Kurz und bündig
Journal Club Fokus auf... Das hat uns gefreut (und leider auch nicht)

Kurz und bündig

Aktuelles aus der Wissenschaft
Ausgabe
2022/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09211
Swiss Med Forum. 2022;22(37):608-609

Affiliations
Redaktor Swiss Medical Forum
Verfasst am 12.08.2022.
Das hat uns gefreut (und leider auch nicht)
COPD: Globale Mortalität sinkt – grosse regionale Unterschiede
Wie genau und verlässlich Zahlen bei globalen Erhebungen sind, ist etwas schwierig zu analysieren. Trendmässig scheint es aber in Bezug auf die chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) wirklich Grund zur Freude zu geben: Weltweit scheinen die Prävalenz in den letzten 30 Jahren um knapp 9%, die krankheitsbezogene Mortalität um knapp 42% und die Jahre mit krankheitsbedingter Behinderung um knapp 40% zurückgegangen sein. Die tiefste Todesfallprävalenz ist in Japan dokumentiert (7.4 pro 100 000 Einwohner), die weitaus höchste mit fast 183 Todesfällen pro 100 000 Einwohner und Jahr in Nepal. Hier dürfte nicht eine allgemeine Pollution der Umweltluft, sondern eher eine lokale das Hauptproblem sein (Rauchen und zum Teil offene Haushaltsverbrennungen u.a. von Abfällen).
COPD (hier ein Röntgenbild) geht weltweit insgesamt zurück.
© Oleg Dudko / Dreamstime
BMJ 2022, doi.org/10.1136/bmj-2021-069679.
Verfasst am 24.08.2022
Nature 2022, doi.org/10.1038/d41586-022-02233-6.Verfasst am 24.08.2022.

Publiziert am 14.09.2022

Damit Sie nichts Wichtiges verpassen: unsere Auswahl der aktuellsten Publikationen.

Fokus auf...
Herpes-simplex-Virus Typ 1 und seine Evolution
Das doppelsträngige DNA-Virus infiziert – meist in der Kindheit – mindestens 2/3 der Weltbevölkerung.
Rezidivierende Reaktivierungen des in sensorischen Neuronen hibernierenden Virus, meist nach psychologischem und physischen Stress-Situationen, sind typisch («Fieberbläschen»).
Neutralisierende Antikörper und die zytotoxische T-Zell-Antwort verhindern eine substantielle Virämie bei immunkompetenten Menschen.
Immunsuppression und menschliche DNA-Varianten, bei anderweitig intakter Immunlage, sind mit schweren Verläufen und systemischer Virämie assoziiert
Ein Beispiel ist der sogenannte «toll-like receptor 3»-Mangel, der zu tödlich verlaufenden Herpes-Enzephalitiden prädisponiert.
Aufgrund von DNA-Analysen in menschlichen Zähnen, respektive in Zahnwurzeln (gefunden an Ausgrabungsorten) dürfte das Virus vor gut 5000 Jahren erstmals den Menschen befallen haben (Migration von Eurasien nach Europa)*.
Die Weiterverbreitung wurde durch lokal verdichtete Populationen gefördert, wobei der aus Eurasien importierte Brauch des Küssens (sozial und sexuell motiviert) wohl entscheidend war.
Der römische Kaiser Tiberius (herrschend in den Jahren 14 bis 37 nach Christus) wollte das Küssen als Infektionsprophylaxe verbieten lassen, ohne Erfolg… .
Science Advances 2022, doi:10.1126/sciadv.abo4435. Verfasst am 25.08.2022.*Mit einer ähnlichen Methode konnte in diesem Jahr auch nachgewiesen werden, dass das genomisch moderne, die Pest verursachende Bakterium Yersinia pestis aus dem an der Seidenstrasse gelegenen Kirgistan stammt.

