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Hintergrund
Das multisystemische Inflammationssyndrom bei Erwachsenen («multisystem inflammatory syndrome in adults» [MIS-A]) ist eine seltene, aber schwerwiegende Komplikation von COVID-19. Um die Kriterien eines MIS-A zu erfüllen, muss die Patientin oder der Patient mindestens 21 Jahre alt sein, für mindestens 24 Stunden hospitalisiert sein und bestimmte klinische und laborchemische Kriterien erfüllen [1]. Zu diesen klinischen Kriterien zählt Fieber plus mindestens drei der folgenden Symptome – und davon muss mindestens eins der beiden erstgenannten Charakteristika erfüllt sein:
sowie
Daneben müssen definitionsgemäss folgende laborchemische Kriterien erfüllt sein, damit die Diagnose MIS-A gestellt werden kann:
Fallbericht
Anamnese, Status
Eine 45-jährige Patientin wurde wegen Fiebers, erhöhter Entzündungswerte und seit zwei Tagen bestehender lumbaler Rückenschmerzen durch die Hausärztin unserem Spital notfallmässig zugewiesen. Sie gab an, bis auf eine milde, vollständig abgeheilte COVID-19-Erkrankung vier Wochen zuvor keine Vorerkrankungen gehabt zu haben. Dementsprechend nahm die Patientin keine Medikamente ein; auch die Einnahme von Noxen wurde verneint.
Klinisch zeigte sich eine subfebrile kreislaufstabile Patientin mit lumbovertebraler Druckdolenz über dem ersten bis dritten Lendenwirbel ohne sensomotorische Ausfälle. Laborchemisch bestätigte sich die Inflammation bei normwertigem Procalcitoninspiegel (Tab. 1). Die weitere Infektfokussuche mittels Röntgen-Thorax und Urinstatus fiel unauffällig aus. Für Blutkulturen wurde Blut entnommen.
Tabelle 1: Laborresultate der vorgestellten Patientin | ||||
bei Eintritt | am 6. Tag | vor Entlassung | Normwerte | |
Hämoglobin (g/l) | 128 | 107 | 112 | 120–154 |
Thrombozyten(109/l) | 268 | 275 | 677 | 160–370 |
Leukozyten (109/l) | 10,92 | 23,77 | 9,70 | 4,00–10,00 |
Lymphozyten (109/l) | 1,14 | 0,63 | 5,67 | 1,10–4,50 |
Kreatinin (µmol/l) | 56 | 57 | 39 | 50–98 |
C-reaktives Protein (mg/l) | 144,0 | 464,1 | 12,4 | <5 |
INR | 1,07 | 1,25 | 1,00 | 0,85–1,10 |
Troponin I hs (ng/l) | – | 702 | 7 | <26 |
INR: «International Normalized Ratio»; hs: hochsensitiv; –: nicht untersucht. |
Verlauf, Befunde, Therapie
In der Magnetresonanztomographie (MRT) der Lendenwirbelsäule (LWS) stellten sich degenerative Veränderungen mit beidseitiger Irritation der Nervenwurzel L5 dar – ohne Hinweise auf eine Spondylodiszitis/Spondylitis. Die Blutkulturen zeigten sich ohne Keimwachstum, sodass die initiale Verdachtsdiagnose einer Spondylodiszitis verworfen werden musste. Unter Analgesie und Physiotherapie waren die lumbalen Beschwerden vollständig regredient.
Im Verlauf kam es zu einer raschen Verschlechterung des Allgemeinzustandes. Klinisch entwickelte die Patientin Unterbauchschmerzen; laborchemisch zeigte sich ein deutlicher Anstieg der Inflammationsparameter (Tab. 1 und Abb. 1).
Mithilfe der Computertomographie (CT) des Abdomens wurden eine Ileitis terminalis (Abb. 2), Ovarialzysten links mit vermuteter Ruptur einer Follikelzyste sowie wenig freie intraabdominelle Flüssigkeit nachgewiesen.
In der Koloskopie und in der sich anschliessenden Histologie liess sich aufgrund von Ulkusgrundfragmenten und fibrinoleukozytär durchsetztem Exsudat die terminale Ileitis bestätigen, ohne dass diese einer eindeutigen Ätiologie zugeordnet werden konnte. In der weiteren Diagnostik im Hinblick auf die terminale Ileitis waren alle mikrobiologischen (insbesondere auf Yersinien) und serologischen Untersuchungen (auf das Epstein-Barr-Virus [EBV] und das Zytomegalievirus [CMV]) unauffällig. Der Calprotectinwert lag im Normalbereich. Eine empirische Antibiotikatherapie mit Ceftriaxon und Metronidazol wurde verabreicht.
