Kurz und bündig
Journal Club Fokus auf … Krankheitsmechanismen: Wie könnte das funktionieren?

Kurz und bündig

Aktuelles aus der Wissenschaft
Ausgabe
2022/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09314
Swiss Med Forum. 2022;22(4950):798-799

Affiliations
Redaktor Swiss Medical Forum

Publiziert am 07.12.2022

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Fokus auf …
Motoneuronenerkrankungen
Motoneuronenerkrankungen kommen weltweit vor. In den reicheren Ländern liegt die Prävalenz bei 12−15 Fällen pro 100 000 Personen (etwa so hoch wie beim Glioblastom).
Es wird eine Zunahme der Inzidenz in den nächsten 20 Jahren um mehr als 30% erwartet.
Drei Formen werden unterschieden: amyotrophe Lateralsklerose (ALS, 85%) mit einer Kombination von Befällen des oberen und unteren Motorneurons, primäre Lateralsklerose mit Befall des oberen Motoneurons (und ausgeprägter Spastizität) sowie die primäre Muskelatrophie mit Befall des unteren Motoneurons (Muskelatrophien und schlaffe Paresen).
Die ALS präsentiert sich typischerweise mit schmerzlosen, progredienten, initial lokalisierten Paresen bei gesteigerten Muskeleigenreflexen und Fibrillationen (letztere sind vor allem proximal am besten erkennbar).
Kognitive und Verhaltensstörungen sind häufig.
In 30% der Fälle liegt bei Präsentation eine bulbäre Form mit progredienter Dysphagie und Dysarthrie vor.
Bei Zungenatrophie und gesteigertem Masseter-Reflex sollte an die ALS gedacht werden.
Eine Atrophie zwischen Phalanx des Daumens und des Zeigefingers (dorsale Ansicht) sowie des Thenars im Vergleich zum Hypothenar (palmare Ansicht) ist 95% spezifisch für eine ALS (sogenanntes «split hand sign»).
Es gibt einige ALS-Imitatoren, weshalb eine frühe fachärztliche neurologische Betreuung inklusive situativ zu indizierender bildgebender Verfahren (spinale und Gehirn-Magnetresonanztomographie) und neurophysiologischer/myographischer Abklärungen wichtig sind.
BMJ. 2022, doi.org/10.1136/bmj-2022-073857. Verfasst am 26.11.2022.

Praxisrelevant

Epidemien durch respiratorische Viren: eine nach der anderen oder alle zusammen?

Der Beginn der Hochsaison der Infektionen durch «respiratorische» Viren in der Schweiz ist interessant. In der typischen, frühkindlichen Altersgruppe für «respiratory syncytial virus» (RSV) ist dieser Infekt leider schon seit einigen Monaten sehr häufig. Bei allen Problemen mit wahrscheinlich relevanten Dunkelziffern scheinen aber SARS-CoV-2 und Influenza A entgegen den Erwartungen einer doppelten oder gar dreifachen (SARS-CoV-2, Influenza und RSV) Epidemie weiterhin eher eine moderate Rolle zu spielen. Die Beobachtungen häufen sich, dass sich die typischen respiratorischen Viren gegenseitig behindern, professioneller ausgedrückt also negativ miteinander interferieren [1]. So treten Rhinovirus-Infekte beispielsweise sehr selten zusammen mit Influenza-A-Infekten auf [2].
Da alle respiratorischen Viren eine Stimulation endogener Abwehrstoffe wie Interferone induzieren, könnte die Wirtsabwehr generell verstärkt sein und dem später kommenden Virus das Nachsehen geben. Andere Mechanismen, wie Kompetition um die besten Kulturbedingungen ausser- und innerhalb des menschlichen Körpers sowie Kompetition um die zelluläre Aufnahme sind möglich.
Eine infektiologisch-epidemiologisch spannende Zeit liegt vor uns! Vielleicht werden wir Glück haben.
1 Proc Natl Acad Sci U S A. 2019, doi.org/10.1073/pnas.1911083116.
Verfasst am 26.11.2022.

Das hat uns nicht gefreut

Zu viel versprochen und falsche Erwartungen geweckt

Die sogenannte Selbst- und Heimtestung mit automatisierten Punktions- und Entnahmesy-stemen für kapilläre Blutproben könnten die ambulante Medizin effizienter machen, die Selbstkontrolle vor allem chronischer Krankheiten verbessern sowie die akute Diagnostik und Intervention in verschiedenen klinischen Situationen beschleunigen. Im Jargon spricht man hier von einem B2C-Konstrukt («business to consumer», letztere/r wäre dann in diesem Fall die Patientin/der Patient).
Die Firma Theranos, gegründet durch die (gut aussehende und sehr ehrgeizige) damals 19-jährige Elizabeth Holmes, zog viele Investorengelder an mit dem Versprechen, Diagnos-tikpanels mit bis zu 200 Einzelparametern in nur wenigen Mikrolitern (Tropfen) Blut seien möglich und erst noch genau. Das mediale Getöse für ein erfolgreiches Marketing war gut orchestriert, die Besetzung des Verwaltungsrates aber beispielsweise nicht durch Fachkompetenz, sondern durch die Popularität der Mitglieder bestimmt (einer davon war der frühere Geheimdiplomat und US-Aussenminister Henry Kissinger). Die schlecht oder gar nicht zu haltenden Versprechen wurden dann durch einen Zeitungsartikel (Wall Street Journal) aufgedeckt [1]. Die Firma verlor den ganzen 9 Milliarden US-Dollar schweren Börsenwert und die Firmenleiterin könnte nach einem mehrmonatigen Prozess jetzt zu mehr als 11 Jahren Haft verurteilt werden [2].
«To good to be true» also auch hier. Warum ist dies erst wieder so spät aufgefallen?
Verfasst am 27.11.2022.

