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Die neue Diagnose «Geschlechtsinkongruenz» gemäss ICD-11 beendet die stigmatisierende Psychopathologisierung von trans Menschen und vollzieht formal einen Paradigmenwechsel, der den Zugang zu medizinischen Behandlungen bedürfnisorientiert und nach evidenzbasierten Kriterien regelt.
1 Mitglied Transgender Network Switzerland
2 Mitglied Fachgruppe Trans*
3 «Geschlechtsangleichende Behandlungsmöglichkeiten bei Menschen mit Geschlechtsinkongruenz», siehe S. 862-865 in dieses Ausgabe.
Einleitung
Menschen mit Geschlechtsinkongruenz (GI) (Kasten 1) haben zunehmend den Mut, sich mit ihren Anliegen an Hausärzt:innen, Psychotherapeut:innen und andere Gesundheitsfachpersonen zu wenden. Dies steht im Kontext einer zunehmenden Entpathologisierung und wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt. Unter GI wird gemäss der 11. Revision der «International Classification of Diseases» (ICD-11) ein Gesundheitszustand verstanden, bei dem Menschen ihr eigenes «Geschlecht» (Tab. 1) anders, als es ihnen bei der Geburt anhand der Genitalien zugewiesen wurde, wahrnehmen [1]. GI führt in vielen – jedoch nicht allen – Fällen zu einer «Geschlechtsdysphorie» («Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders», 5. Auflage [DSM-5]) (Tab. 1) mit hohem Leidensdruck [2].
Tabelle 1: Glossar | |
Affirmative Haltung | Mit dieser therapeutischen Haltung werden Menschen darin unterstützt, ihr Geschlecht in allen Komponenten zu erforschen, zu bejahen, zu festigen und zu integrieren. |
Agender Person | Person, die kein Geschlecht an sich wahrnimmt, weder ein binäres noch ein nicht binäres; der Begriff «agender» kann auch als eine nicht binäre Geschlechtsidentität verstanden werden. |
Cis; auch cisgender | Adjektiv, das eine Person näher beschreibt, deren Geschlechtsidentität kongruent ist mit dem bei Geburt zugeschriebenen Geschlecht; Beispiele: cis Frau (= Person, die bei Geburt als Frau zugewiesen wurde und sich selbst als Frau identifiziert), cis Mann (= Person, die bei Geburt als Mann zugewiesen wurde und sich selbst als Mann identifiziert); Pendant zu «trans». |
Gatekeeping | Steuerungsmechanismus, der den Zugang zu einer medizinischen Leistung regelt. Früher im Trans-Kontext rigid gehandhabt (fixe, stark hierarchisierte Behandlungsreihenfolge); diese Haltung erschwerte den Zugang zur Behandlung massiv und versetzte viele trans Personen in unnötige Notlagen. |
Gender-nonkonforme Person | Person, die äusserlich nicht den gesellschaftlichen Normen von Geschlecht entspricht; der Begriff sagt aber nichts über die Geschlechtsidentität der Person aus. |
Geschlecht | Der deutsche Begriff «Geschlecht» umfasst biologische, psychologische und soziale Aspekte, um Menschen in Geschlechterkategorien einzuteilen. Im Englischen wird zwischen «gender» (psychosozialem Geschlecht) und «sex» (körperlichen Merkmalen) unterschieden. Als bio-psycho-soziales Konstrukt besitzt Geschlecht mehrere, dimensionale Komponenten, die nicht zwingend den normativen Geschlechtervorstellungen folgen müssen. |
Geschlechtsangleichung | Massnahmen, um sich äusserlich der eigenen Geschlechtsidentität anzupassen; der Begriff «Geschlechtsumwandlung» ist veraltet und irreführend, weil nicht das Geschlecht geändert wird, sondern das Äussere. |
Geschlechtsdysphorie | Psychisches Leiden basierend auf Nichtübereinstimmung zwischen körperlichen, psychischen und/oder sozialen geschlechtlich normierten Merkmalen und der Geschlechtsidentität einer Person. |