Gynäkologisch konnte mittels Sonographie eine rupturierte Ovarialzyste ausgeschlossen werden. Bei Auftreibung der Tube und des Ovars wurde die Verdachtsdiagnose einer Adnexitis gestellt. Aus diesem Grund wurde die antibiotische Therapie um Doxycyclin ergänzt. Nach Erhalten der negativen Ergebnisse von vaginalen Abstrichen wurde die Diagnose Adnexitis ebenfalls verworfen und Doxycyclin wieder abgesetzt.
Unter der antibiotischen Therapie kam es zu einer Volumenretention von 15 kg, zu Hypotonie und Dyspnoe sowie einem Anstieg des CRP-(C-reaktives Protein)-Wertes auf über 500 mg/l. Das Elektrokardiogramm zeigte Repolarisationsstörungen und bei der Laboruntersuchung wurde eine Troponinämie festgestellt (Tab. 1 und Abb. 1). Computertomographisch konnte eine Lungenembolie ausgeschlossen werden, es fanden sich jedoch bilateral dorsobasale Infiltrate. Echokardiographisch zeigte sich eine normale Herzfunktion ohne Hinweise auf eine Endokarditis, eine Perimyokarditis oder auf regionale Wandbewegungsstörungen. Daher wurde der erhöhte Troponinspiegel zunächst als Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) Typ 2 bei Sepsis gewertet.
Am siebten Hospitalisationstag entwickelte die Patientin Petechien an den Unterschenkeln und kurz darauf ein Erythema multiforme (Abb. 1, 3 und 4).
Wegen der normwertigen Thrombozytenzahl und des Auftretens der Hautveränderungen unter antibiotischer Therapie wurde nach möglichen viralen oder rheumatologischen Auslösern gesucht. Nicht nur die Untersuchungen auf das EBV und das CMV blieben unauffällig, auch die durchgeführte Analytik hinsichtlich HIV (humanes Immundefizienz-Virus), ANA (antinukleäre Antikörper), ANCA (Anti-Neutrophile cytoplasmatische Antikörper) und Rheumafaktoren (RF) blieb negativ. Eine Hautbiopsie blieb ebenfalls ohne wegweisenden Befund; es zeigten sich lediglich perivaskulär betonte lymphohistiozytäre Infiltrate mit vereinzelten Eosinophilen. Somit konnte bei normwertigem Eosinophilenspiegel im Blut ein «drug rash with eosinophilia and systemic symptoms»-(DRESS-)Syndrom genauso ausgeschlossen werden wie eine toxische epidermale Nekrolyse, das Stevens-Johnson-Syndrom und das «staphylococcal scalded skin syndrome».
Aufgrund zunehmender klinischer Verschlechterung trotz Antibiotikagabe, distributiven Schocks und der SARS-CoV-2-Infektion vier Wochen vor Hospitalisation diagnostizierten wir ein MIS-A. Dementsprechend wurde die antibiotische Therapie gestoppt und eine Behandlung mit humanen Immunglobulinen (0,4 mg/kg Körpergewicht) für fünf Tage durchgeführt. Gleichzeitig wurde mit der Verabreichung von Prednisolon 50 mg begonnen. Hierunter zeigte sich eine rasche und deutliche Besserung der Symptomatik mit Rückgang der Entzündungswerte (Tab. 1 und Abb. 1). Nach der Diagnosestellung bestimmten wir Interleukin-6 (IL-6) im Serum, das passend zu unserem Verdacht mit 154 pg/ml (Norm <3,1 pg/ml) deutlich erhöht war. Die Patientin konnte zwei Tage nach Ende der Immunglobulintherapie, also nach 19-tägiger Hospitalisation nach Hause entlassen werden.
Vier Wochen später war die Patientin vollständig beschwerdefrei mit normalisierten Inflammationswerten (CRP, IL-6) und unauffälliger CT. Die Steroidtherapie konnte langsam reduziert und nach weiteren vier Wochen vollständig gestoppt werden.
Diskussion
Kurz nach Beginn der COVID-19-Pandemie im Frühling 2020 kam es zu vereinzelten Berichten über ein «multisystem inflammatory syndrome in children» (MIS-C), das Ähnlichkeiten mit dem Kawasaki-Syndrom zeigte [2–4]. Die häufigsten Symptome waren Fieber, gastrointestinale Beschwerden, Exanthem und Schock. Diese waren begleitet von einer Lymphozytopenie sowie einem erhöhten CRP- und IL-6-Spiegel [2–4]. Ab Sommer 2020 kamen Berichte über einen ähnlichen Symptomkomplex bei Erwachsenen hinzu [5–7]. Dementsprechend wurde durch das «Center of Disease Control and Prevention» (CDC) das Krankheitsbild des MIS-A definiert. Um die Kriterien dieses Syndroms zu erfüllen, muss die oder der Betroffene mindestens 21 Jahre alt und mindestens 24 Stunden hospitalisiert sein. Ausserdem müssen mehrere klinische und laborchemische Befunde erhoben worden sein. Neben Fieber müssen drei der eingangs in diesem Artikel aufgeführten klinischen Kriterien erfüllt sein, darunter muss also mindestens eine schwere kardiale Beteiligung und/oder ein Exanthem mit Konjunktivitis vorliegen. Laborchemisch müssen erhöhte Entzündungswerte auffällig sein und es muss ein aktueller oder vorausgegangener positiver SARS-CoV-2-Test vorliegen [1]. Unsere Patientin erfüllte mit Troponinämie, Schock, Erythema multiforme und abdominellen Beschwerden die klinischen sowie mit stark erhöhten Entzündungswerten und durchgemachter COVID-19-Erkrankung die laborchemischen Kriterien.
