Antikoagulation bei COVID-19
Übersicht über die bisherigen Interventionsstudien

Antikoagulation bei COVID-19

Übersichtsartikel
Ausgabe
2022/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09166
Swiss Med Forum. 2022;22(3334):536-541

Affiliations
a Departement Innere Medizin, Kantonsspital Graubünden, Chur; b Physiologisches Institut, Universität Zürich, Zürich; c Klinik für Innere Medizin, Spital Uster, Uster; d Klinik für Innere Medizin, Klinik St. Anna, Luzern

Publiziert am 16.08.2022

Die Übersicht fasst die erfolgten Interventionsstudien zur optimalen Antikoagulation bei moderat und kritisch erkrankten hospitalisierten sowie ambulanten COVID-19-Patientinnen und Patienten zusammen.

Einleitung

Aktivierte Gerinnungs- und Entzündungskaskaden, Endotheldysfunktion sowie Mikro- und Makrothrombosen sind zentral in der Pathogenese der COVID-19-bedingten Organdysfunktion, die durch ein hypoxisches respiratorisches Versagen wesentlich zur Morbidität und Mortalität beiträgt (Abb. 1) [1–4] .
Abbildung 1: Pathophysiologie der SARS-CoV-2-Infektion und Wirkungsmechanismus von Heparin (created with BioRender.com, ©BioRender – biorender.com).
SARS-CoV-2 führt durch die Interaktion von Spike-Protein mit ACE2 und Heparansulfat-Proteoglykan zur Virusbindung, Infektion und Endotheldysfunktion. Durch die Endotheliitis und proinflammatorische Zytokine (IL-6, TNF) werden intrinsische und extrinsische Gerinnungs- und Komplementkaskaden aktiviert, die zu Hyperkoagubilität, Immuno­thrombosen und Thromboembolien führen. Heparin hat neben der antithrombotischen Wirkung durch Inhibierung von Thrombin und FXa direkte antivirale Eigenschaften durch die Blockierung von Spike-Protein und antiinflammatorische ­Wirkung durch die Hemmung von proinflammatorischen Zytokinen.
ACE2: «angiotensin-converting enzyme 2»; HSPG = Heparansulfat-Proteoglykan; FVIIa: aktivierter Faktor VII; FVIIIa: aktivierter Faktor VIII; FIXa: aktivierter Faktor IX; FXa: aktivierter Faktor X; IL-6: Interleukin-6; MAC: «membrane attack complex»; TNF: «tumor necrosis factor»; TF: «tissue factor».
Eine systematische Übersichtsarbeit in Form einer ­Metaanalyse von über 70 Arbeiten ergab eine Prävalenz von venösen Thromboembolien (VTE) von 14% bei moderat erkrankten (Normalstation) und bis 23% bei kritisch erkrankten Hospitalisierten (Intensivpflegestation [IPS]) [5].
Die Antikoagulation mit Heparin ist besonders viel­versprechend, da Heparin neben der Prävention von mikro- und makrovaskulären Thromboembolien auch antientzündliche und, durch die Bindung am Spike-Protein, antivirale Eigenschaften gegen SARS-CoV-2 aufweist (Abb. 1) [6, 7]. Mehrere Beobachtungsstudien deuteten auf einen möglichen Überlebensvorteil durch eine Dosissteigerung der Antikoagulation hin, die jedoch durch das retrospektive Studiendesign, den Überlebenden-Bias und weitere Störfaktoren limitiert sind in ihrer Aussagekraft [8–10]. Dies führte dazu, dass ab 2021 eine Serie an randomisierten kontrollierten Studien zur optimalen Antikoagulation bei COVID-19-­Erkrankten publiziert wurde, die in dieser Übersicht zusammenfassend vorgestellt wird (Abb. 2).
Abbildung 2: Zeitstrahl der Evidenzlage zur Thromboseprophylaxe bei COVID-19.
Von der Erstbeschreibung zum Beschrieb des klinischen Verlaufs und der Pathophysiologie (blau) über Beobachtungsstudien (braun) zu Interventionsstudien (grün). VTE: venöse Thromboembolie; NMH: niedermolekulares Heparin.