Praxisrelevant

Nagelbettblutungen (Splinterhämorrhagien) und infektiöse Endokarditis

Splinterhämorrhagien sind rote oder rotbraune vertikal verlaufende Linien im Nagelbett (nicht im Nagel selbst). Sie gelten seit Langem als ein Zeichen einer infektiösen Endokarditis, sind aber nicht Bestandteil der Duke-Kriterien (an die in Tabelle 1 erinnert wird). Wie hoch ist die diagnostische Wertigkeit des Nachweises von Splinterhämorrhagien heute? Bei mehr als 1100 Patientinnen und Patienten (in Ausbildungsspitälern der nordenglischen Stadt Leeds) mit Verdacht auf infektiöse Endokarditis wurden Splinterhämorrhagien in Beziehung zur Einteilung nach Analyse der Dukes-Kriterien (Endokarditis sicher, möglich, ausgeschlossen) gebracht. Die Sensitivität lag zwar unter 30%, allerdings lässt sich die Spezifität mit 83% durchaus sehen. Die Autorenschaft fand, dass die Mitberücksichtigung der Splinterhämorrhagien als diagnostisches Zeichen die Dukes-Kriterien in jedem 8. Patienten von ausgeschlossen auf möglich, respektive von möglich auf sicher reklassifizierte. Es lohnt sich also, die Finger und Zehen genau anzuschauen, wenn eine infektiöse Endokarditis vermutet wird! Aber natürlich nicht nur dann!
Heart 2022, doi.org/10.1136/heartjnl-2022-321052. Verfasst am 10.08.2022.
Tabelle 1: Duke-Kriterien zur Diagnose einer infektiösen Endokarditis
Klinische Hauptkriterien
(falls beide positiv, ist die Diagnose sicher)
Typische Mikroorganismen in zwei getrennten Blutkulturen
Evidenz für Klappenbefall (Echokardiografie)
Klinische Nebenkriterien
(falls alle positiv, ist die Diagnose sicher)
Prädisponierende Herzerkrankung und/oder intravenöser Drogenabusus
Fieber
Vaskulär-embolische Phänomene (z.B. arterielle Embolien etc.)
Immunologische Folgeerscheinungen (Glomerulonephritis, Osler-Knötchen, Rheumafaktor positiv, Roth-Flecken)
Mikrobiologische Befunde nicht das Hauptkriterium erfüllend oder serologische Evidenz für einen Endokarditis-typischen Erreger
Pathologische Kriterien
(Diagnose gesichert, wenn eines davon positiv)
Vegetationen oder intrakardiale Abszesse
Nachweis von Mikroorganismen in einer Vegetation/einem Abszess
Es gibt verschiedene Online-Rechner zur Bewertung des Risikos anhand der Duke-Kriterien (sicher, möglich, ausgeschlossen), z.B.: https://www.mdcalc.com/calc/1731/duke-criteria-infective-endocarditis

Auch noch aufgefallen

Erstlinientherapie beim Typ-2-Diabetes mellitus: Metformin oder Gliflozine?

Die mindestens zum Teil vom Typ-2-Diabetes mellitus unabhängige kardiovaskuläre Protektion (vor allem der Herzinsuffizienz) durch Gliflozine, lässt viele, unter anderem auch die Hersteller, daran denken, ob diese nicht auch bei «Therapie-naiven» Patientinnen und Patienten als Erstlinientherapie eingesetzt werden sollten. In zwei grossen US-Kohorten wurden gut 8600 Individuen mit Gliflozinen (Cana-, Empa- und Dapagliflozin) einer doppelt so grossen Zahl von vergleichbaren Individuen unter Metformin gegenübergestellt. Die kardiovaskuläre Mortalität war in beiden Medikamentengruppen gleich, die Gliflozingruppe hatte eine etwas geringere Rate an Herzinsuffizienzdiagnosen und der damit verbundenen Mortalität. Die Verträglichkeit beider Medikamentengruppen erwies sich wie erwartet als gut und vergleichbar, wenn auch die Gliflozin-Patientinnen und Patienten vermehrt urogenitale Infekte erlitten. Das ganze Spektrum des Metformin-assoziierten Nutzens wurde in dieser Studie nicht analysiert und ökonomische Betrachtungen fehlen. Kein Weg wird an einer prospektiv randomisierenden Studie zur Klärung des Primus in der Erstlinientherapie vorbeiführen.
Annals of Internal Medicine 2022, doi.org/10.7326/M21-4012. Verfasst am 14.08.2022.

