Von-Hippel-Lindau-Erkrankung
Interdisziplinäre Betreuung und neue therapeutische Optionen

Von-Hippel-Lindau-Erkrankung

Übersichtsartikel
Ausgabe
2022/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09159
Swiss Med Forum. 2022;22(48):784-787

Affiliations
Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen: a Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie, b Klinik für Nephrologie und Transplantationsmedizin, c Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie, d Klinik für Neurochirurgie, e Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Endokrin- und Transplantationschirurgie, f Klinik für Urologie, g Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin, h Institut für Pathologie, i Augenklinik, j Klinik für Endokrinologie, Diabetologie, Osteologie und Stoffwechselerkrankungen, k Hals-Nasen-Ohrenklinik, l Klinik für Neurologie; m Hämatologie & Onkologie, Ostschweizer Kinderspital St. Gallen, St. Gallen; n Institut für Medizinische Genetik und Pathologie, Universitätsspital Basel, Basel

Publiziert am 30.11.2022

Die Von-Hippel-Lindau-Erkrankung ist ein seltenes, autosomal-dominant vererbtes Tumorprädispositionssyndrom. Durch standardisierte Vorsorge sollen asymptomatische Tumorstadien erkannt und frühzeitig behandelt werden.

Einführung

Die Von-Hippel-Lindau-(VHL-)Erkrankung ist eine Multisystemerkrankung, die autosomal-dominant vererbt wird und mit dem Auftreten multipler, meist gutartiger Tumoren und Zysten, aber auch maligner Tumoren einhergeht (Tab. 1).
Tabelle 1: Wann sollte an das Von-Hippel-Lindau-(VHL-)Syndrom gedacht werden?
Klinische ManifestationWann an VHL denken?Typisches Erkrankungsalter [9]Häufigkeit bei VHL [9]
Nierenzellkarzinom und NierenzystenBilaterale und/oder multifokale Nierenzellkarzinome
Erstdiagnose mit ≤45 Jahren
≥2 Familienangehörige mit Nierenzellkarzinom
Andere VHL-typische Manifestationen
25–50 Jahre25–60%
HämangioblastomeZerebrale und spinale Hämangioblastome18–35 Jahre10–72% (je nach Lokalisation)
Retinale Hämangioblastome12–25 Jahre25–60%
Endolymphatische SacktumorenHörverlust, Tinnitus, Schwindel12–45 Jahre10–25%
PankreasläsionenBei neuroendokrinen Pankreastumoren und/oder multiplen Pankreaszysten24–35 Jahre35–70%
Phäochromozytome und ParagangliomeV.a. in Kombination mit anderen VHL-typischen Manifestationen und/oder positiver Familienanamnese12–25 Jahre10–20%
NebenhodenzystadenomeGutartige, oft bilaterale Tumoren des Nebenhodens14–40 Jahre25–60% der Männer
Zystadenome des Ligamentum latumGutartige Tumoren des Ligamentum latum16–46 JahreCa. 10% der Frauen