Geschlechtsidentität | Inneres Wissen eines Menschen, einem bestimmten Geschlecht anzugehören. |
Geschlechtsinkongruenz (GI) | Wenn Menschen ihr eigenes Geschlecht persistent anders wahrnehmen als das ihnen bei Geburt zugeschriebene Geschlecht. |
Nicht binär (engl. «non-binary»); auch non-binär, genderqueer | Überbegriff für verschiedene Geschlechtsidentitäten (z.B. genderfluid, demigender, multigender), die ausserhalb der Binarität von Geschlecht (ausschliesslich weiblich oder männlich) stehen. |
Safer Space | Ein Raum in dem sich Menschen mit Diskriminierungserfahrungen «sicher-er» fühlen können, da dieser darauf basiert, Diskriminierungen bewusst abzubauen und der Raum von Betroffenen für Betroffene geschaffen wurde. |
Sexuelle / romantische Orientierung | Von welchen Geschlechtern – keinem, einem oder mehreren – sich eine Person sexuell beziehungsweise romantisch angezogen fühlt; diese Anziehung hat nichts damit zu tun, was die Geschlechtsidentität der Person ist, welche diese Anziehung verspürt. |
Trans; auch transgender | Adjektiv, das eine Person beschreibt, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei Geburt zugeschriebenen Geschlecht kongruent ist; Beispiele: trans Frau (= Person, die bei Geburt als Mann zugewiesen wurde und sich selbst als Frau identifiziert), trans Mann (= Person, die bei Geburt als Frau zugewiesen wurde und sich selbst als Mann identifiziert); Pendant zu «cis». |
Transition | Prozess zur äusserlichen Angleichung einer Person an ihre Geschlechtsidentität; eine Transition kann Massnahmen im sozialen, rechtlichen und/oder medizinischen Bereich beinhalten. |
Transsexualität; auch Transsexualismus | Veraltetes Konzept, um das Erleben von trans Personen verstehen zu können. Basiert auf die irreführende Annahme, dass trans Personen eine psychische Problematik hätten, die sich teilweise schlecht von einer nicht heterosexuellen Orientierung unterscheiden liesse. |
Die Nichtübereinstimmung zwischen körperlichen, psychischen und/oder sozialen Merkmalen führt häufig zu Geschlechtsdysphorie und zwingt die betreffenden Personen soziale und/oder medizinische Transitionsschritte (Tab. 2) zu ergreifen. Die medizinische Transition beinhaltet Interventionen, die hauptsächlich auf eine Veränderung des Erscheinungsbilds, insbesondere im Bereich der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, zielen (Tab. 2) [3–5].
Tabelle 2: Überblick über die verschiedenen Transitionsmassnahmen | |
Transitionsbereich | Mögliche Massnahmen |
Sozial | Coming-out Verwendung eines neuen Namens Wechsel von gegenderten Gruppen (Sportteams) Veränderung des äusseren Erscheinungsbilds (Kleidung, Frisur, Wahl von Schmuck und Make-up) Wechsel der Anrede («Frau», «Herr», Vorname, Neo-Anreden wie «Person») Wechsel des Pronomens (auf «er», «sie», keine oder Neo-Pronomen) Wechsel von gegenderten Räumen (WCs, Garderoben) |
Juristisch | Änderung des amtlichen Geschlechtseintrages Änderung des amtlichen (Vor-)Namens |
Medizinisch | Reproduktionsmedizinische Behandlungen Endokrinologische Behandlungen Dermatologische Behandlungen Phoniatrische Behandlungen Chirurgische Behandlungen |
Mit den medizinischen Behandlungsoptionen befasst sich ein zweiter Übersichtsartikel3 in diesem Heft [6] direkt im Anschluss an diesen Beitrag. Dieser erste Artikel informiert über den sich derzeit vollziehenden Paradigmenwechsel und fokussiert auf Diagnosestellung, Behandlungsplanung, juristische und soziale Transitionsschritte (Tab. 2).
