Kurz und bündig
Journal Club Fokus auf ... Auch noch aufgefallen

Kurz und bündig

Aktuelles aus der Wissenschaft
Ausgabe
2022/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09297
Swiss Med Forum. 2022;22(47):765-766

Affiliations
Redaktor Swiss Medical Forum

Publiziert am 23.11.2022

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Fokus auf ...
Tourette-Syndrom
Ist die wichtigste neurologische Entwicklungsstörung, die 0,3 und 0,9% der Kinder und Adoleszenten zwischen 4 und 18 Jahren betrifft.
Die Hauptmerkmale sind nicht willentliche motorische und vokale sogenannte «Tics».
Die Störung weist eine starke genetische Komponente auf, wobei die wichtigsten genomischen Varianten 4/5 oder mehr der Erblichkeit erklären. Knaben sind 4× häufiger betroffen als Mädchen.
Laut dem psychiatrischen Diagnosemanual (DSM-5) sind für eine «Tourette-Diagnose» erforderlich: Symptombeginn vor dem 18. Lebensjahr, Symptome mindestens 1 Jahr vorhanden, dabei mindestens zwei motorische Tics und mindestens ein vokaler Tic.
Im Appendix zur referenzierten Arbeit wird die komplexe Pathophysiologie gut geschildert.
Häufig bestehen beim Tourette-Syndrom vor allem psychiatrische Komorbiditäten und leider auch eine erhöhte Mortalität, inklusive infolge von Suiziden.
In der Behandlung sind verhaltenstherapeutische Interventionen erste Wahl (namentlich «comprehensive behavioural intervention for tics»).
Anti-Psychotika (zuerst atypische wie Risperidon u.a.m.), bei mangelnder Wirksamkeit allenfalls auch Antikonvulsiva wie Topiramat und Antidepressiva wie Desipramin.
Neuromodulatorische Therapien scheinen vielversprechend, einschliesslich der sogenannten «deep brain stimulation».
Lancet Neurol. 2022, doi.org/10.1016/S1474-4422(22)00303-9. Verfasst am 11.11.2022.

Praxisrelevant

Sind zugelassene Arzneimittel nicht nur wirksam, sondern auch klinisch nützlich?

In der Schweiz verabreichte Arzneimittel müssen zuerst von Swissmedic aufgrund der eingereichten und/oder publizierten Daten zugelassen werden.
Eine Studie hat nun in Bezug auf die 48 Onkologika, die zwischen 2010 und 2019 zugelassen wurden, zu eruieren versucht, wie viele dieser Medikamente gemäss Kriterien verschiedener Guidelines auch zu einem substantiellen klinischen Nutzen führen. Als Basis wurden im Wesentlichen die Daten der jeweiligen Hauptstudie, die zur Zulassung führte, analysiert. Lediglich etwa die Hälfte der Medikamente hatte zum Zeitpunkt der Zulassung auf ihrem Indikationengebiet Guideline-orientiert auch einen substantiellen klinischen Nutzen aufgewiesen. Die Diskrepanzen blieben über die Beobachtungsperiode von zehn Jahren quantitativ etwa konstant.
Die Resultate sind vielleicht etwas ernüchternd, aber auch nicht ganz überraschend. Zulassungsbehörden müssen objektiv die Sicherheit und Robustheit der Wirksamkeitsdaten beurteilen; was dann als substantieller klinischer Effekt gewertet wird, ist wohl etwas subjektiver. Aber vielleicht kann man sich aus diesem Anlass daran erinnern, dass nachgewiesener Effekt nicht direkt mit einem hohen klinischen Nutzen verknüpft ist. Und Guidelines bilden auch bei Weitem nicht immer zu 100% die ganze Realität ab …
Verfasst am 11.11.2022.

Eisenzufuhr bei Herzinsuffizienz: Ist die Studie negativ oder doch positiv?