Das hat uns gefreut

Ehrlichkeit kommt immer noch vor

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte die Stelle einer/s «Chief Scientist» 2019 geschaffen, um sicherzustellen, dass die WHO-Positionen durch entsprechende wissenschaftliche Evidenz untermauert würden. Nun hat die erste Amtsinhaberin, die indische Pädiaterin Soumya Swaminathan, angekündigt, dass sie sich von dieser Position bald zurückziehe, um sich wieder vermehrt nationalen Aufgaben und Problemlösungen zu widmen.
In einem sehr ehrlichen und lesenswerten Interview mit Science entschuldigt sie sich für die zu wenig affirmative und zu späte Stellungnahme der WHO bezüglich des wichtigsten Übertragungsweges von SARS-CoV-2, nämlich, dass dieses Virus durch Aerosole/Tröpfchen übertragen wird («This is an airborne virus.»).
Allerdings hat die WHO unter anderem dank ihr auch enorme und wichtige Anstrengungen für eine globale Verteilung von COVID-19-Impfstoffen getätigt.
Verfasst am 28.11.2022.

Auch noch aufgefallen

Verbessert Vitamin C bei schwangeren Raucherinnen die Lungenfunktion der Kinder?

Die Studie ist klein (250 schwangere Raucherinnen), aber dafür doppelblind und prospektiv durchgeführt sowie mit einer eindrücklich langen Nachbeobachtungszeit (die Kinder wurden im Alter von 5 Jahren untersucht) ausgestattet.
Dabei wurde eine hochsignifikante Verbesserung der Lungenfunktion mit ansehnlicher Effektgrösse (z.B. für den forcierten exspiratorischen Luftfluss) gefunden, wenn die Mütter während der Schwangerschaft 500 mg Vitamin C anstelle von Placebo eingenommen hatten. Diese Kinder wiesen auch eine signifikant geringere Wahrscheinlichkeit auf, beispielsweise bei Infekten, eine relevante Bronchoobstruktion («wheezing» also pfeifendes Atmen oder exspiratorische Nebengeräusche) zu entwickeln.
In 5 Jahren gibt es eine Reihe von erworbenen oder Umweltfaktoren, die die Lungenfunktion der Kinder (unabhängig vom «Schwangerschafts-Vitamin-C») verändern können. Allerdings werden jetzt die 12 Monate nach Geburt gefundenen Befunde für 5-Jährige bestätigt. Also könnte hier schon was dran sein …
Verfasst am 28.11.2022.
Krankheitsmechanismen: Wie könnte das funktionieren?
Erhöhte Pathogenität von Clostridioides difficile durch Enterokokken
Ein «normales» intestinales Mikrobiom kann die Wahrscheinlichkeit eines Infektes durch einen enteropathogenen Erreger vermindern. Ebenso bekannt ist, dass eine Störung dieses Mikrobioms, namentlich durch Antibiotika, zu erhöhter Inzidenz von Infekten mit Clostridioides difficile führt. Etwas weniger bekannt ist, dass bei Clostridioides-difficile-Infekten oft eine polymikrobielle Darminfektion mit anderen enteropathogenen Erregern (namentlich Enterokokken) vorliegt. Es gilt sogar, je mehr Enterokokken, desto mehr Clostridien, was zur Frage nach einer positiven Kooperation dieser Keime führt.
Clostridioides difficile unter dem Elektronenmikroskop.
© Norbert Bannert, Lars Möller/RKI; www.rki.de
Enterokokken (fast alle der untersuchten Mitglieder der Spezies) produzieren Aminosäuren (Ornithin und Leucin), die das Überleben der Clostridien im mit Antibiotika verseuchten Darmlumen verbessern. Enterokokken können ausserdem eine andere Aminosäure, Arginin, abbauen*. Ein Arginin-verarmtes Mikrobiom erhöht offensichtlich die Virulenz der Clostridien unter anderem durch Stimulierung deren Toxinproduktion. Dieser Mechanismus könnte nicht nur die Schwere des akuten Infektes mitdefinieren, sondern auch für Behandlungsresistenzen und Rezidive mitverantwortlich sein.
* Enterokokken nehmen Arginin aus der Umgebung im direkten Austausch mit Sezernierung von Ornithin auf (Ornithin-Arginin-Austausch-Transporter).
Nature. 2022, doi.org/10.1038/s41586-022-05438-x, Verfasst am 26.11.2022.
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