Kasten 1: ICD-11-Kriterien [1] für Geschlechtsinkongruenz im Jugend- und Erwachsenenalter (HA60)
Ausgeprägte und anhaltende Inkongruenz zwischen dem erlebten Geschlecht einer Person und dem zugewiesenen Geschlecht.
Oft Wunsch nach «Transition», um als eine Person des erlebten Geschlechts zu leben und akzeptiert zu werden, zum Beispiel Hormonbehandlung, chirurgischem Eingriff oder anderen Gesundheitsdienstleistungen, um den Körper der Person so weit wie möglich und gewünscht an das erlebte Geschlecht anzupassen.
Diagnose darf nicht vor Einsetzen der Pubertät gestellt werden.
Geschlechtsvariante Verhaltensweisen und Vorlieben allein sind keine Grundlage für die Zuweisung der Diagnose.
Da medizinische Behandlungen erst ab Eintreten der Pubertät stattfinden, verzichten wir auf die Darstellung der Kriterien zu Geschlechtsinkongruenz in der Kindheit.
Weshalb dieses Update?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkennt das in den Yogyakarta-Prinzipien verankerte Menschenrecht der geschlechtlichen Selbstbestimmung an und leitet daraus für trans Menschen (Tab. 1) den Zugang zu medizinischen Transitionsbehandlungen ab [7]. Auf dieser Basis haben internationale und nationale Fachgesellschaften im Verlauf der Zeit evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen herausgegeben [3–5]. In der ICD-10 wurden Personen mit GI noch als psychisch krank klassifiziert und ihre Geschlechtsidentität (Tab. 1) wurde als «Identitätsstörung» verstanden («Transsexualismus», F64.0). Diese Einteilung erfolgte anhand eines biologisch-deterministischen Geschlech-terverständnis, das sich nicht nur nicht empirisch belegen lässt, sondern auch zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen verleitete [8].
In den letzten Jahrzehnten ist es in der Medizin zu einem Paradigmenwechsel gekommen. Heutzutage liefern Modelle, die Geschlech-terspannungen ins Zentrum stellen, die Basis für Diagnostik und Therapie. Diese theoretischen Rahmenbedingungen sind nicht mit Erwartungen bezüglich Persönlichkeit, Auftreten, Kleidung und Vorlieben einer Person verbunden, lassen eine Unterteilung der Kategorie «Geschlecht» zu und spiegeln damit die menschliche Geschlechtervielfalt in einer adäquateren Art und Weise als früher wider [9]. Personen mit GI werden nicht länger per definitionem psychopathologisiert, sondern als Expert:innen ihres eigenen Geschlechts anerkannt [10]. Dieser Perspektivenwechsel führt zu den folgenden grundsätzlichen Veränderungen:
– Wurde bis anhin die Diagnosestellung weitgehend von Psychiater:innen und Psycholog:innen übernommen, so stehen neu die Aussagen der Behandlungssuchenden hinsichtlich der Spannungen zwischen Geschlechtskörper, -identität und -rolle im Zentrum der Diagnostik. Trans Personen sind die Expert:innen für die Wahrnehmung, Definition und Gestaltung des eigenen Geschlechts. Für die Praxis bedeutet das, dass Behandelnde nicht länger die (unlösbare) Aufgabe haben, die Geschlechtsidentität zu verifizieren, sondern der Selbsteinschätzung der Behandlungssuchenden vertrauen dürfen [5, 10].
