Narkolepsie: eine chronische hypothalamische Erkrankung
Update

Narkolepsie: eine chronische hypothalamische Erkrankung

Übersichtsartikel
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09274
Swiss Med Forum. 2023;23(11):958-961

Affiliations
a Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern; b Graduate School for Health Sciences, Universität Bern, Bern
* Geteilte Erstautorenschaft

Publiziert am 15.03.2023

Dieser Artikel ­gibt ein Update zu den Manifestationen, der Ätiopathogenese sowie der (Differential-)Dia­gnostik und Therapie der Narkolepsie.

Einführung

Narkolepsie ist eine meist chronisch verlaufende, hypothalamische Erkrankung aus der Gruppe der zentralen Hypersomnien. Beide Unterformen der Narkolepsie sind durch eine ausgeprägte Tagesschläfrigkeit charakterisiert, bei der Narkolepsie Typ 1 (NT1) bestehen im Unterschied zur Narkolepsie Typ 2 (NT2) zusätzlich Kataplexien und ein Mangel an dem Peptidhormon Hypocretin im Liquor [1].

Epidemiologie

In Europa und Nordamerika betrifft die Erkrankung 200–500 Personen pro 1 Million Menschen. Auf die Schweiz bezogen wären das 1600–4000 Fälle, bei fehlenden offiziellen Daten. Das Erkrankungsalter hat zwei Spitzenwerte, bei 15 und 35 Jahren, und ein etwa ausgeglichenes Geschlechterverhältnis [2]. In 10–15% der Fälle liegt der Beginn vor dem 10. Lebensjahr, gelegentlich beginnt die Erkrankung aber auch nach dem 50. Lebensjahr [3].
Die Symptome der Narkolepsie können sich einschneidend auf wichtige Lebensbereiche (z.B. Schule, Beruf, Fahreignung) auswirken und sind von einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität begleitet [4] – eine rasche Diagnosestellung ist daher wichtig. Leider beträgt die Diagnoseverzögerung in Europa aktuell 5–15 Jahre [5, 6].

Ätiopathogenese

Es wird angenommen, dass bei NT1 das Aufeinandertreffen von genetischer Veranlagung, Umweltfaktoren und auslösenden (Trigger-)Ereignissen (z.B. Infektionen, Impfungen) zur immunvermittelten, selektiven Zerstörung von Hypocretin-produzierenden Nervenzellen im lateralen Hypothalamus führt [7] (Abb. 1). Neuere, bislang nicht veröffentlichte Resultate deuten darauf hin, dass auch eine Dysfunktion der Hypocretin-produzierenden Nervenzellen (z.B. «epigenetic silencing») zu einer Narkolepsie führen kann. Unsere Gruppe konnte 2018 erstmals sowohl bei NT1 als auch bei NT2 gegen Hypocretin-Neurone gerichtete, autoreaktive cluster-of-differentiation-4-positive (CD4+-) und CD8+-Immunzellen in Blut und Liquor von Patientinnen und Patienten mit Narkolepsie nachweisen [7].
Abbildung 1: Symptome und Pathophysiologie der Narkolepsie Typ 1. Genetische Veranlagung und andere Einflussfaktoren – bekannte (z.B. Infektionen) sowie unbekannte Umweltfaktoren – führen zum immunvermittelten Untergang von Hypocretin-Neuronen im lateralen Hypothalamus. Es kommt zu exzessiver Tagesschläfrigkeit, Kataplexien und einem Absinken des Hypocretin-Werts (≤110 pg/ml) im Liquor. Der Multiple Schlaflatenztest (MSLT) weist eine durchschnittliche Einschlaflatenz unter 8 Minuten auf, sowie mindestens zwei «sleep onset rapid eye movement periods» (SOREMP).
© Inselspital, Bern University Hospital, Dept. of Neurology. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Hypocretin wird im lateralen Hypothalamus gebildet und spielt eine Rolle bei der Regulation von Wachheit und Rapid-Eye-Movement-(REM-)Schlaf, aber auch von motorischen, autonomen und psychischen Funktionen. Ein Hypocretin-Mangel führt zu einer Dysfunktion von frontalen, limbischen, dienzephalen und Hirnstamm-Netzwerken. Ob es bei der Narkolepsie zur Zu- oder Abnahme anderer Neurone (z.B. Histamin-Neurone, Corticotropin-releasing-Hormon-Neurone) kommt, bleibt kontrovers [8, 9].
Limitierte, autoptische Daten und klinische Verlaufsbeobachtungen von Personen, die zuerst NT2 und dann NT1 entwickelten, weisen darauf hin, dass es sich bei der NT2 um eine mildere Form der Narkolepsie mit nur diskretem Hypocretin-Mangel handelt [10].
Genetisch ist die Narkolepsie stark mit «human leukocyte antigen» (HLA) der Klasse II, insbesondere HLA-DQB1*06:02, assoziiert. Dieses Allel wird bei 86–98% der von NT1 und 40–50% der von NT2 Betroffenen nachgewiesen, jedoch auch bei 5–38% der Personen in der allgemeinen Bevölkerung. Von allen Allel-Trägern entwickelt 1 von 1000 eine Narkolepsie [11].
Andere genetisch prädisponierende (HLA der Klasse I) sowie protektive Faktoren, die alle mit der Kontrolle der Immunantwort verbunden sind, wurden in den letzten Jahren beschrieben [11].

