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«Nature is nowhere accustomed more openly to display her secret mysteries than in cases where she shows traces of her workings apart from the beaten path; nor is there any better way to advance the proper practice of medicine than to give our minds to the discovery of the usual law of nature by careful investigation of cases of rarer forms of disease.» William Harvey, 1657
Hintergrund
Seltene Krankheiten sind an sich selten und in der Schweiz durch eine Prävalenz von unter 1:2000 definiert [1]. Als Gruppe können sie jedoch 6–8% der Bevölkerung betreffen, in isolierten ethnischen Gruppen wie in abgelegenen Alpentälern weit mehr. Sie sind in unserer Haut besonders häufig, weil sie nicht nur durch eine Funktionsstörung, sondern eben auch durch ihre schlichte Sichtbarkeit stigmatisieren und krank machen. Daher sind seltene mono- und polygenetische Dermatosen mit über 1000 Entitäten eine wesentliche Krankheitsgruppe, die in den letzten zwanzig Jahren zu einem wichtigen Forschungsschwerpunkt der Dermatologie geworden sind [2]. Über 70% der seltenen Krankheiten sind auf einzelne Gendefekte zurückzuführen [3, 4]. Davon zeugt die Zunahme der Veröffentlichungen und der Aufbau von Konsortien (wie das frühe EU Biomed2 Geneskin Projekt, Orphanet oder das aktuelle ERN Skin [European Reference Network on Rare and Undiagnosed Skin Disorders]), mit dem Ziel ausreichende Patientenkollektive für Studien seltener Krankheiten zu sammeln [4]. Diese Bestrebungen gipfelten in der Organisation des ersten Weltkongresses für seltene Hautkrankheiten, der im Juni 2022 in Paris stattfand [2].
Gründe für diese Entwicklung
Erstens haben seltene Krankheiten, mono- wie polygenetische, zur Identifizierung zentraler Faktoren und Wege in der Hautbiologie und daher zu neuen Therapieansätzen beigetragen [2]. So führte die molekulare Analyse der allergischen Enzephalopathie und ihre Anti-Interleukin-(IL-)4-Behandlung [5] schliesslich zur therapeutischen Erfolgsgeschichte von Dupilumab bei atopischer Dermatitis und Asthma, mit der die IL-4-Rezeptor-alpha-Untereinheit und damit IL-4 und IL-13 blockiert werden. Gleichsam ergab die molekulare Analyse der familiären primären lokalisierten kutanen Amyloidose [6] wichtige Erkenntnisse über die Rolle des Oncostatin-Rezeptors und dadurch von IL-31 in der Pathogenese des Pruritus, was schliesslich in seiner Behandlung mit dem IL-31-Rezeptorblocker Nemolizumab resultierte [7]. Solch neue innovative Behandlungen können ihrerseits wieder für die Therapie seltener Krankheiten eingesetzt werden. So wurde vor Kurzem zur Behandlung des rebellischen Juckreizes Nemolizumab bei Prurigo nodularis [8] oder Dupilumab bei der Epidermolysis bullosa pruriginosa eingesetzt, die durch rezessive Kollagen-7-Mutationen verursacht wird [9]. Beide Ansätze führen zu einer enormen Verbesserung des Hautzustandes und der Lebensqualität [2].
Zweitens wird diese Entwicklung noch durch das Zerfallen von Diagnosen wie der Psoriasis in einzelne pathogenetisch diverse Krankheiten verstärkt. Diese Entwicklung beobachten wir immer häufiger in der aktuellen personalisierten Präzisionsmedizin. Erythrodermatische, pustulöse oder vulgäre Psoriasis (en plaques) besitzen mit Interferon-alpha, IL-36 und IL-23 verschiedene immunpathogenetische Muster und verlangen daher unterschiedliche Therapieansätze [10]. Auch hier führten genetische Studien, wie die Identifikation von CARD14-Mutationen bei der seltenen familiären Form der Pityriasis rubra pilaris oder von IL-36RN-Varianten bei DITRA-(«deficiency of interleukin-36 [thirtysix]-receptor-antagonist»-)Syndrom und pustulöser Psoriasis zur Entwicklung des Anti-IL-36-Rezeptor-Antikörpers Spesolimab [11]. Handkehrum wird dieser Antikörper wohl bald bei therapieresistenten Formen der akuten generalisierten exanthematischen Pustulose (AGEP) eingesetzt werden, einer ungewöhnlich rasch innert Tagen auftretenden medikamentösen Hautreaktion (Toxidermie) [12].