Stationäre Behandlung

Aufgrund der hohen Prävalenz an VTE bei COVID-19-­Erkrankten auf der IPS wurde früh die Hypothese zum Nutzen einer hochprophylaktischen Antikoagulation aufgestellt. Jedoch zeigten zwei klinischen Studien weder einen Überlebensvorteil noch eine Reduktion der arteriellen und venösen Thromboembolien (Abb. 2) [11, 12].
Ein im August 2021 publiziertes sogenanntes «multiplattform randomized controlled trial» (mpRCT) besticht durch eine transatlantische Kollaboration mit dem Ziel einer möglichst raschen und effizienten Evidenzgenerierung und hoher Verallgemeinerbarkeit zum Thema therapeutische Antikoagulation mit Heparin (niedermolekular [NMH] oder unfraktioniert [UFH]) bei kritisch erkrankten (IPS) und moderat erkrankten Patientinnen und Patienten (Normalstation) [13, 14]. Als primärer Endpunkt wurde «organ support free days» gewählt. Dieser neuartige ordinale Endpunkt hat mehrere Vorteile durch die Kombination eines binären Endpunktes «survival» und der Anzahl «organ support free days to day 21» als Marker für Krankheitsprogression und Ressourcenbedarf bei gleichzeitig minimalem Erhebungs-Bias (im Gegensatz zum Endpunkt VTE). Durch die geschickte Definition der/des «kritisch Erkrankten» entsprechend dem Bedarf einer respiratorischen oder kardiovaskulären Unterstützung (nasale High-Flow-Sauerstoffbehandlung / nichtinvasive oder invasive Beatmung respektive Gabe von Vasopres­soren oder Inotropika) wurde eine exakte Daten­erhebung ermöglicht. Diese Definition hat den Vorteil, dass sie rein auf klinischen Kriterien beruht und ­unabhängig davon ist, auf welcher Station eine Person behandelt wurde (Normalstation, Intermediate Care Unit [IMC] oder IPS). Das absolute Überleben ohne ­Organunterstützung bis Spitalaustritt war im Falle ­einer therapeutischen Antikoagulation um 4,6% signifikant häufiger (95% «credible intervall» [CrI] 0,7–8,1%) als im Falle einer prophylaktischen Antikoagulation. Dies entspricht einer «number needed to treat» (NNT) von 26, gegenüber einer «number needed to harm» (NNH) von 100 für eine schwere Blutungskomplikation und einer NNH von 645 für eine fatale Blutung. Zu beachten gilt, dass der Nutzen einer therapeutischen ­Antikoagulation bei tiefen D-Dimeren laut Subgruppenanalyse nicht signifikant war.
Schwere Blutungskomplikationen waren selten mit 1,9% unter therapeutischer Antikoagulation und 0,9% unter prophylaktischer Antikoagulation.
Konträr zu den moderat Erkrankten und entgegen den Hypothesen aus initialen Beobachtungsstudien zeigte eine therapeutische Antikoagulation bei kritisch Erkrankten im mpRCT keine Verbesserung des Über­lebens ohne Organunterstützung («adjusted odds ratio» [OR] 0,83; 95% CrI 0,67–1,03) bei gleichzeitig erhöhtem Blutungsrisiko (3,8 vs. 2,3%) [13].
Der Nutzen der Antikoagulation abhängig vom Schweregrad der Erkrankung wurde auch in HEP-COVID ­bestätigt [15]. Diese Studie mit einer selektionierten ­Patientenpopulation (D-Dimer >4× oberer Normwert [«upper limit of normal», ULN] oder «sepsis induced coagulopathy score» ≥4) zeigte eine signifikante ­Reduktion des kombinierten Endpunkts aus venösen/arteriellen Thromboembolien und Tod bei moderat ­Erkrankten, die therapeutisch antikoaguliert wurden. Jedoch wurde, wie im mpRCT, kein Vorteil einer the­rapeutischen Antikoagulation bei kritisch COVID-19-­Erkrankten gefunden (Tab. 1).
Tabelle 1: Vergleich der Interventionsstudien zu Heparin bei moderat erkrankten COVID-19-Patientinnen und -Patienten (Normalstation).
Akronym/AbkürzungmpRCTHEP-COVIDRAPID