Eine frühere Studie hatte gezeigt, dass bei Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion und Eisenmangel eine intravenöse Zufuhr von Eisen (als Carboxymaltose) die Herzinsuffizienzsymptome und die Lebensqualität für 12 Monate verbesserte [1]. Eine zweite Studie allerdings war in Bezug auf härtere Endpunkte (Mortalität und Hospitalisationen wegen Herzinsuffizienz) negativ, denn sie verfehlte es, einen signifikanten Nutzen der Eisenapplikation auf diese Endpunkte zu zeigen [2].
Eine neue Studie – «IRONMAN» – findet nun mit einer längeren Beobachtungszeit von gut 2,5 Jahren, dass Eisencarboxymaltose im Vergleich zum Verzicht auf Eisenzufuhr die Hospitalisationsrate wegen Herzinsuffizienz und die kardiovaskuläre Mortalität nicht signifikant senken konnte (n = knapp 570 Patientinnen und Patienten in beiden Gruppen [3]). Eingeschlossene Individuen mussten eine Ejektionsfraktion von <45% und einen – so definierten – Eisenmangel (Transferrinsättigung <20%, Ferritin <100 µg/l) aufweisen. Die Autorenschaft verwendete dann erhebliche Energie für die Analyse sekundärer Endpunkte und wurden fündig: Ein kombinierter Endpunkt für das Auftreten kardiovaskulärer Todesfälle und eine statistische Auswertung nur der erstmalig aufgetretenen kardiovaskulären Ereignisse inkl Herzinsuffizienz-bedingte Hospitalisationen fiel dann signifikant aus, aber nur sehr knapp (p = 0.045).
Wir sind kurz und bündig weiterhin nicht überzeugt, dass intravenöse Eisenzufuhren basierend auf den freizügigeren Kriterien für einen Eisenmangel (im Vergleich zu Nicht-Herzinsuffizienten) wirklich einen klaren Nutzen bringen.
1 N Engl J Med. 2009, doi.org/10.1056/NEJMoa0908355.
Verfasst am 12.11.2022.

Neues aus der Biologie

COVID-19: Infektion und Booster

In Bezug auf COVID-19 fühlen sich in verschiedenen Diskussionen meist jene Mitmenschen sicher, die sich einer sogenannten Hybridimmunität rühmen, also einer Immunität durch einen natürlichen Infekt und durch Booster- oder «Rappel»-Vakzinierung. Das muss aber nicht ein Vorteil sein!
Individuen ohne vorherige COVID-19-Infektion zeigen nach der Booster-Impfung (mRNA-Impfstoffe) einen deutlichen Anstieg der Spike-(S1-)spezifischen, neutralisierenden Antikörper (auch gegen die sogenannten «variants of concern») und der B-Zellen. Diese Veränderungen werden auch durch einen natürlichen Infekt ausgelöst. Wird nun im Sinne eines Boosters revakziniert, steigt die Antikörperantwort nicht ohne Weiteres an. Dies hängt vom Intervall zwischen Infekt und Booster ab: Liegt der Infekt mehr als 180 Tage zurück, stimuliert der Booster die Immunantwort, während diese innerhalb weniger als 180 Tage paralysiert ist (das heisst auf den durch den Infekt induzierten Niveaus verbleibt).
Die 4-Monats-Regel in der aktuellen Impfempfehlung ist primär durch Bedenken verstärkter Impfnebenwirkungen motiviert. Sie bekommt aber vor dem Hintergrund dieser Studie weiteren Sinn und das Intervall sollte vielleicht im Hinblick auf eine optimale Booster-Wirkung sogar noch etwas verlängert werden.
Verfasst am 12.11.2022.

Auch noch aufgefallen

Hoffnung für therapieresistente Depressionen?