Die Veranlagung wird durch pathogene Keimbahnvarianten im VHL-Gen verursacht. Die Inzidenz liegt bei 1 : 36 000 Neugeborenen, die Prävalenz bei 1–9/100 000 in Europa [1, 2]. Die VHL-Erkrankung weist mit dem Auftreten klinischer Symptome bei über 90% der Betroffenen bis zum 65. Lebensjahr eine hohe Pene-tranz auf. Häufig entwickeln sich die ersten Tumoren in der Adoleszenz. Entsprechend dem autosomal-dominanten Vererbungsmodus haben Nachkommen eine Wahrscheinlichkeit von 50%, die pathogene VHL-Variante vom betroffenen Elternteil zu erben. Bei etwa 20% der Betroffenen ist die pathogene VHL-Variante neu (de novo) entstanden. Das frühzeitige Erkennen von Trägerinnen und Trägern der VHL-Veranlagung und die enge, regelmässige Betreuung durch ein erfahrenes, interdisziplinäres Team sind entscheidend für die Reduktion der krankheitsspezifischen Morbidität, den Erhalt der Lebensqualität und die Prognose [3].
Das evolutionär hochkonservierte VHL-Gen gehört zu den Tumorsuppressor-Genen und liegt auf dem kurzen Arm von Chromosom 3 (3p25.3). Das VHL-Protein (pVHL) ist an zahlreichen Signalwegen beteiligt und besteht aus zwei Isoformen, die beide Tumorsuppressoraktivität besitzen. pVHL unterstützt unter anderem den Abbau der «Hypoxia-inducible factors» (HIF), die eine wichtige Rolle beim Auftreten der verschiedenen VHL-Läsionen einnehmen.
Die VHL-Erkrankung wird häufig anhand klinischer Kriterien diagnostiziert, beispielsweise bei positiver Familienanamnese und einer oder mehreren VHL-typischen Läsionen (zwei oder mehr Läsionen des Zentralnervensystems [ZNS] oder eine ZNS-Läsion in Kombination mit einer viszeralen Manifestation). Auch beim Auftreten isolierter, typischer Läsionen sollte zumindest an eine VHL-Erkrankung gedacht werden. Vor einer genetischen Testung muss eine genetische Beratung erfolgen, bei der neben den medizinischen unter anderem auch psychosoziale Aspekte für die Patientinnen und Patienten sowie die Angehörigen erörtert werden. Der Nachweis einer pathogenen VHL-Keimbahnvariante erlaubt in der Folge auch den (gesunden) Familienmitgliedern, sich genetisch beraten und testen zu lassen (Tab. 2) [4].
Tabelle 2: Kriterien für die genetische Beratung und Testung
Indikation für die humangenetische Beratung/Testung
Positive Familienanamnese und eine VHL-assoziierte Manifestation
Negative Familienanamnese und zwei VHL-assoziierte Manifestationen
VHL-Manifestationen
Retinale Angiome
Zerebrale oder spinale Hämangioblastome
Endolymphatische Sacktumoren
Nierenzellkarzinome
Phäochromozytome, Pankreaszysten und/oder neuroendokrine Pankreastumoren
Nebenhodenzystadenome
Vorliegen eines Nierenkarzinoms und mindestens eines der folgenden Kriterien:
Erstdiagnose mit ≤45 Jahren
Bilaterale oder multifokale Nierenzellkarzinome
Positive Familienanamnese mit ≥2 Angehörigen mit Nierenzellkarzinom
VHL: von Hippel-Lindau
Die Prognose der Erkrankung ist massgeblich abhängig von den konkreten Manifestationen und der Progredienz der Tumoren.