StudieTherapeutic Anticoagulation with Heparin in Noncritically Ill Patients with COVID-19Efficacy and Safety of Therapeutic-Dose Heparin vs Standard Prophylactic or Intermediate-Dose Heparins for Thrombo­prophylaxis in High-risk Hospi­talized Patients With COVID-19Effectiveness of therapeutic heparin versus prophylactic heparin on death, mechanical ventilation, or intensive care unit admission in moderately ill patients with covid-19 admitted to hospital
Publikation08/202110/202110/2021
LandUK, USA, Kanada, Brasilien, u.a.USAKanada, Saudi-Arabien, Brasilien, u.a.
Studienpopulation2219 Personen hospitalisiert auf einer Normalstation ohne Bedarf an Organsupport257 Hospitalisierte (inkl. IPS) mit D-­Dimer >4× ULN oder «sepsis induced ­coagulopathy score» ≥4465 hospitalisierte Personen auf einer Normalstation mit D-Dimere >2× ULN
AusschlusskriterienIndikation für therapeutische Anti­koagulation, hohes Blu­tungsrisiko, DAPTIndikation für therapeutische Anti­koagulation, hohes Blu­tungsrisiko, DAPTIPS-Therapie, hohes Blutungs­risiko
Studiendauer04/2020–01/202105/2020–05/202105/2020–04/2021
InterventionTherapeutische Dosierung (NMH/UFH) vs. prophylaktische AntikoagulationTherapeutische Dosierung (NMH/UFH) vs. prophylaktische oder hochprophylaktische AntikoagulationTherapeutische Dosierung (NMH/UFH) vs. prophylaktische Antikoagulation
Follow-up (Tage)2130 ± 2
28
Primärer EndpunktÜberleben ohne Organunter­stützung bis Tag 21Kombinierter Endpunkt aus VTE, ATE oder TodKombinierter Endpunkt aus Tod, Transfer auf IPS, NIV und invasive Beatmung
ResultatSignifikante Verbesserung des Überlebens ohne Organunter­stützung durch therapeutische Antikoagulation mit HeparinSignifikante Reduktion des ­kombinierten Endpunktes durch ­therapeutische Antikoagulation mit Heparin auf der Normalstation, nicht jedoch bei Personen auf der IPSKeine signifikante Reduktion des ­kombinierten Endpunkts durch ­therapeutische Antikoagulation mit Heparin, jedoch signifikant reduzierte Sterblichkeit
StudienlimitationOpen-Label-Studie
Keine Angaben zu ausgeschlossenen Patientinnen/Patienten
Selektierte HochrisikopopulationStudie underpowert für primären Endpunkt, Informations-Bias
ATE: arterielle Thromboembolie; DAPT: «dual antiplatelet therapy»; IPS: Intensivpflegestation; NIV: nichtinvasive Ventilation; NMH: niedermolekulares Heparin; UFH: unfraktioniertes Heparin; ULN: «upper limit of normal»; vs.: versus; VTE: venöse Thromboembolie.
RAPID ist die einzige klinische Studie, die im primären, kombinierten Endpunkt (Tod, Transfer auf IPS, nichtinvasive Beatmung [NIV] und invasive Beatmung) bezüglich Nutzens der Antikoagulation bei moderat Erkrankten negativ ausfiel. Als sekundärer Endpunkt war die Sterblichkeit bei moderat an COVID-19 erkrankten Personen mit erhöhten D-Dimeren (>2× ULN) unter the­rapeutischer Antikoagulation allerdings signifikant reduziert [16]. Die Aussagekraft dieser Studie ist wegen der geringen Anzahl Teilnehmenden jedoch limitiert.
Eine weitere wichtige Fragestellung ist die Rolle von anderen Antikoagulanzien (direkte orale Antikoagulanzien [DOAK] oder Vitamin-K-Antagonisten) bei ­COVID-19. Die vom Hersteller gesponserte ACTION-Studie verglich eine therapeutische Antikoagulation mit ­Rivaroxaban oder Heparin (NMH oder UFH) mit einer prophylaktischen Antikoagulation mit Heparin bei hospitalisierten COVID-19-Erkrankten mit erhöhten ­D-Dimeren (>ULN) unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung. Die Studie zeigte keinen klinischen Nutzen bei gleichzeitig signifikant erhöhtem Blutungs­risiko [17].