– Ähnliches gilt für die Behandlungsplanung, die bisher im Sinne einer «Fallführung» meist in psychiatrischer/psychotherapeutischer Hand lag und meist die «maximale Angleichung» zum Ziel hatte [11]. Wie in anderen Bereichen der Medizin ist es auch für Personen mit GI richtig, dass sie aus den zur Verfügung stehenden Behandlungsoptionen die für ihre individuelle Situation passenden Interventionen auswählen und priorisieren. In manchen Situationen kann eine Koordination sinnvoll sein, in anderen wiederum nicht.
– Lange wurde die Kategorie «Geschlecht» binär gedacht. Inzwischen findet die Vorstellung eines Kontinuums – mit darunter nicht binären Geschlechtern (Tab. 1) – weitreichend Akzeptanz. Auch der Zugang zu Behandlung ist nicht länger Menschen mit binärer Geschlechtsidentität vorbehalten [3–5].
– Die inkorrekte Gleichsetzung biologischer Geschlechtsmerkmale mit Geschlecht ist im medizinischen und gesellschaftlichen Diskurs noch immer tief verankert, aber das Anerkennen der Tatsache, dass Frauen, Männer und non-binäre Personen alle möglichen körperlichen Geschlechtsmerkmale haben können, entlastet Behandlungssuchende und Behandelnde.
Prävalenzen: Eine Definitionsfrage
Offizielle Daten zur Häufigkeit von Personen mit GI in der Schweiz liegen derzeit nicht vor. Die internationale Datenlage zur Häufigkeit ist insgesamt mehrdeutig und variiert in Abhängigkeit der zugrunde liegenden Definitionskriterien. Auf Übersichtsarbeiten basierende Schätzungen ergeben, dass sich zwischen 0,3 und 0,5% der Erwachsenen und zwischen 1,2 und 2,7% der Kinder und Jugendlichen als trans identifizieren («transgender identity»). Wird breiter nach «gender diversity» gefragt, sind es zwischen 0,5 und 4,5% der Erwachsenen und zwischen 2,5 und 8,4% bei den Kindern und Jugendlichen [12]. Der Vergleich von klinisch erhobenen Zahlen und Fragebogenangaben zeigt auch, dass nicht jede Person, die sich als trans identifiziert oder eine GI hat, medizinische Behandlung sucht.
Paradigmenwechsel in Nomenklatur und Diagnostik
Der diagnostische Zugang unter ICD-10 war geprägt durch die Suche nach Beweisen, dass eine Person eine «transsexuelle Identität» besass und den «Wunsch, als Angehörige des anderen Geschlechts zu leben», hatte. Ferner war zu belegen, dass die Selbstwahrnehmung des eigenen Geschlechts weder durch eine andere psychische Störung bedingt noch sonst korrigierbar war. Seit den 1990er Jahren hat sich dieses Verständnis stark gewandelt. Psychologie, Psychiatrie und Medizin anerkennen, dass keine Geschlechtsidentität per se pathologisch ist, sondern dass diese Normvarianten innerhalb eines Spektrums darstellen. Sie müssen (und können) daher nicht durch eine psychopathologisch basierte Diagnostik verifiziert werden [10].
Mit dem Wechsel der diagnostischen Kategorie gibt es weder formal noch inhaltlich einen Grund, weshalb Menschen mit GI für die Einleitung einer körperverändernden Behandlung in erster Linie Psychiater:innen oder Psycholog:innen konsultieren sollten. Die GI-Diagnose, die als Grundlage für jede Behandlung notwendig bleibt, kann im Rahmen eines Gesprächs mit den Behandlungssuchenden (Kasten 2) in Anerkennung ihres Rechts auf geschlechtliche Selbstbestimmung auf Basis der Selbstwahrnehmung von jeder medizinischen Fachperson gestellt werden [5]. Auch die im September 2022 erschienenen «Standards of Care Version 8» (SOC8) unterstreichen dies [13].