VHL-Manifestationen

Die VHL-Läsionen finden sich vorwiegend im ZNS, an der Netzhaut der Augen und in den viszeralen Organen.
ZNS-Hämangioblastome treten bei einem Grossteil der Merkmalsträgerinnen und -träger auf und sind häufig der erste Manifestationsort der Erkrankung. Bevorzugt finden diese sich zerebellär, im Hirnstamm sowie im Rückenmark. ZNS-Hämangioblastome sind gefässreiche Tumoren, häufig einhergehend mit einer Zystenbildung. Regelmässige neurologische Untersuchungen sowie zerebrale und spinale Magnetresonanztomographie-(MRT-)Aufnahmen sind unerlässlich, um den optimalen Zeitpunkt für ein neurochirurgisches oder radioonkologisches Vorgehen zu terminieren. Bei stark raumfordernder Wirkung in der hinteren Schädelgrube können rasch lebensbedrohliche Situationen entstehen. Hirnstamm-Hämangioblastome gehören aufgrund ihrer hohen intraoperativen Blutungsneigung und der wichtigen Funktion dieser Hirnregion zu den am schwierigsten zu operierenden Läsionen. Neben einem Behandlungszentrum mit Erfahrung ist ein interdisziplinäres VHL-Board obligatorisch, um therapeutische Entscheidungen multidisziplinär abzusichern und therapeutische Alternativen zu diskutieren.
Retinale kapilläre Angiome treten häufig auf, können aber lange asymptomatisch bleiben. Retinale Exsudationen, Netzhautablösungen, Glaskörper- oder retinale Blutungen können zu einer Visuseinschränkung führen. Da eine frühzeitige (Laser-)Behandlung der Läsionen mit einer besseren Prognose einhergeht, sind regelmässige ophthalmologische Screening-Untersuchungen unerlässlich.
Die insgesamt eher seltenen endolymphatischen Sacktumoren (ELST) sind häufig asymptomatisch. Bei Grössenzunahme führen sie zu einem in der Regel langsam progredienten Hörverlust. Tinnitus, Schwindel und Ohrdruck können Frühsymptome sein. ELST metastasieren in der Regel nicht, zeigen aber lokal ein destruierendes und infiltratives Wachstum. Bei Tumoren mit limitierter Ausdehnung kann eine frühzeitige chirurgische Entfernung einen Hörverlust verhindern.
Nierenzellkarzinome sind oftmals die einzige maligne Tumorentität bei der VHL-Erkrankung. Sie treten häufig multipel und bilateral auf und sind histologisch ausschliesslich vom klarzelligen Typ. Eine Operation (OP) sollte bei Tumoren >3 cm angestrebt werden. Falls eine Resektion aufgrund des Grössenwachstums oder der Lage notwendig ist, sollte ein Nephron-schonendes operatives Vorgehen gewählt werden. In manchen Zentren wird eine OP erst ab 4 cm empfohlen. Mikrowellenablation, Radiofrequenzablation oder Kryotherapie kommen nur in besonderen Fällen abhängig von der Lokalisation und Grösse des Tumors infrage. Der Verlust der Nierenfunktion ist nicht immer zu verhindern und Nierenersatzverfahren oder eine Nierentransplantation können im Verlauf indiziert sein. Eine Transplantation ist bei VHL-assoziierten Nierenzellkarzinomen zwar prinzipiell möglich, jedoch aufgrund des Metastasierungsrisikos und der Gefahr von Zweittumoren (insbesondere Phäochromozytome sowie neuroendokrine Tumoren) kritisch abzuwägen. Hier ist ein kompetenter Diskurs im multidisziplinären Team erforderlich.
Phäochromozytome sind insbesondere bei kleineren Tumoren häufig asymptomatisch. Die Symptomatik entsteht durch die erhöhte Konzentration der durch den Tumor freigesetzten Katecholamine und die Erkrankung kann unter anderem mit Hypertonie, Tachykardie, Palpitationen sowie Herzrhythmusstörungen einhergehen. Weiterhin können unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Flush, Unruhe, Schweissausbrüche, Hyperglykämie, Gewichtsverlust oder Müdigkeit auftreten. Die Therapie der Wahl ist die chirurgische Tumorresektion. Da Phäochromozytome im Rahmen der VHL-Erkrankung synchron oder metachron in beiden Nebennieren auftreten können und meist benigner Natur sind, kann je nach Lage und Grösse des Phäochromozytoms eine Nebennierenrinden-sparende Resektion zur Verhinderung einer mittelfristigen Nebenniereninsuffizienz erwogen werden. Neben den Phäochromozytomen können auch Paragan-gliome als Manifestationsort der VHL-Erkrankung auftreten.
Pankreasläsionen treten im Verlauf bei einem Grossteil der VHL-Betroffenen auf. Die wichtigsten Veränderungen sind Pankreaszysten oder seröse Zystadenome. Letztere sind meist harmlos und zeigen keine Entartungstendenz. Als solide Läsionen können neuroendokrine Tumoren (pNET) auftreten, die meist nicht hormonell aktiv sind. Bei einer Ausdehnung von ≥3 cm oder raschem Wachstum sollte interdisziplinär eine Operationsindikation erwogen werden. Bei Metastasierung oder fehlender Möglichkeit zur Resektion muss gelegentlich auch systemisch behandelt werden.

Diagnosesicherung

Bei Verdacht auf das Vorliegen einer VHL-Erkrankung und erfüllten klinischen Kriterien sollte nach humangenetischer Beratung eine molekulargenetische Testung auf VHL-Varianten erfolgen. Eine pathogene VHL-Variante kann bei einem Grossteil der Patientinnen und Patienten mit Vorliegen der klinischen Kriterien nachgewiesen werden. Bei Nachweis einer Keimbahnmutation sollten auch die Nachkommen einer humangenetischen Beratung zugewiesen werden. Da manche VHL-Läsionen sich schon im Kindesalter manifestieren, jedoch lange asymptomatisch bleiben können, sollte mit dem entsprechenden Screening bereits im Kindesalter begonnen werden.