Klinische Manifestationen

Die exzessive Tagesschläfrigkeit ist meist das Erst- und Leitsymptom der Krankheit und beschreibt die Tendenz, vornehmlich in passiven, monotonen, aber auch in aktiven Situationen rasch einzuschlafen. Bei der Narkolepsie sind die Schlafattacken meist kurz (<20 Minuten) und erholsam und können mit traumähnlichen Erlebnissen verbunden sein. Die Gesamtschlafdauer über 24 Stunden verteilt ist in der Regel normal [1].
Kataplexien sind plötzlich auftretende, kurze (sekundenlange) Episoden mit bilateralem Kraft- respektive Muskeltonusverlust bei erhaltenem Bewusstsein. Sie werden meist durch positive Emotionen (z.B. Lachen) ausgelöst und sind höchst spezifisch für NT1 [12].
Begleitsymptome sind Halluzinationen und Schlafparalysen beim Einschlafen oder Aufwachen in circa 50% der Fälle und ein gestörter Nachtschlaf. Auch Schlafapnoe, Restless-Legs-Syndrom (RLS) / periodische Beinbewegungen im Schlaf (PLMS), Albträume und REM-Schlaf-Verhaltensstörungen (fehlende oder nicht ausreichende Muskelatonie im REM-Schlaf, was zum Ausagieren von Träumen führen kann) werden beobachtet.
Narkolepsie ist nicht nur eine Schlaf-Wach-Krankheit, auch endokrine (Adipositas, Pubertas praecox) und autonome Störungen können vorkommen.
In Bezug auf die Kognition ist die exekutive Kontrolle über Aufmerksamkeit und Vigilanz im Zeitverlauf reduziert. Es ist unklar, ob dies sekundär durch die Vigilanzminderung bedingt oder primär Ausdruck der hypothalamischen Dysfunktion ist [13].
Affektive Störungen sind häufige Komorbiditäten. Rund 25% der Personen mit NT1 leiden an einer Depression [14]. Man vermutet dahinter eine primäre Störung der Verarbeitung negativer Gefühle durch eine verminderte Aktivierung der Amygdala [15] oder eine sekundäre Genese im Rahmen der chronischen Erkrankung.
Narkolepsie ist mit verminderter Lebensqualität und erhöhtem Risiko für Autounfälle und Verletzungen assoziiert. Schlechte schulische Leistungen, berufliche Probleme, ein vermindertes Selbstwertgefühl und häufigere zwischenmenschliche Probleme sind beschrieben [16].
Die vielseitigen Symptome (motorisch, psychiatrisch, emotional, kognitiv, metabolisch, autonom) sind bei der NT2 meist milder ausgeprägt [1].