Formal benötigt es für medizinische Behandlung die Diagnose und Indikationsstellung durch eine ärztliche Person aus dem behandelnden Fachbereich (Endokrinologie, Gynäkologie, Chirurgie, Phoniatrie, Psychiatrie etc.). Bisher wurden Diagnosen häufig durch psychologische Psychotherapeut:innen gestellt. Die Überweisung an die somatische Fachperson erfolgt bisher häufig durch Psycholog:innen, Psychiater:innen, gelegentlich auch durch Allgemeinmediziner:innen.
Bei der GI-Diagnostik müssen besondere Umstände berücksichtigt werden. Bereits die Tatsache, dass Geschlechtskörper, -identität und -rolle nicht immer übereinstimmen, kann – insbesondere bei Mediziner:innen, die diesbezüglich nicht korrekt geschult wurden – zu Irritationen führen. Zudem wird die Erwartungshaltung oft durch Vorurteile und Mythen über die Geschlechter und insbesondere über trans Personen beeinflusst. Nicht selten wird erwartet, dass Behandlungssuchende sich bereits seit der frühen Kindheit ihrer GI bewusst sind oder dass Menschen mit GI immer respektive ausschliesslich unter ihrem Körper leiden. Aufgrund dessen wird Fällen, die diesen normativen Erzählungen widersprechen, mit Skepsis bezüglich ihrer Geschlechtsidentität begegnet. Häufig wird auch versucht, durch den Abgleich einer Person mit normativen Geschlechtsrollenzuschreibungen Sicherheit über diese Situation zu gewinnen. Dies führt jedoch zwangsläufig erneut zu Verunsicherungen, da kaum eine Person alle stereotypen Eigenschaften und Vorlieben ihres Geschlechts in sich vereint. Die Diversität, wie Geschlecht gelebt wird, ist sehr gross.
Für Behandelnde ist es daher notwendig, die erlernten Geschlechternormen zu reflektieren. Hierzu bedarf es lediglich einfacher Kenntnisse über die verschiedenen Geschlechterkomponenten und das Wissen, dass diese von der Geschlechtsidentität unabhängig gedacht werden können [9]. Massgeblich für das Geschlecht sind weder biologische, psychologische noch soziale Marker. Diese können bei allen Menschen den traditionellen Erwartungen mehr oder weniger entsprechen. Im Sinne einer «affirmativen Haltung» (Tab. 1) sollten Behandelnde Behandlungssuchende darin unterstützen, ihr eigenes Geschlecht zu erforschen und die Inkongruenzen zwischen den verschiedenen Geschlechterkomponenten genau zu benennen. Deren diesbezüglichen Aussagen zu respektieren stärkt das Selbstvertrauen von Personen mit GI und ermöglicht differenzierte Transitionsentscheidungen.
Dass sich eine urteilsfähige Person in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität irrt, kommt – entgegen den oft formulierten Sorgen zu diesem Thema – sehr selten vor. Weist eine Person Symptome psychotischen Erlebens auf, muss der Fokus zunächst auf der Wiedererlangung der Urteilsfähigkeit liegen. Nach dieser Stabilisierung sollte jedoch das Gespräch hinsichtlich GI mit der betreffenden Person gesucht werden.
Kasten 2: Themen eines Anamnesegesprächs
Auseinandersetzung mit Geschlecht: In welchen Situationen wird das Thema besonders deutlich oder bewusst? Seit wann? Wie identifiziert sich die Person und seit wann?
Belastung und Auftreten von Geschlech-terspannungen: Was stört besonders? In welchen Situationen?
Bisherige Transitionsschritte: Wurden sozial, medizinisch oder juristisch bereits Schritte unternommen?
Rolle des Umfelds: nahestehende Personen, Arbeit, Schule etc.?
Bedürfnis nach Behandlung: Welche Massnahmen möchte die Person ergreifen, mit welcher Motivation? Ist sie sich sicher oder möchte sie eine vertiefte Auseinandersetzung (zum Beispiel Psychotherapie, Austausch mit Peers, Gespräche mit Behandelnden)?