Interdisziplinäre Betreuung von Trägerinnen und Trägern der VHL-Mutation

Die Betreuung von Trägerinnen und Trägern der VHL-Mutation sowie von VHL-Erkrankten stellt eine Herausforderung dar und sollte durch ein erfahrenes Team interdisziplinär erfolgen. Für die Betroffenen besteht das lebenslange Risiko, an einer oder mehreren VHL-assoziierten Läsionen zu erkranken, verbunden mit dem Wissen um damit möglicherweise einhergehende multiple und belastende Eingriffe sowie der Sorge wegen körperlicher Einschränkungen.
Am Kantonsspital St. Gallen wird bereits langjährig eine grosse Kohorte von VHL-Betroffenen durch ein multidisziplinäres Team betreut, das die regelmässig erforderlichen Früherkennungsuntersuchungen koordiniert (Tab. 3 und 4), eine Transition von der Pädiatrie zur Erwachsenenmedizin (Adoleszentensprechstunde) sicherstellt und eine humangenetische Beratung anbietet. Zudem ermöglichen die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit und die regelmässigen Konferenzen (VHL-Board sowie organspezifische Boards) eine individuelle Betreuung der einzelnen Betroffenen. Ziel ist eine effiziente und enge Betreuung, sodass frühzeitig Massnahmen und Therapien bei neu aufgetretenen Läsionen eingeleitet werden können.
Tabelle 3: Übersicht über die jährliche Vorsorge bei Erwachsenen mit Von-Hippel-Lindau-Syndrom (ab 18 Jahren)
Untersuchung
Anamnese, klinische Untersuchung mit Vitalzeichen
Laboruntersuchung (Blutbild; klinische Chemie, inklusive Metanephrine)
MRT des Neurokraniums, inklusive Felsenbein und Neuroachse, mit Kontrastmittel
MRT des ganzen Abdomens mit Kontrastmittel
Untersuchung des Augenhintergrunds
Baseline Audiometrie, bei ELST dann jährlich
MRT: Magnetresonanztomographie; ELST: endolymphatische Sacktumoren.

Tabelle 3 ist als Empfehlungen zu verstehen. Je nach Symptomatik und Befunden muss die Vorsorge angepasst und die Untersuchungsfrequenz gegebenenfalls erhöht werden.
Tabelle 4: Übersicht über die jährliche Vorsorge von Kindern mit Von-Hippel-Lindau-Syndrom (in Abhängigkeit vom Alter)
UntersuchungAlter
Anamnese, klinische Untersuchung mit VitalzeichenBeginn so früh wie möglich
Laboruntersuchung (Blutbild; klinische Chemie, inklusive Metanephrine)Ab 8–10 Jahren (sobald Blutentnahme für das Kind stressfrei möglich ist, alternativ Bestimmung der Metanephrine im Urin)
MRT des Neurokraniums, inklusive Felsenbein und Neuroachse, mit KontrastmittelAb 12 Jahren
MRT des ganzen Abdomens mit KontrastmittelAb 12–16 Jahren, je nach Risiko eventuell auch früher. Ab 8–10 Jahren Abdomen-Sonographie durch erfahrenen Kinderradiologen.
Untersuchung des AugenhintergrundsAb 5–6 Jahren
AudiometrieBei Diagnosestellung und bei Symptomen bzw. ELST im MRT jederzeit als Baseline.
Nur bei ELST: jährlich
MRT: Magnetresonanztomographie; ELST: endolymphatische Sacktumoren

Tabelle 4 ist als Empfehlungen zu verstehen. Je nach Symptomatik und Befunden muss die Vorsorge angepasst und die Untersuchungsfrequenz gegebenenfalls erhöht werden.
Neben der engen ärztlichen Betreuung haben Betroffene zudem die Möglichkeit, ihre Krankengeschichte in ein VHL-Register aufnehmen zu lassen. Das VHL-Register dient dazu, einen Überblick über die Ausprägung der VHL-Erkrankung im deutschsprachigen Raum zu erhalten. Auch können sich hierdurch Möglichkeiten zur Teilnahme an Studien ergeben.

