration mit Ringerfundin® begonnen. Der Patient wurde zur weiteren Überwachung nach Intoxikation, sowie bei nicht auszuschliessender wiederkehrender Suizidalität, auf die Intensivstation aufgenommen.

Verlauf

Der weitere Verlauf gestaltete sich unauffällig. Unter Flüssigkeitssubstitution normalisierten sich die metabolische Azidose und die Nierenfunktion. Die unblutige Diarrhoe hielt in abnehmender Intensität für vier Tage an. Der Patient konnte nach vier Tagen freiwillig in eine stationäre psychiatrische Weiterbetreuung verlegt werden. Bei Verlegung konnten laborchemisch und klinisch keine bleibenden Schäden als Folge der Intoxikation dokumentiert werden.

Diskussion

Ricinus communis, der Wunderbaum oder auch die Christuspalme, gehört zu den Wolfsmilchgewächsen und stammt ursprünglich aus dem tropischen Afrika. In den Tropen ist es eine mehrjährige Pflanze, die bis zu acht Meter hoch werden kann. In gemässigten ­Klimazonen wächst Ricinus communis als einjährige Pflanze. Neben seiner Verwendung als Zierpflanze wird aus den Samen das Rizinusöl gewonnen. Dieses farblose bis leicht gelbliche Öl schmeckt mild und wirkt stark abführend. Neben seinem Einsatz als Abführmittel wird Rizinusöl auch zur Herstellung von Farben, Lacken und Motorölen verwendet. Die Samen des Wunderbaums enthalten das hochgiftige Protein Rizin. Dieses verbleibt bei der Produktion von Rizinusöl in den Rückständen der Samen (Presskuchen), sodass Rizinusöl weitgehend frei von Rizin ist. Das im Presskuchen enthaltene Rizin muss vor einer weiteren Verwendung (etwa als Dünger) inaktiviert werden (zum Beispiel durch Erhitzen auf 80 °C für 10 Minuten). Der Gehalt an Rizin in den Samen des Wunderbaums wird mit 1–5% angegeben [1, 2].
Rizin gehört in die Gruppe der Ribosomen-inaktivierenden Proteine. Es besteht aus einer A- und B-Kette, die durch eine Disulfidbrücke verbunden sind. Die Bindung der B-Kette an Glykoproteine und Glykolipide der Zellmembran führt zur Endozytose des Toxins. Im Zellinneren unterbricht die A-Einheit des Rizins die Proteinsynthese durch irreversible Inaktivierung der Ribosomen, was letztlich zum Zelltod führt [1].
In der Literatur sind Intoxikationen mit Rizin nach oraler, parenteraler oder inhalativer Aufnahme beschrieben. Basierend auf Tierversuchen wird die letale Dosis von Rizin mit 3–5 μg/kg Körpergewicht (KG) für Inhalation, 5–10 μg/kg KG für Injektion und 1–30 μg/kg KG für orale Einnahme angegeben [3]. Aufgrund des unterschiedlichen Rizingehaltes, der unterschiedlichen Grös­se der Samen, dem unterschiedlichen Feuchtigkeits­gehalt der Samen und dem Einfluss durch die unterschiedliche Zerkleinerung (Zerbeissen/Zerkauen) ist es schwierig, das Ausmass der Vergiftung anhand der Anzahl der eingenommenen Samen abzuschätzen [1]. Die minimale Anzahl Samen, die in einem Fallbericht zum Tod eines Patienten geführt hatte, betrug zwei ­Samen [4]. Dies ist jedoch kritisch zu hinterfragen, da andererseits auch ein Fallbericht existiert, in dem ein Patient 200 Samen von Ricinus communis eingenommen hatte und nur eine milde Symptomatik entwickelte [3].
Nach oraler Einnahme von Samen ist mit einem toxischen Effekt zu rechnen, wenn sie gründlich zerkaut wurden und somit das sich vornehmlich im Mark befindliche Gift Rizin freigesetzt wird. Nach Einnahme von Rizin kommt es meist innerhalb von sechs Stunden zu gastrointestinalen Symptomen (Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe, abdominelle Schmerzen, in schweren Fällen bis hin zu Hämatemesis und hämorrhagischer Diarrhoe), was schliesslich zu einer schweren Dehydratation und sogar zum hypovolämen Schock führen kann. Des Weiteren kann es zu Leber­insuffizienz, Niereninsuffizienz und Tod durch Multiorganversagen kommen. In den meisten beschriebenen Fällen bleibt jedoch die Symptomatik nach oraler Einnahme von Rizinussamen, wie in diesem Fall, auf eine unterschiedlich schwer verlaufende Gastroenteritis beschränkt [1, 4, 5].
Es existieren auch einige Fallberichte über eine parenterale Verabreichung von Rizin. Nach parenteraler Verabreichung kommt es zu einer lokalen Reizung bis hin zur Gewebsnekrose mit starken Schmerzen an der Eintrittspforte. Im weiteren Verlauf kann es zu einem allgemeinen Krankheitsgefühl mit Fieber und Erbrechen kommen. Nach parenteraler Rizinapplikation werden auch foudroyante Krankheitsverläufe mit Multiorganversagen und Todesfolge innerhalb von 36–48 Stunden beschrieben. Eine historische Anekdote für eine parenterale Intoxikation mit Rizin ist der sogenannte «umbrella murder». 1973 wurde der bulgarische Regimekritiker Georgi Markov in London Opfer eines Gift­anschlags, wobei angeblich aus einem Regenschirm eine kleine Kugel abgefeuert wurde, die in seinen Oberschenkel eindrang. Markov verstarb drei Tage nach dem Attentat. Aufgrund des klinischen Verlaufs wurde später ­Rizin als ursächliches Gift vermutet, obwohl dies nie bewiesen werden konnte [2, 4, 5].
Inhaliertes Rizin führt zu schweren respiratorischen Symptomen (Schwellung der Schleimhäute, Bronchospasmus, Lungenödem). Die ersten Symptome treten etwa acht Stunden nach Exposition auf und können rasch zu einer respiratorischen Verschlechterung bis hin zum Tod führen. Als biologische Waffe könnte ­Rizin in inhalativer Form eingesetzt werden. Rizin hat deshalb in den letzten Jahren auch vermehrte Aufmerksamkeit als mögliche biologische Waffe erhalten. Begünstigend ist der Wunderbaum weit verfügbar und das Gift Rizin einfach zu gewinnen, was es als biologische Waffe attraktiv macht. Entsprechend ist Rizin im Chemiewaffenübereinkommen (Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsetzten chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen) aufgeführt [4, 5].
Es gibt kein spezifisches Antidot für eine Rizinintoxikation. Nach oraler Einnahme kann die Verabreichung von Aktivkohle erwogen werden, wenn der Betroffene kurzzeitig nach Intoxikation (<1 Stunde) vorstellig wird und noch keine gastrointestinale Symptomatik besteht. Jedoch ist ungeklärt, ob Rizin durch Aktivkohle gebunden werden kann [1]. Aufgrund seines hohen Molekulargewichts (60–65 kDa) ist Rizin auch nicht dialysierbar [3]. Die Behandlung ist unabhängig von der Expositionsroute unterstützend und richtet sich nach der Symptomatik. Nach oraler Intoxikation sind der Flüssigkeits- und Elektrolytersatz wichtig. Nach inhalativer Exposition steht die Atemwegsunterstützung im Vordergrund [2].
Gemäss Tox Info Suisse wurden von 01/2000 bis 12/2021 32 Fälle einer Intoxikation mit Ricinus communis in der Schweiz gemeldet. Davon sind 7 Fälle ohne Symptome, 13 Fälle leicht, 11 Fälle mittelschwer sowie 1 Fall schwer verlaufen. Bei letzterem war es nach einer subkutanen Injektion von Rizin zu einer Zellulitis gekommen [6].