Die therapieresistente Depression ist eine Krankheit mit wenig guten Behandlungsmöglichkeiten und die Wahrscheinlichkeit einer Remission nimmt mit jedem Zyklus einer neuen antidepressiven Therapie weiter ab: Von 30% bei der ersten Behandlung zu nur noch 13% nach dem vierten Therapieversuch.
Psilocybin ist ein «Psychodelikum» und eine Pilzsubstanz (ein sogenanntes Tryptamin-Alkaloid), die in Pilotstudien eine ermutigende antidepressive Wirkung gezeigt hat. Eine Einzeldosis von 25 mg (im Vergleich zu 10 und 1 mg) verbesserte einen Depressions-Score nach drei Wochen, aber nicht mehr später. Suizidale Ideen und Verhaltensmuster waren nicht gebessert. Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Nausea und Schwindel waren häufig (bei 4 von 5 Patientinnen und Patienten). Also leider keine ermutigenden Resultate!
N Engl J Med. 2022, doi.org/10.1056/NEJMoa2206443.
Verfasst am 13.11.2022.

Vitamin-D-Bestimmungen lohnen sich

Bei älteren Männern (60‒87 Jahre) vermochten die 25-Hydroxy-Vitamin-D-(25[OH]D-)Spiegel («Vitamin D») den Verlauf der Knochenmasse und der Knochenarchitektur innerhalb der nächsten vier und acht Jahre verlässlich vorauszusagen. Je tiefer die Vitamin-D-Spiegel, desto schneller und ausgeprägter der Abfall der Knochenmasse, der Knochenqualität und daher der Frakturwahrscheinlichkeit. Die Kontrollgruppe bestand aus Männern mit einem Vergleichswert von Vitamin D von 70 nmol/l (30 ng/ml). Also: Kenne Deine Vitamin-D-Spiegel!
J Bone Miner Res. 2022, doi.org/10.1002/jbmr.4657.
Verfasst am 12.11.2022.

Sollen wir uns darüber freuen oder nicht?

Effekt der medizinischen Abklärung der altersabhängigen Fahr(un)tüchtigkeit

Können die flächenweit obligatorischen medizinischen Untersuchungen bei älteren Individuen in der Schweiz ernsthaftere Autounfälle durch diese Verkehrsteilnehmenden reduzieren?
Eine vergleichende Studie mit Deutschland und Österreich findet – im Gegensatz zur Erwartung – keinen messbaren Effekt der medizinischen Abklärung auf das Risiko, als ältere Fahrerin oder älterer Fahrer einen ernsthaften Autounfall zu verursachen. Wie geht es nun weiter?
Swiss Med Wkly. 2022, doi.org/10.57187/smw.2022.40005.
Verfasst am 13.11.2022.
Auch noch aufgefallen
Masken und SARS-CoV-2-Übertragung
Die Wirksamkeit von Gesichtsmasken wird von vielen Kreisen angezweifelt und man muss in der Gegenargumentation zugeben, dass es keine klassischen prospektiven, verblindenden Wirkungsnachweise dazu gibt oder geben kann.
school children with protective masks against coronavirus at lesson in classroom
Gesichtsmasken scheinen doch wirksam zu sein.
© Oksun70 / Dreamstime
Aber folgende Daten sind hilfreich: Während der Omikron-Welle im Winterhalbjahr 2021/2022 wurde in der Region Boston die Maskenpflicht im Februar 2022 in einem grossen Teil der Schulkreise sukzessive aufgehoben und in einem anderen weitergeführt. In den ersten 15 Wochen traten laut dieser Studie in den Schulkreisen mit aufgehobener Maskenpflicht im Vergleich zu vorher und im Vergleich zu Kreisen mit weitergeführter Tragpflicht 45 COVID-19-Fälle mehr pro 1000 Personen (Schülerschaft und Lehrpersonal zusammengenommen) auf.
Somit kann man sagen: Also doch wirksam! Die Abbildung 2 in der referenzierten Arbeit ist eindrücklich.
N Eng J Med. 2022, doi.org/10.1056/NEJMoa2211029. Verfasst am 13.11.2022.
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