Belzutifan als neue therapeutische Option

Die systemtherapeutischen Optionen bei VHL-assoziierten Läsionen, die einer lokalen Therapie nicht zugänglich sind oder bei denen die Lokaltherapie mit potentiell schwerwiegenden Komplikationen verbunden ist, sind beschränkt.
Die Pathogenese der VHL-Erkrankung wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht [5]. Pathogene Keimbahnvarianten im VHL-Gen resultieren in einem Funktionsverlust einer der beiden VHL-Kopien/-Allele. Damit es zum kompletten Funktionsverlust des pVHL und somit zur Tumorentstehung kommt, ist der Verlust des zweiten Allels erforderlich. pVHL bildet einen Komplex mit anderen Proteinen, der den Abbau seiner Zielproteine steuert. HIF-Proteine sind Transkriptionsfaktoren, deren Abbau durch pVHL beeinflusst wird. Die durch HIF regulierten Gene wiederum haben wesentlichen Einfluss auf Schlüsselprozesse des Zellmetabolismus [6]. Bei VHL-Betroffenen kommt es durch den fehlenden pVHL-gesteuerten Abbau von HIF zu einer übermässigen Aktivierung der durch HIF regulierten Gene, die die Tumorentstehung fördern. In den letzten Jahren zeigt sich zunehmend, dass HIF-2α massgeblich an der Entstehung von Nierenzellkarzinomen, aber auch der anderer VHL-Läsionen beteiligt ist [7].
Mit der Entwicklung von Belzutifan (MK-6482) als Inhibitor von HIF-2α ergibt sich nun erstmals eine zielgerichtete Therapieoption (Abb. 1). Im Rahmen einer offenen, einarmigen Phase-II-Studie mit 61 Patientinnen und Patienten mit VHL-Erkrankung und Nierenzellkarzinom konnte ein objektives Ansprechen von 49% gemäss «Response Evaluation Criteria In Solid Tumors»-(RECIST-)Kriterien dokumentiert werden (primärer Endpunkt der Studie), bei 92% der teilnehmenden Patientinnen und Patienten konnte insgesamt eine Verkleinerung der Tumoren festgestellt werden [8]. Auch andere VHL-assoziierte Läsionen sprachen an (Pankreastumoren 77%; pNET 91%; Hämangioblastome 30%), und dies bei guter Therapieverträglichkeit. Ebenso konnte bei 100% der Betroffenen mit Retinabefall eine Stabilisierung oder Verbesserung nachgewiesen werden. Häufige Nebenwirkungen von Belzutifan sind Anämie, Müdigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit und Dyspnoe. Zusammenfassend ergibt sich mit der Entwicklung von Belzutifan erstmals eine zielgerichtete Therapieoption für Patientinnen und Patienten mit Nierenzellkarzinom und anderen VHL-assoziierten Veränderungen.
Abbildung 1: HIF-1β und HIF-2α bilden im Zellkern ein Heterodimer und führen somit zur Induktion ihrer Zielgene. Bei defektem pVHL werden HIFs aufgrund der fehlenden Ubiquitinierung durch pVHL nicht mehr vereinfacht durch das Proteasom abgebaut. Belzutifan verhindert als HIF-2α-Inhibitor die notwendige Heterodimer-Bildung und somit die Induktion der HIF-induzierten Gene.
HIF: hypoxia-inducible factor; pVHL: Von-Hippel-Lindau-Protein.
Bisher ist Belzutifan in der Schweiz noch nicht zugelassen, für die Betroffenen soll der Zugang bald via Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) Art. 71c gewährleistet werden. In den USA besteht mittlerweile eine Zulassung der «Food and Drug Administration» (FDA) für Belzutifan bei VHL-assoziierten Nierenzellkarzinomen, ZNS-Hämangioblastomen oder pNET, die keine sofortige chirurgische Behandlung erfordern. Im Vereinten Königreich ist Belzutifan inzwischen auch bei VHL-assoziierten klarzelligen Nierenzellkarzinomen zugelassen.