Ambulante Behandlung sowie Behandlung nach stationärem Aufenthalt

Auch milde COVID-19 sind assoziiert mit gehäuftem Auftreten von subklinischen Multiorgandysfunktionen mit respiratorischer (Abnahme Lungenvolumen), kardialer (Abnahme linksventrikuläre Auswurffraktion, erhöhte Herzbiomarker) oder renaler (Abnahme der geschätzten glomerulären Filtrationsrate [eGFR]) Beeinträchtigung und einem erhöhten Risiko von VTE [18]. Beobachtungsstudien bei ambulanten Patientinnen und Patienten mit COVID-19 ergaben eine Inzidenz an symptomatischen VTE von 1–3%. Das Risiko von Personen mit früheren VTE, erhöhten D-Dimeren und Entzündungsparametern ist besonders hoch [19, 20]. Somit scheint eine Thromboseprophylaxe im ambulanten Setting nach Spitalentlassung bei selektionierten Hochrisikopatientinnen und -patienten sinnvoll. Als Hilfsmittel zur Risikostratifizierung können der zur Stratifizierung des thromboembolischen Risikos im stationären Setting etablierte IMPROVE-Risk-Score sowie die Quantifizierung der D-Dimere (IMPROVE-DD-Score) verwendet werden (Tab. 2) [21, 22].
Tabelle 2: IMPROVE-Risk-Score zur Risikostratifizierung bei COVID-19 nach stationärem Aufenthalt.
 Nein (Punkte)Ja (Punkte)
Frühere venöse Thromboembolie03
Bekannte Thrombophilie02
Lähmung der unteren Extremitäten02
Aktive Krebserkrankung02
Immobilisation 7 Tage01
Aufenthalt auf Intensivpflegestation01
Alter >60 Jahre01
Bei einem Score von >4 Punkten oder 2–3 Punkten und D-Dimeren >500 ng/ml kann eine Thromboseprophylaxe evaluiert werden [23].
In der MICHELLE-Studie, die ambulante Patientinnen und Patienten nach stationärem Aufenthalt mit er­höhtem thromboembolischem Risiko gemäss oben ­genanntem Score (>4 Punkte oder 2–3 Punkte mit D-Dimeren >500 ng/ml) eingeschlossen hat, konnte durch die Thromboseprophylaxe mit Rivaroxaban 10 mg für 35 Tage nach Hospitalisation eine signifikante Reduktion der symptomatischen und fatalen Thromboembolien erreicht werden ohne relevante Erhöhung der ­Blutungskomplikationen [23]. Limitationen sind das open-label Studiendesign und der daraus resultierende Erhebungs-Bias.
Die doppelblinde, placebokontrollierte ACTIV-4B-­Studie verglich Acetylsalicylsäure (ASS) 81 mg versus 2 × 2,5 mg Apixaban versus 2 × 5 mg versus Placebo bei primär ambulanten mild an COVID-19 Erkrankten ohne Risikokonstellation für VTE und zeigte keinen Nutzen einer Thrombozytenaggregationshemmung mit ASS oder einer prophylaktischen respektive therapeutischen Antikoagulation mit Apixaban. Die Studie wurde jedoch frühzeitig abgebrochen aufgrund der niedrigen Ereignisraten an venösen und arteriellen Thromboembolien [24]. Mehrere Studien zur Antikoagulation bei primär ambulanten Patientinnen und Patienten und solchen nach Spitalentlassung sind in der Rekrutierungsphase und werden weitere Erkenntnisse liefern.
Zusammenfassend ist für ambulante an COVID-19 Erkrankte grundsätzlich keine Thromboseprophylaxe empfohlen, kann jedoch bei Personen mit niedrigem Blutungsrisiko und stark erhöhtem VTE-Risiko (Risikostratifizierung mittels IMPROVE-Risk-Score und ­Bestimmung der D-Dimere) evaluiert werden.