Umweltgifte und chronische Niereninsuffizienz

In gewissen Weltregionen, namentlich Mittelamerika und Sri Lanka, kommt eine bislang ätiologisch ungeklärte chronische tubulointerstitielle Nephritis («mesoamerikanische Nephropathie») vor. Es häufen sich nun Hinweise, dass, vielleicht zusätzlich zu genetischer Prädisposition und sehr hohen Umwelttemperaturen, diese Krankheit durch ein Toxin aus der Agrochemie, dem Paraquat, verursacht wird [1]. In Europa ist die sogenannte endemische Balkan-Nephropathie (am Unterlauf der Donau vorkommend), ebenfalls eine chronische, tubulointerstitielle Nephropathie, seit gut 60 Jahren bekannt. Ihre Ursache ist die Toxizität der Aristolochiasäure, einem Produkt eines Unkrautes im Getreideanbau (Biberkraut). Die Erkrankung entsteht / entstand durch den mehrjährigen Konsum von entsprechend kontaminiertem Brot [2]. Im ersten Fall sind agrochemische Produkte wahrscheinlich ursächlich beteiligt, im zweiten Fall sind die Erkrankungen Folge davon, dass die Bauern im Donaudelta sich aus finanziellen Gründen Unkrautvertilger nicht leisten konnten.

Poliomyelitis wieder in die westliche Welt zurückgekommen

Kurz und bündig ist klar, dass unsere Leserinnen und Leser genug von – sozusagen – Virus-assoziierten Alarmmeldungen haben. Trotzdem ist es wichtig zu erwähnen, dass die Abwässer, die auch fürs Covid-Monitoring wichtige Hinweise liefern, in New York, London und Jerusalem Anhaltspunkte für Poliomyelitis-Ausscheidungen gegeben haben. Dank der hohen Durchimpfungsrate sind bisher «nur» zwei Poliomyelitis-Fälle dokumentiert. Das Virus scheint sich aus einem Polio-Impfstamm (abgeschwächter Polio-Stamm) abzuleiten. Die weite geographische Verteilung spricht aber für ein globales Problem auch in Ländern mit – angeblich – guter Gesundheitsversorgung (auf kriegsversehrte und anderweitig notleidende Gegenden traf dies bereits zu). Für den Fall, dass Verbreitung und Infektionsraten zunehmen sollten, stellt die WHO eine orale Notfallimpfung zur Verfügung, die aber natürlich noch nicht in grösseren Populationen getestet wurde.

Wie häufig ist Tinnitus?

In einer systematischen Literaturreview wurde gefunden, dass 14% aller Erwachsenen einen Tinnitus aufweisen, jede siebte Person oder 2% der Allgemeinbevölkerung leiden an einer subjektiv definierten schweren Form. Jährliche Inzidenzen (Neuauftreten eines Tinnitus) werden auf 1% einer erwachsenen Allgemeinbevölkerung geschätzt. Die Erkrankung hat keine Geschlechtsprädilektion, nimmt aber mit dem Alter progressiv zu: 10% Prävalenz bis 44 Jahre, zwischen 45 und 64 Jahren 14%, ab 65 Jahren 24%. Tinnitus ist also ein zahlenmässig grosses Gesundheitsproblem und verdient entsprechende gesundheitspolitische Schritte, nicht zuletzt die bessere Erforschung von Ursachen und Interventionen, natürlich auch der Präventionsmöglichkeiten.
JAMA Neurology 2022, doi.org/10.1001/jamaneurol.2022.2189.
Verfasst am 15.08.2022.
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