Ausblick

Mit der Entwicklung von Belzutifan ergibt sich eine neue Behandlungsoption bei VHL, deren Verfügbarkeit in der Schweiz bald erwartet wird. Neben der bestehenden Evidenz der Wirksamkeit bei Nierenzellkarzinomen zeigen auch andere VHL-Läsionen ein Ansprechen auf Belzutifan bei günstigem Nebenwirkungsprofil. Bisher noch nicht untersucht wurde, ob unter Therapie mit Belzutifan die Entstehung neuer Läsionen sogar verhindert werden kann. Die Entwicklung von Resistenzmechanismen ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Dennoch ist davon auszugehen, dass Belzutifan als gut verträgliche Monotherapie die Behandlung von Betroffenen verändern wird. Eine Herausforderung in der Behandlung mit Belzutifan wird sicher sein, den optimalen Beginn der Therapie festzulegen und bei gutem Ansprechen den Zeitpunkt einer dann möglichen Lokaltherapie nicht zu verpassen.
Im Hinblick auf ein zeitgemässes Management der Patientinnen und Patienten ist neben den klinischen Konsultationen ergänzend eine Videosprechstunde am Kantonsspital St. Gallen geplant, um den zeitlichen Aufwand für die Betroffenen zu minimieren und die Vorsorge- und Therapieadhärenz zu steigern. Insbesondere bei weiter Anreise oder bei Auslandsaufenthalten kann so aufgrund der Implementierung neuer, telemedizinischer Versorgungsstrukturen die engmaschige Betreuung bereits bekannter Patientinnen und Patienten optimiert und individuell angepasst werden.

Das Wichtigste für die Praxis

Die Von-Hippel-Lindau-(VHL-)Erkrankung ist eine Multisystemerkrankung, die mit dem Auftreten verschiedener gut- und bösartiger Tumoren einhergeht.
Prognosebestimmend und für die Betroffenen besonders belastend ist das Auftreten des VHL-assoziierten Nierenzellkarzinoms.
Die Betreuung der Betroffenen sollte durch ein interdisziplinäres Team erfolgen und erfordert regelmässige, zentral gesteuerte und koordinierte Früherkennungsuntersuchungen.
Mit Belzutifan ist erstmals eine zielgerichtete, systemische Therapie in den USA und dem Vereinten Königreich zugelassen, die nicht nur bei Nierenzellkarzinomen, sondern auch bei anderen VHL-Läsionen wirksam ist.
Kira-Lee Koster
Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
CR: Beratungshonorare an Institut von Pfizer, Bristol-Myers Squibb, MSD Oncology, Bayer Schweiz und IPSEN. IB: Zuschüsse an Institut für Expertenbeiträge beim MSD-Forum. DE: Beraterhonorare von MSD Sharp Dohme. IK: Vortragshonorar von Amgen/UCB. TH: Förderung von Bayer Schweiz und vom Verein VHL Deutschland; Berater von Alexion, Sanofi, Amicus und MSD. Die anderen Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Kira-Lee Koster
Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
CH-9007 St. Gallen
1 Lonser RR, Glenn GM, Walther M, Chew EY, Libutti SK, Linehan WM, Oldfield EH. von Hippel-Lindau disease. Lancet. 2003;361(9374):2059–67.
2 Maher ER, Yates JR, Harries R, Benjamin C, Harris R, Moore AT, Ferguson-Smith MA. Clinical features and natural history of von Hippel-Lindau disease. Q J Med. 1990;77(283):1151–63.
3 Schmid S, Gillessen S, Binet I, Brändle M, Engeler D, Greiner J, et al. Management of von hippel-lindau disease: an interdisciplinary review. Oncol Res Treat. 2014;37(12):761–71.
4 Nielsen SM, Rhodes L, Blanco I, Chung WK, Eng C, Maher ER, et al. Von Hippel-Lindau disease: genetics and role of genetic counseling in a multiple neoplasia syndrome. J Clin Oncol. 2016;34(18):2172–81.
5 Kim WY, Kaelin WG. Role of VHL gene mutation in human cancer. J Clin Oncol. 2004;22(24):4991–5004.
6 Schofield CJ, Ratcliffe PJ. Oxygen sensing by HIF hydroxylases. Nat Rev Mol Cell Biol. 2004;5(5):343–54.
7 Barry RE, Krek W. The von Hippel-Lindau tumour suppressor: a multi-faceted inhibitor of tumourigenesis. Trends Mol Med. 2004;10(9):466–72.
8 Jonasch E, Donskov F, Iliopoulos O, Rathmell WK, Narayan VK, Maughan BL, et al. Belzutifan for renal cell carcinoma in von Hippel-Lindau disease. N Engl J Med. 2021;385(22):2036–46.
9 vhl.org [Internet]. Boston, MA, USA: The VHL Alliance; c2022 [cited 2022 Oct 19]. Verfügbar unter: https://www.vhl.org/