Urteilsfähigkeit in Bezug auf Behandlung: Kennt die Person die Behandlungsoptionen? Wo hat sie sich bereits informiert? Benötigt sie mehr Informationen (Trans-Beratung, Peers)? Sind ihr Konsequenzen der Behandlung bewusst und weiss sie Lösungsmöglichkeiten für antizipierte Probleme?
Ein individualisiertes Vorgehen ist notwendig. Urteilsfähige, gut informierte Menschen mit konkreten Behandlungsbedürfnissen können direkt an die entsprechende Fachrichtung weitergewiesen werden. Menschen, die unsicher sind, ob sie von einer Behandlung profitieren könnten, benötigen den Hinweis auf Trans-Beratungsstellen, Community-Angebote oder spezialisierte Psychotherapeut:innen.
Rolle der Psychiatrie und Psychotherapie?
Für Diagnosestellung und Behandlungsplanung sind Psychiater:innen und Psycholog:innen im Thema GI in den meisten Fällen nicht mehr notwendig. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass diese Fachrichtungen bei den folgenden Situationen involviert bleiben:
– Wunsch nach Unterstützung bei Klärung offener Identitäts- oder Transitionsfragen.
– Wunsch nach Unterstützung während der Transition.
– Begleitende psychische Störungen: Trans Personen können, wie alle Menschen, psychische Erkrankungen entwickeln. Sie gehören zudem einer sozialen Minderheit an, die in unserer Gesellschaft spezifischen Ausschlussmechanismen ausgesetzt ist. Diese Situation führt zur Entwicklung eines sogenannten «Minderheitenstress» [14], der zur Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit führen kann [15]. Gerade das Fehlen einer Behandlung der GI führt häufig zur Exazerbation bereits vorliegender psychopathologischer Probleme. Umgekehrt führt eine medizinische Transition in der Regel zu einer schnellen Verbesserung der mentalen Gesundheit [16, 17]. Schliesslich gibt es aber auch Situationen, in denen die Begleitstörung die Transitionsbehandlung massiv beeinträchtigt, sodass diese Störung parallel dazu behandelt werden muss.
– Unterstützung von Angehörigen bei Schwierigkeiten, die gesamte Situation und den Transitionsprozess zu verstehen und zu verarbeiten, zum Beispiel um einen Beziehungsabbruch zu vermeiden.
In Fällen, wo eine psychiatrische respektive psychotherapeutische Begleitung seitens der Behandlungssuchenden erwünscht wird, sollte diese möglichst wohnortnah erfolgen. Geeignete Fachpersonen können beispielsweise bei den Trans-Beratungsstellen in den Checkpoints Zürich, Bern, Basel oder Lausanne, über die Fachgruppe Trans* oder bei Transgender Network Switzerland erfragt werden.
Behandlung: Individuell und bedürfnisorientiert
Bis vor wenigen Jahren wurden nur jene Menschen als «transsexuell» diagnostiziert, die bereit waren, ihr gesamtes Leben und ihren Körper so weit wie möglich ihrer Geschlechtsidentität anzupassen. In dieser Logik, die Symptome und Therapie vermischte und verwechselte, wurden das Leben entsprechend der eigenen Geschlechtsidentität und die Durchführung der gewünschten medizinischen Behandlungen nur als «letzte Möglichkeit» gesehen, wenn andere, meist jahrelange, psychotherapeutische Behandlungen erfolglos blieben. Das therapeutische Ziel war die vollständige Anpassung an eine normativ gedachte cis Geschlechtlichkeit (Tab. 1).