Diagnostik und Differentialdiagnostik

Die Diagnosestellung der Narkolepsie erfolgt primär klinisch anhand definierter Kriterien («International Classification of Sleep Disorders – Third Edition» [ICSD-3], Tab. 1) [17], wobei bei der NT1 in der Regel eine klare Kataplexie-Anamnese besteht.
Tabelle 1: Diagnostische Kriterien der Narkolepsie Typ 1 und Typ 2 gemäss der 3. Edition der «International Classification of Sleep Disorders» (ICSD-3) [17]
Narkolepsie
Typ 1
Exzessive Tagesschläfrigkeit ≥3 Monate
und ein weiteres Kriterium
Kataplexien + pathologischer MSLT* (Einschlaflatenz ≤8 min und ≥2 SOREMPs**) oder
  Hypocretin ≤110 pg/ml
NarkolepsieTyp 2Exzessive Tagesschläfrigkeit ≥3 Monate
und zwei weitere Kriterien
+ Ausschluss von Differentialdiagnosen***
Pathologischer MSLT *
(Einschlaflatenz ≤8 min und ≤2 SOREMPs**) und
Keine Kataplexien, Hypocretin (falls gemessen) >110 pg/ml
* MSLT: Multipler Schlaflatenztest
** SOREMP: sleep onset REM period (innerhalb ≤15 min nach dem Einschlafen). Anstelle eines SOREMP im MSLT kann auch ein SOREMP in der Polysomnographie (PSG) gewertet werden.
*** Andere Ursachen für die Symptome (z.B. chronische Schlafinsuffizienz, Schlafapnoe, zirkadiane Rhythmusstörungen und Medikamente/Drogen) müssen ausgeschlossen werden.
Als Screening-Tools werden die «Epworth Sleepiness Scale» (ESS) und die Schweizer Narkolepsie-Skala (SNS) empfohlen [18, 19]. Die ESS gibt die subjektive Einschlafneigung in verschiedenen Situationen an. Eine pathologische Tagesschläfrigkeit besteht ab >10/24 Punkten; Personen mit NT1 und NT2 erreichen durchschnittlich 17 ± 3 Punkte [20]. Spezifischer ist die SNS, die aus fünf Fragen besteht und eine NT1 in drei unabhängigen Studien mit einer Sensitivität und Spezifität von circa 90% erkannt hat [19].
Schlafstruktur und eventuelle Komorbiditäten (z.B. schlafbezogene Atemstörung, REM-Schlaf-Verhaltensstörung) werden mittels Polysomnographie (PSG) ermittelt. Im Multiplen Schlaflatenztest (MSLT) erhalten die Untersuchten in vier bis fünf über den Tag verteilten Durchgängen die Möglichkeit einzuschlafen. Die durchschnittliche Einschlaflatenz und die Dauer bis zum Auftreten von REM-Schlaf gehen in die diagnostischen Kriterien ein (Tab. 1). Bei Personen mit Narkolepsie bestehen sogenannte «sleep-onset-REM periods» (SOREMP, Auftreten von REM-Schlaf innerhalb ≤15 Minuten nach dem Einschlafen) in der PSG (bis zu 50% der Personen mit NT1 [1, 21]) oder im MSLT.
Für die Erkennung einer NT2 müssen andere Ursachen für die Symptome der Patientinnen und Patienten (Tab. 1) ausgeschlossen werden. Daher ist eine Aktigraphie aus unserer Sicht unerlässlich. Diese hilft unter anderem, einen möglichen Schlafmangel und Defizite in der Schlafhygiene zu erkennen und entsprechende Empfehlungen abzugeben.
