Kurz und bündig
Fokus auf … Journal Club Neues aus der Biologie

Kurz und bündig

Aktuelles aus der Wissenschaft
Ausgabe
2022/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09284
Swiss Med Forum. 2022;22(44):720-721

Affiliations
Redaktor Swiss Medical Forum
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Publiziert am 02.11.2022

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Praxisrelevant

Antihypertensiva: morgens oder abends?

Viele sind der Ansicht, dass eine Verabreichung von Antihypertensiva am Abend zur Verhinderung kardiovaskulärer Komplikationen bei Hypertonie wirksamer sei. Aufgeführte Gründe sind das bessere Wiederherstellen des nächtlichen Blutdruckabfalles und auch die Verhinderung der morgendlichen Blutdruckspitze in der Aufwachphase, die gehäuft mit akuten kardiovaskulären Erkrankungen assoziiert ist.
Eine grosse britische Studie (mit mehr als je 10 ​000 Individuen mit ausschliesslich Morgen- oder Abenddosierung und unter Behandlung mit mindestens einem Antihypertensivum) fand nach mehr als fünf Jahren Nachbeobachtung jedoch keine signifikanten Unterschiede in der Mortalität und im Erleiden von akuten Koronarsyndromen oder nicht tödlichen Schlaganfällen. Dieser gemischte Endpunkt wurde in beiden Gruppen in circa 3,5% der Fälle erreicht. Das Durchschnittsalter der Studienteilnehmenden betrug 65 Jahre, mehr als 90% von ihnen waren Weisse und mit knapp 60% waren Männer in der Überzahl. Nur etwa 10% hatten bei Studieneintritt bereits ein kardiovaskuläres Ereignis hinter sich.
Die Tageszeit der Einnahme hatte in dieser Studie also keinen Effekt auf die genannten Endpunkte. Wichtig scheint nach wie vor, dass die Antihypertensiva überhaupt und anhaltend eingenommen werden. Und die Einnahme kann auf die für die Compliance der Patientinnen und Patienten beste Zeit festgelegt werden.
Verfasst am 24.10.2022.

Und wann soll man eher und mehr essen: morgens oder abends?

Die Antwort auf diese Frage kennen Sie – vielleicht im Gegensatz zur vorherigen zur Hypertonie – wahrscheinlich bereits, ist sie doch in diversen eingängigen Ratschlägen der Umgangssprache enthalten. Zwar kann man abnehmen, ob die Hauptmahlzeit abends oder morgens eingenommen wird, mit einem eher üppigen Frühstück fällt dies aber leichter, weil subjektiv Appetit und Hunger über den Tag geringer wahrgenommen werden [1]. Mechanistisch könnte die Abendmahlzeit die Konzentration des endogenen Appetitregulators Leptin senken und auch zu einer reduzierten Energieproduktion am Tag sowie einer verminderten Thermogenese (mittlere Körpertemperatur tiefer) führen [2].
Altmodische Erziehungsgrundsätze sind also oft immer noch bedenkenswert ​…
1 Cell Metab. 2022, doi.org/10.1016/j.cmet.2022.08.001.
2 Cell Metab. 2022, doi.org/10.1016/j.cmet.2022.09.007.
Verfasst am 24.10.2022.

Für Ärztinnen und Ärzte am Spital

Blutdruck- und Oxygenierungsziele nach Überleben eines Herzstillstandes ausserhalb des Spitals