Des Weiteren war eine rigide Reihenfolge für medizinische Behandlungen vorgeschrieben: Für den Zugang zu medizinischen Transitionsmassnahmen (Tab. 2) wurden soziale Transitionsschritte vorausgesetzt. Diese «Gatekeeping-Logik» (Tab. 1) erschwerte den Zugang zur Behandlung massiv und versetzte viele Personen mit GI in unnötige Notlagen. Daher enthalten aktuelle, evidenzbasierte Leitlinien keine solchen Vorschriften – nicht nur, aber auch aus medizin-ethischen Gründen [10]. Es ist und bleibt das Recht der betreffenden Person, darüber entscheiden zu können, welche Behandlungen in welcher Reihenfolge durchgeführt werden sollen.
Trans Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Wie stark Personen unter geschlechtlich konnotierten körperlichen Merkmalen leiden und welche medizinischen Behandlungen sie benötigen, ist individuell verschieden und lässt sich nicht allgemeingültig aus einer Diagnose ableiten. Heute erkennt die Medizin die Vielfalt von Transitionsentscheidungen an. Wie bei der Diagnostik steht die Sicht der Behandlungssuchenden bei der Planung der durchzuführenden Schritte im Zentrum. Im Rahmen eines «shared decision making»-Modells legen sie zusammen mit ihren Behandelnden die Prioritäten und Reihenfolge der medizinischen Transitionsschritte fest [18, 19]. Die Frage, ob eine Person mit ihren gewählten Massnahmen normativen Geschlechtervorstellungen entspricht oder nicht, ist medizinisch irrelevant.
Zusammenspiel sozialer, juristischer und medizinischer Transitionsschritte
Bei der Entscheidung für Behandlungen können sowohl körperliche, psychische als auch soziale Gründe eine Rolle spielen. Ein wichtiges und häufiges Motiv, Behandlung zu suchen, ist der Wunsch, von anderen Menschen entsprechend der eigenen Geschlechtsidentität als Frau, Mann oder non-binäre Person wahrgenommen zu werden. Aus medizinischer Sicht gibt es kaum Zwänge in Bezug auf Reihenfolge oder Kombinationen von Behandlungen.
Das Ziel der gewählten sozialen Massnahmen (Tab. 2) ist die Reduktion der GI. Für alle sozialen Massnahmen gilt, dass sie in ausgewählten Settings gelebt werden können: etwa gegenüber Einzelpersonen (zum Beispiel Behandler:in, Partner:in, engen Freund:innen), in einzelnen Lebensbereichen (Familie, Arbeit, Privatleben) oder auch nur zeitweise oder an bestimmten Orten (Ferien, «safer spaces» (Tab. 1)). Gerade zu Beginn werden diese immer wieder von der Person selbst evaluiert und an die verschiedenen Situationen angepasst. Hierbei kann es durchaus vorkommen, dass auch ursprünglich getroffene Entscheidungen hinsichtlich des Transitionsplans nachjustiert oder neu getroffen werden müssen.
Dank des am 1.1.2022 in Kraft getretenen neuen Artikels 30b des Schweizerischen Zivilgesetzbuches ist es zu einer vollständigen Entmedikalisierung der juristischen Transition gekommen [17]. Neu dürfen hierzu explizit weder psychiatrische noch medizinische Stellungnahmen oder Gutachten über die Geschlechtsidentität verlangt werden. Über 16-jährige Personen, die ihr amtliches Geschlecht und allenfalls ihren Vornamen ändern wollen, können dies durch die Abgabe einer Erklärung und gegen eine geringe Gebühr bei jedem Schweizer Zivilstandsamt tun. Jüngere sowie Menschen unter umfassender Beistandschaft brauchen zusätzlich zu ihrer eigenen Erklärung die Zustimmung der gesetzlichen Vertretung. In der Schweiz gibt es aber – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern wie beispielsweise Deutschland und Österreich – bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keinerlei Geschlechtseinträge jenseits der Binarität.