Obwohl nicht Teil der diagnostischen Kriterien, kann zur Prüfung der Wachhaltefunktion und zur besseren Einschätzung der Fahreignung ein Multipler Wachhaltetest (MWT) durchgeführt werden, bei dem die Untersuchten tagsüber in vier Durchgängen von je 40 Minuten in einem halbdunklen Raum so lange wie möglich wach bleiben sollen.
Als weitere diagnostische Massnahme sollte eine Hypocretin-Messung im Liquor erfolgen. Dies vor allem bei unklarer Kataplexie-Anamnese, bei Verdacht auf eine sekundäre oder familiäre Erkrankungsform, oder wenn die Schlaf-Wach-Tests nicht zuverlässig durchführbar oder beurteilbar sind (z.B. bei jungen Kindern oder bei Personen unter psychotroper Medikation, die nicht abgesetzt werden kann). Bei 95% der von NT1 Betroffenen wird eine Hypocretin-Reduktion im Liquor nachgewiesen (auf ≤110 pg/ml bzw. ⅓ des Normwertes) [22]. Ergänzend kann das HLA-Allel DQB1*06:02 bestimmt werden.
Die Bildgebung zeigt bei der primären Narkolepsie keine strukturellen zerebralen Veränderungen, kann jedoch zum Ausschluss sekundärer Ursachen oder Komorbiditäten (z.B. Neurosarkoidose, Multiple Sklerose) durchgeführt werden.
Für die Differentialdiagnostik bei exzessiver Tagesschläfrigkeit und Kataplexien verweisen wir auf Tabelle 2. Insbesondere bei Kindern präsentieren sich die Symptome oft atypisch. So kann sich exzessive Schläfrigkeit auch in Form von Bewegungsunruhe ausdrücken und zur Fehldiagnose eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms führen [23]. Sollte die Unterscheidung zwischen Kataplexien und anderen Ursachen für bilaterale Episoden mit Muskeltonusverlust im Einzelfall schwierig sein, kann das Ansprechen auf antikataplektische Medikamente als Kriterium herangezogen werden [17]. Besonders bei asymmetrisch auftretender Muskelschwäche, Bewusstseinsverlust, langer Episodendauer, atypischen Triggern oder erhaltenen Muskeleigenreflexen während der Attacke sollte an alternative Ursachen (z.B. Synkopen oder akinetische epileptische Anfälle) gedacht werden [24].
Tabelle 2: Differentialdiagnosen bei Tagesschläfrigkeit und Kataplexien
TagesschläfrigkeitSchlafassoziierte Atemstörung
 Zirkadiane Rhythmusstörungen
 Schichtarbeit
 Chronische Schlafinsuffizienz
 Medikamente
 Andere zentrale Hypersomnien (z.B. idiopathische Hypersomnie)
 Neurologische Erkrankungen
 Psychiatrische Erkrankungen
KataplexienPhysiologisch, «weak with laughter»
 Synkopen
 Akinetische epileptische Anfälle
 Neuromuskuläre Erkrankungen
 Funktionelle Symptome («Pseudokataplexien»)
 Hereditäre Syndrome (z.B. Prader-Willi-Syndrom, Niemann-Pick Typ C, Morbus Norrie)
Wenn keine Kataplexien vorhanden sind (NT2), kann die Abgrenzung der Narkolepsie zu anderen zentralen Hypersomnien (z.B. idiopathische Hypersomnie, chronisches Schlafdefizit) schwierig sein [25].
Der MSLT besitzt eine Sensitivität und Spezifität von nur etwa 70% [26]. Eine verkürzte Schlaflatenz und SOREMPs können auch im Rahmen anderer neurologischer Erkrankungen, bei Depressionen und Schlafdefizit auftreten [17].