Der prognostisch wichtigste Faktor bei einem Herzstillstand ausserhalb des Spitals ist die schnelle und kompetent durchgeführte kardiopulmonale Reanimation. Bei den Überlebenden weist aber drei Monate nach dem überlebten Herzstillstand immer noch mehr als ein Drittel eine erhöhte Mortalität und schwere neurologische Einschränkungen auf. Hauptgründe sind die ischämische Enzephalopathie und der Schweregrad der Grunderkrankung. Kann der Verlauf durch liberalere Blutdruck- und/oder grosszügigere Oxygenierungsziele auf der Intensivstation (wo diese Patientinnen und Patienten fast immer aufgenommen werden) verbessert werden?
Leider nein, denn ob man ein Blutdruckziel (mittels Vasopressoren) von 77 oder nur von 63 mm Hg anstrebt [1] und ob man eine Oxygenierung (Sauerstoffpartialdruck, meist unter invasiver Ventilation) von etwa 100 oder nur etwa 70 mm Hg zum Ziel hat [2], man erreicht keinen signifikanten Unterschied im klinischen Verlauf. In dieser dänischen Studie waren Mortalität und schwere residuelle neurologische Einschränkungen in beiden Gruppen im Vergleich zu den jeweiligen ​Kontrollgruppen gleich häufig und betrafen etwa einen Drittel aller Patientinnen und Patienten nach drei Monaten in allen Gruppen.
Diese Daten unterstützen also die gegenwärtige Praxis eines bezüglich dieser Parameter eher restriktiven Vorgehens.
1 N Engl J Med. 2022, doi.org/10.1056/NEJMoa2208687.
2 N Engl J Med. 2022, doi.org/10.1056/NEJMoa2208686.
Verfasst am 22.10.2022.

Auch noch aufgefallen

Hochsaison für Verhaltensökonomie

Die gegenwärtige Energiekrise verlangt von uns, was schon lange als sinnvoll erachtet, aber noch wenig erfolgreich umgesetzt wurde: Sparen und Umstieg auf weniger schädliche Energiequellen, am besten in dieser Reihenfolge. Beide sind auch für die Medizin und die Gesundheit der Bevölkerung zumindest mittelbar wichtig.
Verhaltensökonomische Forschung will verstehen, wie Menschen bezüglich ihres Energiekonsums zum Sparen animiert werden können. Sicher über den Preis: Angeblich hat in Deutschland in der bezüglich Umwelttemperaturen «normalen» ersten Oktoberwoche der Gas- und Ölverbrauch um erstaunliche fast 30% gegenüber der gleichen Oktoberwoche 2021 abgenommen. Direkten Feedback-Informationen über den täglichen und apparatespezifischen Energieverbrauch wird ein weiteres Energiesparpotential von 10−15% zugesprochen. Finanzielle Abgeltungen bei reduziertem Energiekonsum könnten sowohl die konsumierte Energiemenge als auch die Art der verbrauchten Energiequelle weiter positiv fördern.
Zentral ist die Frage, ob und inwiefern diese Verhaltensänderungen andauern werden, vor allem wenn der äussere Druck kleiner wird, sollte es wirklich wieder einmal dazu kommen.
Verfasst am 24.10.2022.

Leserecke

Wer war der erste Mensch, der die Meile unter 4 Minuten lief?