Das Wichtigste für die Praxis

• Rizinussamen sind sehr einfach und für alle erhältlich.
• Eine orale Aufnahme der Samen führt typischerweise zu mehr oder weniger schweren gastroenteritischen Symptomen.
• Da Rizin besonders im Mark der Samen vorhanden ist, wird es bei oraler Einnahme erst durch Zerkauen oder Zerkleinern der Samen freigesetzt.
• Im Gegensatz zur oralen Einnahme von Rizinussamen hat eine parenterale oder inhalative Exposition mit reinem Rizin oft eine schwere oder tödlich verlaufende Intoxikation zur Folge.
• Es gibt kein spezifisches Antidot, daher bleibt die Therapie unterstützend.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. univ.
Katharina Enthofer
Institut für Intensivmedizin
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
OPS B 19
CH-8091 Zürich
katharina.enthofer[at]usz.ch
1 Audi J, Belson M, Patel M, Schier J, Osterloh J. Ricin poisoning: a comprehensive review. JAMA. 2005;294(18):2342–51.
2 Bradberry S, Dickers K, Rice P, Griffiths G, Vale J. Ricin poisoning. Toxicol Rev. 2003;22:6570.
3 Lopez Nunez OF, Pizon AF, Tamama K. Ricin poisoning after oral ingestion of castor beans: A case report and review of the literature and laboratory testing. J Emerg Med. 2017;53:e67–71.
4 Musshoff F, Madea B. Ricin poisoning and forensic toxicology. Drug Test Anal. 2009;1:184–91.
5 Robert Koch Institut. Rizin-Intoxikation. 10/2018 https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Rizin.html
6 Persönliche Mitteilung von Dr. med. Colette Degrandi, Tox Info Suisse, am 24.10.2018 und 28.06.2022.