Geschlechtsangleichende Behandlungsmöglichkeiten bei Menschen mit Geschlechtsinkongruenz
Die wichtigsten medizinischen Transitionsmassnahmen

Geschlechtsangleichende Behandlungsmöglichkeiten bei Menschen mit Geschlechtsinkongruenz

Übersichtsartikel
Ausgabe
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09301
Swiss Med Forum. 2023;23(04):862-865

Affiliations
a Innovations-Focus Geschlechtervarianz, Universitätsspital Basel, Basel; b Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie, Universitätsspital Basel, Basel; c HAZ – Queer Zürich, Zürich; d vormals Fachstelle für trans Menschen, Zürich, Zürich; e Praxis Flütsch, Zug; f Klinik für Endokrinologie, Universitätsspital Basel, Basel; g Klinik für Dermatologie, Universitätsspital Basel, Basel; h Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Universitätsspital Basel, Basel

Publiziert am 25.01.2023

Die Anzahl Personen, die sich in der Medizin vorstellen, um eine Transition zu beginnen, wächst stetig. In diesem Artikel werden die wichtigsten medizinischen Transitionsmassnahmen beschrieben.

Einleitung

In der Schweiz existieren keine Daten zur Menge der medizinischen geschlechtsangleichenden Prozesse bei Personen mit einer Geschlechtsinkongruenz (GI) [1]. Allerdings gehen die Autor:innen davon aus, dass es sich hierbei jährlich um 500–600 Fälle handeln dürfte. Die Frage nach den Gründen des Anstieges dieser Behandlungen ist nicht gänzlich beantwortet. Einiges spricht allerdings dafür, dass die gesellschaftliche Öffnung bezüglich und die Entpsychiatrisierung des Phänomens der GI zu einem Abbau von Behandlungshürden geführt hat. Unter diesen verbesserten Bedingungen wagen Behandlungssuchende, früher und präziser über ihre Situation bezüglich des eigenen Geschlechts zu sprechen.
Diese positive Entwicklung steht einem strukturell bedingten Unwissen seitens der Behandelnden gegenüber. Trotz der Wichtigkeit von «Geschlecht» als medizinische Grösse wird diese während des Studiums respektive in fachspezifischen Weiterbildungsgängen kaum thematisiert. Das ist insofern problematisch, da es in vielen Fällen dazu führt, dass Personen mit GI respektive Geschlechtsdysphorie (GD) nicht kompetent behandelt werden können. Ebenso verlieren Behandlungssuchende damit wichtige wohnortsnahe Ansprechpartner:innen.
Selbstverständlich ist davon auszugehen, dass nicht alle Behandlungssuchenden alle Massnahmen beanspruchen werden. Umgekehrt gibt es Fälle, wo die Therapieresultate hinter den Erwartungen bleiben, weshalb sich der ursprüngliche Behandlungsplan zu jedem Zeitpunkt ändern kann beziehungsweise sogar muss. Diese ansonsten selbstverständliche Flexibilisierung und Individualisierung der Behandlungen stellt einen der wichtigsten Fortschritte in den letzten Jahren in der Therapie von Menschen mit GI dar. Neu stehen die Behandlungssuchenden (wieder) im Zentrum: Sie können am besten darüber urteilen, ob die bis zu diesem Punkt durchgeführten Interventionen die beschriebenen Geschlechtsspannungen reduziert haben – oder eben nicht.
Zu diesem Zweck empfiehlt es sich, dass die Behandlungssuchenden zumindest zu Beginn von einer Person mit genügender Expertise begleitet werden. Diese kann, muss aber nicht einen ärztlichen Fachtitel besitzen. Zwischenzeitlich gibt es innovative Ansätze (Peer-Beratung, «Advanced Practice Nurse»), die diese Aufgabe samt der Kommunikation zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen übernehmen können.
Die in der Folge aufgezählten Interventionen besitzen allesamt eine langjährig erprobte klinische Wirksamkeit. Bei den meisten wird diese zusätzlich durch evidenzbasierte Daten untermauert, weshalb sie auch in internationalen Guidelines zu finden sind [2, 3]. Sie erfüllen damit sämtliche Kriterien, damit ihre Kosten durch die obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen werden [4]. Schliesslich gilt es zu betonen, dass die Liste keinen abschliessenden Charakter besitzt und auch keine Reihenfolge der zu unternehmenden Massnahmen vorgibt. Einzig die Behandlungssuchenden und ihre Behandelnden können in einem «shared decision making»-Prozess [5, 6] entscheiden, wie der individuelle medizinische Transitionsweg auszusehen hat.
Menschen mit Geschlechtsinkongruenz werden künftig viel mehr die Regel als die Ausnahme in der primärversorgenden Praxis sein.
© Siriporn Kaenseeya / Dreamstime