Gleich mehrere Kollegen haben uns dabei ertappt, dass wir einem kanadischen Chauvinismus aufgesessen sind: Roger Bannister lief diese Zeit in England bereits 1954, also 12 Jahre vor dem Kanadier David Bailey, dem Entdecker des «Grapefruit-Effektes» (siehe «Kurz und bündig» in Heft 41/2022 [1]). Interessant ist, dass sowohl Bannister als auch Bailey Mediziner waren, nämlich Bannister Neurologe und Bailey klinischer Pharmakologe.
Wir bedanken uns bei den Kollegen Markus Schneemann (Schaffhausen), Angel Vilaseca (Genf) und Hans Riesen (Belp) für diese Hinweise!
1 Swiss Med Forum. 2022, doi.org/10.4414/smf.2022.09272.
Neues aus der Biologie
Faszination der Paläogenetik
Der Nobelpreis für Medizin oder Biologie wurde dieses Jahr Forschenden aus dem Gebiet der Paläogenetik verliehen. Eine gute Wahl, denn dieses faszinierende Gebiet kreiert in rascher Folge Einsichten, die auch für die moderne Medizin wichtig sind.
Die erste Pestepidemie des 14. Jahrhunderts hat in Eurasien und Afrika zu einer heute fast unvorstellbaren Mortalität von etwa 50% in der Allgemeinbevölkerung geführt. Das dafür verantwortliche «moderne» Bakterium Yersinia (Y.) pestis wurde in Skeletten und Zahnwurzeln von Individuen in einem Grab in der Nähe von Bischkek, der Hauptstadt von Kirgisistan, entdeckt und die nahe zeitliche Abfolge zwischen den Todeszeiten und dem Auftreten der Pandemie spricht dafür, dass die erste Pestepidemie dort ihren Ausgang genommen haben könnte [1].
Ein Vergleich der DNA-Sequenzen von Pestopfern (in Dänemark und Grossbritannien) mit Individuen, die diese erste Pestepidemie überlebten, zeigt nun, dass es mehrere Genvarianten bei den Überlebenden gibt, die mit einer erhöhten Bakterizidie von Y. pestis (und einer Reihe von Viren) assoziiert sind. Ein Mechanismus ist der verstärkte Abbau der Pesterreger im endoplastischen Retikulum (eines der damit assoziierten Gene ist das «endoplasmatic reticulum associated protein 2» [ERAP2]). Diese ERAP2 und andere Genvarianten sind aber heute mit einem erhöhten Risiko für Autoimmunkrankheiten, namentlich Rheumatoide Arthritis und Lupus erythematodes, assoziiert.
Die Genvarianten gaben also Schutz vor der Pest, ihre Häufigkeit in der Bevölkerung ist durch die Pestselektion angestiegen und könnte dadurch die heutige Häufung autoimmuner Krankheiten zumindest miterklären. Der Preis einer effizienteren Erregerbekämpfung könnte also ein erhöhtes Risiko für autoimmune Erkrankungen sein. Ein generelles Phänomen?
2 Nature. 2022, doi.org/10.1038/s41586-022-05349-x. Verfasst am 22.10.2022.
Die Pest in Florenz im Jahr 1348, wie in Boccaccios Decameron beschrieben. Radierung von Luigi Sabatelli.
Wellcome Collection. CC BY 4.0, creativecommons.org/licenses/by/4.0.
Fokus auf …
Hämolytisch-urämischem Syndrom (HUS)
Die Krankheit ist durch eine Trias charakterisiert: Mikroangiopathie mit nicht immunologischer (mechanischer) hämolytischer Anämie, Thrombozytopenie und akutes Nierenversagen.
Sie kommt bei Kindern und Erwachsenen vor.
Pathophysiologisch liegt primär eine Endothelschädigung vor. Diese führt zu Mikrothromben, Verbrauchsthrombopenie und einer intravasalen hämolytischen Anämie (Erythrozyten werden in den Fibrinnetzen der Mikrothromben zerstört).
Die wichtigste, aber oft täuschend ähnliche Differentialdiagnose ist die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura, bei der ein kongenitaler oder erworbener Mangel der Von-Willebrand-Protease (ADAMTS13, Konzentration/Aktivität in Speziallabors bestimmbar) vorliegt.
Die Ursachen eines HUS sind sehr heterogen: infektassoziiertes HUS (Shiga-Toxin produzierende Bakterien, v.a. Escherichia coli mit typisch blutigen Diarrhoen als Prodromi, aber auch invasive Pneumokokkeninfekte und viele Viren, v.a. Influenza H1N1), primäres HUS (extrem selten, meist genetische Defekte von Komplementfaktoren, die zur Komplementaktivierung führen via die sogenannte alternative Komplementaktivierung), sekundäre oder mit anderen Krankheiten assoziierte HUS-Formen wie unter anderem Organtransplantationen, Medikamentennebenwirkung (Onkologika wie Vincristin u.a., Immunsuppressiva wie Calcineurin-Hemmer und sogenannte mTOR-Hemmer wie Sirolimus u.a.), assoziiert mit Schwangerschaft, assoziiert mit malignen Tumorerkrankungen, maligne Hypertonie.
Differentialdiagnose und korrekte Klassifizierung sowie das Management des HUS sind oft komplex und deshalb an entsprechende Zentren gebunden.
(eine hervorragende und umfassende Übersicht!). Verfasst am 24.10.2022.