Vorbehalte, Limitationen und offene Fragen

Die COVID-19-Pandemie hat uns exemplarisch auf­gezeigt, wie Evidenz generiert wird. Der Weg von der Erstbeschreibung der Erkrankung über das Erlangen von Erkenntnissen zur Pathophysiologie bis zur Durchführung von Beobachtungs- und schliesslich Interventionsstudien dauerte nur kurze Zeit. Die diskutierten Studien sind während eines Ausnahmezustandes des Gesundheitssystems entstanden und beinhalten folgende relevanten Limitationen:
– Die sich laufend ändernden zirkulierenden Corona­virusvarianten haben eine unterschiedliche Virulenz und Pathogenität, wodurch die Studienresultate und Empfehlungen nur bedingt für die aktuell zirkulierende SARS-CoV-2-Variante zutreffen.
– Bis auf die mpRCT mit 2244 Studienteilnehmenden sind die durchgeführten Studien zur therapeutischen Antikoagulation mit weniger als 500 Personen kleinere Studien.
– Mehr als 80% der gescreenten Patientinnen und Pa­tienten wurden nicht in die Studien eingeschlossen, die Gründe dafür sind nicht immer ersichtlich.
Wissenschaftliche Evidenz ist ein kontinuierlicher Prozess und bildet die beste Entscheidungshilfe für unseren klinischen Alltag. Zukünftige Arbeiten werden ­unser Verständnis zur Antikoagulation bei COVID-19 ergänzen und bei den folgenden noch unklaren Punkten hoffentlich Klarheit schaffen:
– Unklar ist die Behandlung von an COVID-19 Erkrankten, die im Verlauf eine Organunterstützung benötigen. Im mpRCT wurde gemäss Studienprotokoll die auf der Normalstation etablierte therapeutische Antikoagulation nach Verlegung auf eine IPS fortgeführt. ­Jedoch bleibt offen, ob eine Reduktion auf eine pro­phylaktische Dosierung den klinischen Verlauf nicht günstiger beeinflusst hätte. Naheliegend ist, dass nach überstandener kritischer Erkrankung (IPS-Therapie) und Verlegung auf die Normalstation eine prophylaktische Dosierung beibehalten wird.
– Eine duale Thrombozytenaggregationshemmung war stets ein Ausschlusskriterium in den klinischen Studien. Der grundsätzliche Stellenwert von Thrombo­zytenaggregationshemmern für den Krankheitsverlauf bei an COVID-19 Erkrankten ist unbekannt.
– Die optimale ambulante Therapie/Prophylaxe ist zurzeit unklar.