Medizinische Interventionen dienen insbesondere zur Reduktion von körperlich betonter Geschlechtsdysphorie. So zeigen Studien auf, dass eine Hormonbehandlung zur Reduktion psychopathologischer Symptome und zur Verbesserung der Lebensqualität beiträgt [20]. Ebenso zeigen die meisten trans Personen nach einer endokrinologischen und chirurgischen Behandlung eine gute Lebensqualität. Das gilt sowohl weltweit [21] als auch für die Schweiz [22]. Folglich stellen medizinische Interventionen für viele Behandlungssuchende einen zentralen Transitionsschritt dar. Der nächste Übersichtsartikel in diesem Heft beschäftigt sich ausführlich mit diesem Thema [6].
Ausblick
Der Umgang mit Geschlechtervielfalt und Behandlungssuchenden mit GI stellt medizinische Fachpersonen immer wieder vor die Herausforderung, sich mit allgegenwärtigen, normativen Vorstellungen von Geschlecht auseinanderzusetzen (Tab. 3). Werden die Geschlechtsidentität und die individuellen Bedürfnisse der Behandlungssuchenden in den Vordergrund gestellt, lässt sich nicht nur diesen Herausforderungen gut begegnen, sondern es lassen sich auch differenzierte, effiziente und wirkungsvolle Transitionsentscheidungen treffen.
Tabelle 3: Hinweise für den Umgang mit Behandlungssuchenden | |
Thema | Umgang |
Respekt | Mit der korrekten Anrede signalisieren Sie Akzeptanz und schaffen einen vertrauensvollen Rahmen. Fragen Sie nach, wenn Sie nicht sicher sind, wie eine Person angesprochen werden möchte. |
Scham | Geschlechtsinkongruenz ist ein stigmatisiertes Thema. Ein Coming-out ist daher als ein Vertrauensbeweis gegenüber der Fachperson zu verstehen. Zeigen Sie in diesem Zusammenhang ihre affirmative Haltung explizit. |
Unsicherheit/Zweifel | Zweifel in Bezug auf die eigene Identität und Unsicherheit bezüglich Transitionsentscheidungen seitens der Behandlungssuchenden sind ein erwartbarer Teil der Auseinandersetzung. Ermuntern Sie zur Erkundung dieser Gefühle. Vernetzen Sie Behandlungssuchende mit Peer-Berater:innen. |
Identitätsänderung | Therapien, die auf die Änderung der Geschlechtsidentität (Konversionstherapien) abzielen, widersprechen ethisch-medizinischen Standards. Klären Sie Behandlungssuchende darüber auf. |
Verantwortung | Menschen wissen, welches Geschlecht sie haben und was sie benötigen, um geschlechtlich selbstbestimmt leben zu können, und können daher die Verantwortung über die zu treffenden Transitionsschritte selbst tragen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Personen bei diesem Prozess zu begleiten und fachliche Fragen zu beantworten. |
HAZ – Queer Zürich, Zürich;
vormals Fachstelle für trans Menschen, Zürich
Das Wichtigste für die Praxis
Die Medizin hat im Umgang mit trans Personen und Geschlechtervielfalt einen wesentlichen Paradigmenwechsel vollzogen. Ein affirmativer Umgang mit Geschlechtsinkongruenz (GI) ist medizin-ethisch korrekt und evidenzbasiert.
Die Aussagen der Behandlungssuchenden bezüglich ihres Geschlechts stehen im Zentrum. Die Diagnostik der GI kann durch die Primärversorger:innen erfolgen.
Die Rolle der Psychiatrie und Psychotherapie besteht darin, allfällige psychische Begleitstörungen zu behandeln. Die Transitionskoordination kann auch durch andere Fächer oder Peers erfolgen.
Die Festlegung des Transitionplans sollte gemäss den Prinzipien des «shared secision making» getroffen werden, wobei die Aussagen der Personen mit GI die Basis für die Entscheidungsfindung bilden.
Therapien, die auf die Änderung der Geschlechtsidentität abzielen (Konversionstherapien), sind unethisch.
Die Autor:innen haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
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Dr. med. David Garcia Nuñez
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