Drittens haben Fortschritte in unserem Verständnis der Ätiopathogenese seltener Krankheiten zu dramatischen Veränderungen in der Behandlung dieser Erkrankungen geführt. Genodermatosen, die durch Nicht-Sense-Mutationen verursacht werden, lassen sich heute mit «read-through»-induzierenden Wirkstoffen wie Aminoglykosiden behandeln [2]. Diese Strategie wurde erfolgreich in der Behandlung von Epidermolysis bullosa, Hailey-Hailey-Krankheit, palmoplantarer Keratodermie und Haarerkrankungen eingesetzt [13]. Genodermatosen, die im Gegensatz dazu durch «gain-of-function»-Varianten assoziiert sind, können durch Blockade aktivierter Signalwege behandelt werden. So können invalidisierende Keratosen wie zum Beispiel beim äusserst seltenen Olmsted-Syndrom durch Hemmung der Signalübertragung via Sirolimus oder Erlotinib behandelt werden [14, 15].
Viertens, und das ist vielleicht noch wichtiger, kann das pathogenetische Studium seltener Genodermatosen enorme Auswirkungen auf die Behandlung häufiger oder schwerster Erkrankungen haben [2, 16]. Die zentrale Rolle von Profilaggrin und einer gestörten Hautbarriere in der Pathogenese der Atopien, dem «atopic march», die durch die Identifizierung der Ursache der homo- und heterozygoten Ichthyosis vulgaris aufgedeckt wurde, ist unbestreitbar ein Beispiel für dieses Paradigma [2, 17]. Es unterstreicht die zentrale Rolle der rückfettenden Grundbehandlung bei atopischer Dermatitis und generell bei allen Ekzemen. Die Entdeckung von PTCH- und SUFU-Mutationen als Ursache des familiären naevoiden Basalzellkarzinoms (Gorlin-Syndrom), mit der damit verbundenen Aktivierung von Sonic Hedgehog (ein die Morphogenese während der Embryonalentwicklung steuerndes Protein), führten schliesslich zur Entwicklung der Zyklopamin-Analoga. Vismodegib und Sonidegib werden heute zur Behandlung des metastasierten oder inoperablen Basalzellkarzinoms eingesetzt [18].
Umgekehrt wirkt sich die Erforschung häufiger dermatologischer Erkrankungen zunehmend auf die Behandlung seltener Erkrankungen aus. Die Pachyonychia congenita geht mit einer extrem schmerzhaften palmoplantaren Keratodermie einher, die durch die Bildung subkallöser Blasen entsteht. Botulinumtoxin hat sich als Mittel der Wahl zur Behandlung von Hyperhidrose etabliert und wird nun auch zur Linderung von Plantarschmerzen bei Pachyonychia congenita eingesetzt, indem die Flüssigkeitsansammlung unter der Plantarschwiele verhindert wird [2, 19]. Ebenso indirekt behandeln wir heute die kollateralen Entzündungsreaktionen bei Personen mit kongenitalen Ichthyosen und anderen Genodermatosen basierend auf Analysen mit Zytokin-RNA-Panels (zum Beispiel NanostringTM) mit dem immer besser diversifizierten Arsenal an Biologika [16, 20]. Last but not least hat die Dermatologie in der Stammzelltherapie seit bald 50 Jahren mit Keratinozytenkulturen eine Führungsrolle inne. Diese werden heute für Transplantate in der Wundtherapie eingesetzt und retten in Verbrennungszentren auf der ganzen Welt Leben [21, 22]. Die Stammzelltherapie offeriert sich aber natürlich auch für Ex-vivo-Gentherapien. So sind im vergangenen Jahrzehnt einige GMP-Manufakturen (GMP: «good manufacturing practices») entstanden, in denen lebensbedrohliche rezessive Formen der junktionalen und der dystrophen Epidermolysis bullosa mittels viraler Substitution korrigiert und dann im Operationssaal behandelt werden können [23]. Seit Kurzem zeichnet sich hier ein Paradigmenwechsel ab, in dem von Herpesviren abgeleitete Vektoren auch in vivo, also topisch, eingesetzt werden können [24]. Liessen sich solche Vektoren generell für Lokaltherapien erfolgreich einsetzen, so käme dies einer therapeutischen Revolution gleich.
Kurzum
Was verbindet seltene Hautkrankheiten mit unserer täglichen Praxis? Das eingangs aufgeführte Zitat von William Harvey gibt uns die Antwort: Die wissenschaftliche klinische und molekular-biologische Analyse seltener Erkrankungen eröffnet uns die Möglichkeit, Klinikerinnen und Kliniker zu informieren und erkrankte Personen oder ihre Familien mit Erkenntnissen zu versorgen, die für die Behandlung von Hautkrankheiten umfassend und unmittelbar relevant sind. Unabhängig davon, wie häufig sie auftreten ...
Service de dermatologie, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne
1 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Dermatologie und Venerologie (SGDV)
Der Autor hat deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Kopfbild: Michael Bonert / Wikimedia User:Nephron (CC BY-SA 3.0 license)
Prof. Dr. med. Daniel Hohl
SGDV-Präsident
Generalsekretariat
Dalmazirain 11
CH-3005 Bern
Praesidium[at]derma.ch
Service de dermatologie
Centre hospitalier universitaire vaudois
Hôpital de Beaumont
Av. de Beaumont 29
CH-1011 Lausanne
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