Schlussfolgerung

Die bis dato publizierten Studien zeigen bei moderat ­erkrankten hospitalisierten Personen mit COVID-19 ­einen günstigeren Krankheitsverlauf und eine tiefere Mortalität unter therapeutischer Antikoagulation mit Heparin im Vergleich zu einer prophylaktischen Antikoagulation. Dieser Nutzen ist bei kritisch Erkrankten nicht nachweisbar. Die Gründe für diesen Unterschied sind nicht abschliessend geklärt. Auf pathophysiologischer Ebene werden eine überaktivierte Gerinnungskaskade und Endotheldysfunktion mit mikrovasku­lärer Thromboinflammation bei fortgeschrittenem Krankheitsverlauf diskutiert. Scheinbar gibt es bei kritisch Erkrankten einen «point of no return», ab dem der Nutzen einer therapeutischen Antikoagulation sinkt.
Der Vorteil von Heparin gegenüber DOAK bei hospi­talisierten Personen mit COVID-19 ist in der zusätz­lichen antiinflammatorischen und antiviralen Wirkung zu vermuten, und sowohl DOAK als auch Vitamin-K-Antagonisten sollten somit ausserhalb von klinischen Studien vermieden werden. Bei vorbestehender Antikoagulation mit einem DOAK oder Vit­amin-K-Antagonisten und Hospitalisation aufgrund von COVID-19 ist die Umstellung auf Heparin empfehlenswert.
Aufgrund der diskutierten Studienlage haben die ­«National Institutes of Health» (NIH) sowie die «American Society of Hematology» (ASH) Anfang 2022 ihre Richtlinien im Einklang mit einer kürzlich publizierten Metaanalyse angepasst und die Empfehlung für eine generelle therapeutische Antikoagulation mit ­Heparin bei hospitalisierten, moderat an COVID-19 ­Erkrankten mit erhöhten D-Dimeren und tiefem Blutungsrisiko für 14 Tage oder bis zum Spitalaustritt ausgesprochen [25]. Ein möglicher Algorithmus zur Anti­koagulation bei COVID-19 basierend auf der aktuellen Studienlage ist in Abbildung 3 dargestellt.
Abbildung 3: Algorithmus zur Antikoagulation bei Personen mit COVID-19.
Therapeutische Antikoagulation im stationären Setting beinhaltet niedermolekulares Heparin (NMH) und unfraktioniertes Heparin (UFH). Sauerstoffbedarf auf der Normal­station beinhaltet «low-flow» nasale Sauerstofftherapie.
Erhöhtes Risiko für venöse Thromboembolien (VTE) wird definiert durch D-Dimere > oberem Normwert.
Erhöhtes Blutungsrisiko wird gemäss «National Institutes of Health»(NIH) definiert als: Thrombozyten <50 × 10 9 /l, Hämoglobin <8 g/dl, Thrombozytenaggregationshemmung, Blutungsanamnese in den vergangenen 30 Tagen mit Notwendigkeit einer ärztlichen Konsultation, angeborene oder erworbene hämorrhagische Diathese.
Zu beachten gilt, dass die diskutierten Studien vor ­Zirkulation der Omikron- und Delta-Varianten des SARS-CoV-2 erfolgt sind. Weiter gelten diese Therapieempfehlungen nur für Personen, die aufgrund ­COVID-19 hospitalisiert werden, und es existieren keine Daten zur Wertigkeit der Antikoagulation bei vollständig Geimpften, da sämtliche diskutierten ­Studien vor der Einführung der Immunisierung erfolgt sind.
Die durchgeführten Studien liefern dennoch eine ausreichende Evidenz dafür, dem Beispiel von NIH und ASH zu folgen und die sowohl einfach umsetzbaren als auch kosteneffizienten Massnahmen in unserem klinischen Alltag zu berücksichtigen.

Das Wichtigste für die Praxis

• Moderat erkrankte hospitalisierte COVID-19-Patientinnen und -Patienten mit Sauerstoffbedarf, erhöhten D-Dimeren und tiefem Blutungsrisiko profitieren von einer therapeutische Antikoagulation mit Heparin.
• Aufgrund präklinischer Daten geht der therapeutische Nutzen von Heparin wahrscheinlich über die Reduktion von mikro- und makrovaskulären Thromboembolien hinaus.
• Kritisch an COVID-19 Erkrankte (IPS) profitieren nicht von einer therapeutischen Antikoagulation.
• Die Datenlage zu DOAK und Phenprocoumon bei aufgrund von COVID-19 Hospitalisierten ist ungenügend. Falls klinisch vertretbar, soll die Umstellung auf Heparin geprüft werden.
• Bei ambulant Behandelten mit milder Form von ­COVID-19 ist zurzeit eine Thromboseprophylaxe generell nicht empfohlen. Bei ambulant Behandelten mit COVID-19 und hohem Thromboembolierisiko sowie bei COVID-19-Erkrankten mit fortbestehend hohem Thromboembolierisiko nach Spitalentlassung kann eine Thromboseprophylaxe aber erwogen werden.
Die Autoren bedanken sich bei Prof. Thomas Fehr und Dr. Raphael Jeker für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die wertvollen Anmerkungen.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Patrick Hofmann
Departement Innere ­Medizin
Kantonsspital Graubünden
Loëstrasse 170
CH-7000 Chur
patrick.hofmann[at]ksgr.ch

und

PD Dr. med. Esther Bächli
Klinik für Innere Medizin
Klinik St. Anna Luzern
St. Anna-Strasse 32
CH-6006 Luzern
esther.baechli[at]hin.ch
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