Therapie und Management

An erster Stelle stehen Beratung und nicht pharmakologische Therapien. Dazu gehören regelmässige, geplante Mittagsschläfchen, sportliche Aktivität sowie eine gute Schlafhygiene und Tagesstruktur. Eine zusätzliche psychologische Betreuung, Ernährungsberatung oder Sozialberatung kann je nach individuellen Bedürfnissen und Komorbiditäten hilfreich sein. Der Austausch mit anderen Betroffenen (z.B. im Rahmen einer Patientenorganisation wie der «Schweizer Narkolepsie Gesellschaft» [SNaG]) kann hilfreich sein und sollte durch die behandelnde Gesundheitsfachperson aktiv vorgeschlagen werden.
Die aktuelle pharmakologische Behandlung der Narkolepsie ist rein symptomatisch und zielt auf die Verbesserung von Vigilanz, Kataplexien und gestörtem Nachtschlaf ab. 2021 wurde eine neue europäische Leitlinie zur Behandlung der Narkolepsie veröffentlicht, die erstmals auch Empfehlungen zur Behandlung von Kindern enthält [27]. Die Empfehlungen sind in Tabelle 3 zusammengefasst.
Tabelle 3: Medikamente zur Behandlung der Narkolepsie-Symptome bei Erwachsenen (adaptiert nach [27])
PräparatDosisTagesschläfrigkeitKataplexienGestörter Nachtschlaf
Modafinil100–400 mg++  
Methylphenidat10–60 mg+  
Pitolisant4,5–36 mg+++ 
Natriumoxybat4,5–9 g++++++
Solriamfetol75–150 mg++  
Venlafaxin37,5–300 mg ++ 
Clomipramin10–50 mg ++ 
+ schwache Empfehlung
++ starke Empfehlung
Die Medikamentenwahl sollte das Nebenwirkungsprofil sowie eventuelle Begleiterkrankungen berücksichtigen. Modafinil, das Mittel der ersten Wahl im europäischen und amerikanischen Raum, unterliegt in der Schweiz einer Limitatio (Spezialitätenliste des Bundesamtes für Gesundheit vom 1.3.2023)und wird oft nur bei Nichtansprechen, Unverträglichkeit von Methylphenidat oder kardiovaskulären Risikofaktoren durch die Krankenkassen vergütet. Stimulanzien können vor allem bei höherer Dosis und später Einnahme zu gestörtem Nachtschlaf führen. Modafinil und Pitolisant können die Wirkung von hormonellen Kontrazeptiva herabsetzen, worüber Patientinnen aufgeklärt werden sollten. Keines der Präparate ist in der Schwangerschaft zugelassen. Natriumoxybat kann eine bestehende Schlafapnoe verstärken. Wenn die Langzeitbehandlung der Kataplexie plötzlich abgesetzt wird, kann sich ein Status cataplecticus entwickeln, der durch lange Abfolgen von kataplektischen Anfällen ohne vollständige Erholung zwischen den Episoden gekennzeichnet ist [28].
Eventuelle Begleiterkrankungen (z.B. Schlafapnoe, Restless-Legs-Syndrom, REM-Schlaf-Verhaltensstörung, Depression, Adipositas, arterielle Hypertonie) sollten ebenfalls behandelt werden.
Um die Betreuung der Betroffenen zu verbessern sowie Gesundheitsfachpersonen und die Bevölkerung besser über die Erkrankung zu informieren, wurde das «Swiss Narcolepsy Network» (SNaNe) gegründet. Weitere Ziele des SNaNe sind die Koordination von Forschungsaktivitäten und die Förderung des Austauschs mit der Patientenorganisation SNaG.

Ausblick

Seit der Erstbeschreibung der Narkolepsie hat sich das Wissen über Pathophysiologie, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten erheblich erweitert.
Dennoch sind die exakten pathophysiologischen Prozesse noch unbekannt. Die überlappenden und teils unspezifischen Symptome der verschiedenen zentralen Hypersomnien (siehe «Differentialdiagnostik») haben zum Begriff des «Narcolepsy Borderland» geführt. Europäische Experten beurteilen die aktuellen diagnostischen Kriterien als zu unscharf und revisionsbedürftig [29]. Sie betonen die Wichtigkeit detaillierter klinischer Parameter und schlagen die Einführung von Wahrscheinlichkeitslevels für die Diagnosestellung vor (z.B. wahrscheinlich und gesichert), weiter einen geringeren Stellenwert des MSLT bei der Diagnosestellung.
Es bestehen Bemühungen, die Erkrankungen des «Narcolepsy Borderland» besser zu erforschen und neue Biomarker zu finden, die Definition, Diagnostik und Behandlung erleichtern würden [30]. Im Rahmen der aktuellen multizentrischen Schweizer Studie «Swiss Primary Hypersomnolence and Narcolepsy Cohort Study» sollen der Verlauf untersucht und Prädiktoren für ein Fortschreiten der Erkrankungen gefunden werden.
Neue Ansätze sind die Forschung an «Wearables» (z.B. Uhren, die eine Untersuchung des Schlaf-Wach-Rhythmus und der Aktivität erlauben) und Smartphone-Apps, die ein «Telemonitoring» der Symptome und eine gegebenenfalls zeitnahe Anpassung der Behandlung ermöglichen würden. Auch die Forschung am menschlichen Mikrobiom und im Bereich der Genetik könnte helfen, das Verständnis der Narkolepsie zu erweitern und neue Biomarker zu finden [31, 32]. Die Entwicklung neuer Messmethoden für Hypocretin (z.B. mittels Massenspektrometrie) soll die Diagnostik vereinfachen und zu neuen Erkenntnissen über Funktion und Abbau dieses Neuropeptids führen.
Der Nutzen zeitnah nach Krankheitsbeginn eingesetzter kausaler, beispielsweise immunmodulatorischer, Ansätze (z.B. intravenöse Immunglobuline [IVIG], Kortikosteroide, Plasmapherese) bleibt umstritten. Nach vielversprechenden Resultaten in Tiermodellen werden aktuell bei Personen mit NT1 und NT2 Hypocretin-Ersatztherapien mit selektiven Hypocretin-Rezeptor-Agonisten getestet [33].
In Bezug auf die COVID-19-Pandemie bestehen, basierend auf der aktuellen Datenlage, keine Hinweise darauf, dass die COVID-19-Erkrankung oder -Impfung das Risiko für die Entwicklung einer Narkolepsie erhöhen oder deren Verlauf negativ beeinflussen. Eine Verschlechterung der Schlafhygiene durch eine fehlende Tagesstruktur sollte jedoch in Betracht gezogen werden. Kleinere Studien haben andererseits durch Verlängerung der Schlafdauer und häufigere geplante Schläfchen während des «Lockdowns» einen positiven Effekt der Pandemie auf Patientinnen und Patienten mit Narkolepsie gezeigt. Die Tagesschläfrigkeit war deutlich gebessert [34, 35].