Die Pathophysiologie des MIS-A ist nicht abschliessend geklärat. Dieses Syndrom tritt zwei bis fünf Wochen nach COVID-19-Erkrankung auf. Ein Drittel der Patientinnen und Patienten hat einen negativen SARS-CoV-2-PCR-Test, jedoch einen Antikörpertiter, sodass eine postinfektiöse Genese als am wahrscheinlichsten erachtet wird [5, 7]. Gruber et al. fanden Autoantikörper gegen Endothel-, Gastrointestinal- und Immunzellen bei Kindern mit MIS [8]. Die Hyperinflammation könnte auch durch «antibody-dependent enhancement» ausgelöst werden, das vor allem bei Betroffenen mit Antikörpern von niedriger Quantität oder nicht eliminierenden Antikörpern auftritt [9, 10]. Hierbei wird vermutet, dass die SARS-CoV-Antikörper den viralen Eintritt in Fc-Rezeptor-tragende Zellen (Monozyten, Makrophagen, B-Zellen) fördern. Intrazellulär wirkt der Virus-Antikörper-Immunkomplex proinflammatorisch mit Produktion von Tumornekrosefaktor (TNF) und IL-6. Dieses Phänomen wurde bereits bei Infektionen mit dem Dengue-Virus und weiteren Viruserkrankungen dokumentiert [9]. Da MIS-A höchstwahrscheinlich postinfektiös und nicht durch virale Replikation verursacht ist, beinhaltet die Therapie Immunoglobuline und Steroide. Mit der entsprechenden Therapie überlebt die Mehrheit der Erkrankten [2, 3, 5, 7].
Bei Abwesenheit von COVID-19-typischen Symptomen und kürzlich durchgemachter Infektion verzichteten wir bei unserer Patientin auf einen SARS-CoV-2-PCR-Test bei Eintritt. Auf einen Antikörpertest wurde wegen mangelnder klinischer Konsequenz ebenfalls verzichtet. Somit blieb der Immunstatus unserer Patientin unklar. Sobald wir die Diagnose MIS-A gestellt hatten, testeten wir die Kolon- und Hautbiopsien auf SARS-CoV-2 und führten einen nasalen SARS-CoV-2-PCR-Test durch, wobei alle Ergebnisse negativ ausfielen. Dies unterstützte die Theorie der postinfektiösen Genese.
Die Inzidenz von MIS-A ist aktuell unbekannt. Bei MIS-C wird die Inzidenz auf 316 pro 1 000 000 SARS-CoV-2-Infektionen geschätzt [11]. Obwohl mehr SARS-CoV-2-Infektionen bei Erwachsenen als bei Kindern bestätigt wurden, sind mehr Fälle von MIS-C als von MIS-A beschrieben. Somit wird MIS-A als seltene, aber schwerwiegende Komplikation erachtet. Dessen sollte man sich bei über 615 000 000 bestätigten COVID-19-Fällen weltweit (Stand 4. Oktober 2022) bewusst sein [12].
Das Wichtigste für die Praxis
Bei Vorliegen von Fieber, kardialer Beteiligung, Exanthem mit Konjunktivitis, neu aufgetretenen neurologischen Symptomen, Schock oder Hypotonie und/oder gastrointestinalen Beschwerden sowie erhöhten Entzündungswerten und Thrombozytopenie bei kürzlich durchgemachter COVID-19-Erkrankung sollte an ein «multisystem inflammatory syndrome in adults» gedacht werden.
Bei weiterhin hohen COVID-19-Fallzahlen sollte man sich dieser seltenen, jedoch schwerwiegenden Komplikation von COVID-19 bewusst sein.
Mit entsprechender Therapie (Steroide, intravenöse Immunglobuline) ist eine vollständige Genesung wahrscheinlich.
Innere Medizin, See-Spital Horgen, Horgen
Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Die Autorin und die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Stefan Ammann
Innere Medizin
See-Spital Horgen
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