Das Wichtigste für die Praxis

Narkolepsie ist eine hypothalamische, höchstwahrscheinlich immunvermittelte Erkrankung, die in zwei Unterformen (NT1 und NT2) unterteilt wird.
In der Praxis sollte bei tendentiell jungen Menschen mit ausgeprägter Tagesschläfrigkeit an Narkolepsie gedacht werden. Die Anamnese sollte Fragen nach Episoden von Muskelschwäche (Kataplexien) und nach den Schlafgewohnheiten (z.B. Schlafdauer, Tagesschläfchen) enthalten. Bei beiden Formen der Narkolepsie können zusätzlich psychiatrische, kognitive, metabolische und autonome Symptome bestehen.
Personalisierte und Langzeitbehandlungsstrategien, die die Hauptsymptome und Komorbiditäten berücksichtigen, sind wichtig.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass eine COVID-19-Erkrankung oder -Impfung das Risiko für die Entwicklung einer Narkolepsie erhöhen oder deren Verlauf negativ beeinflussen.
Herausforderungen: Steigerung des Bekanntheitsgrads und des Verständnisses der Pathogenese (Immunprozess, Dysfunktion anderer neuronaler Systeme), frühere und präzisere Diagnosestellung, Forschung an kausalen und Hypocretin-Ersatztherapien, besseres Monitoring von Symptomen (z.B. mittels Telemedizin), «patient-reported outcomes» für Therapiestudien.
Livia G. Fregolente, dipl. Ärztin
Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern; Graduate School for Health Sciences, Universität Bern, Bern
Dr. med. Elena S. Wenz
Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern; Graduate School for Health Sciences, Universität Bern, Bern
ESW: Grant 'Protected Research time für klinisch tätige Nachwuchsforschende', Universität Bern; Board member 'Swiss Narcolepsy Network' (SNaNe). MAW: Former study doctor in the Swiss Primary Hypersomnolence and Narcolepsy Cohort Study (SPHYNCS). MHS: Swiss National Science Foundation: Hypothalamic control of REM sleep (310030E_205524/1); Interfaculty Research Cooperation (IRC) Decoding sleep: 'Feasibility and accuracy of physiological sleep data measurement by unobtrusive sensors' (41-050) and 'Narcolepsy – REM sleep sleep propensity, cataplexy and thermoregulation' (41-040); Innosuisse (30664.1): Virtual sensor for a wearable device for early detection of symptoms of possible neurodegenerative diseases. Die anderen Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Prof. Dr. med. Claudio L. A. Bassetti
Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 18
CH-3010 Bern
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