Psychosoziale Interventionen

Peer-Beratung

In der Schweiz haben sich Peer-Beratungsangebote unter anderem des Transgender Network Switzerland (www.tgns.ch) und der Checkpoints in verschiedenen Grossstädten etabliert. Die Möglichkeit, Beratung und eine erste Orientierung durch Fachpersonen mit eigenen Transitionserfahrungen zu erhalten, vermindert die Hürden, Behandlung zu suchen, und wirkt sich positiv auf das Selbstbild von Menschen mit GI aus. Gleichzeitig helfen diese Angebote, Personen mit GI untereinander zu vernetzen und in Selbsthilfe-Angebote zu triagieren, was nachweislich die Selbstakzeptanz erhöht und internalisierte Transnegativität vermindert [7].

APN-Begleitung

Aufgrund der bisherigen Einteilung der GI lag die Koordination der verschiedenen medizinischen Massnahmen hauptsächlich in psychiatrischer Hand. Angesichts des stattgefundenen Paradigmenwechsels tendieren grössere (universitäre) Behandlungszentren dazu, diese Aufgabe einer «Advanced Practice Nurse» (APN) zu übergeben. Damit wird die Eintrittsschwelle zum Behandlungsteam gesenkt. Ebenso wird es ermöglicht, dass Behandlungssuchende während und nach der medizinischen Transition über eine Ansprechperson verfügen [8].

Psychiatrische und psychotherapeutische Beratung und Behandlung

Für Diagnosestellung und Behandlungsplanung sind Psychiater:innen und Psycholog:innen beim Thema GI in den meisten Fällen nicht mehr notwendig [9]. Trotzdem kann eine psychiatrische respektive psychotherapeutische Beratung und Behandlung sinnvoll sein, wenn eine Person Begleitung in der Transition sucht, psychische Begleitstörungen vorliegen oder Angehörige Unterstützung benötigen [10].

Reproduktionsmedizin

Vor Beginn der Hormontherapie oder der Durchführung einer Operation, welche die primären Genitalorgane betrifft, werden die fertilitätserhaltenden Möglichkeiten besprochen und allfällige reproduktionssichernde Schritte (zum Beispiel Spermienkryokonservierung, Eizellvitrifikation) eingeleitet [11]. Aufgrund der komplexen medizinischen und juristischen Fragestellungen, die sich in diesem Gebiet ergeben können, empfiehlt es sich, dass diese Beratung durch spezialisierte reproduktionsmedizinische Zentren (wie beispielsweise am Innovations-Focus Geschlechtervarianz am Universitätsspital Basel) erfolgt.

Endokrinologie

Maskulinisierende Behandlung

Die Wirksamkeit der maskulinisierenden Behandlung mit Androgenen ist klinisch bei Menschen mit GI/GD gut dokumentiert und führt zu einer deutlichen Virilisierung des Körpers (wie etwa Zunahme der Muskelmasse oder der Gesichtsbehaarung). Transmaskuline Personen werden unter Testosterontherapie von Aussenstehenden nach sechs Monaten bis zwei Jahren als «männlich» wahrgenommen [12–16]. Durch die Verdickung der Stimmbänder wird ein Stimmbruch ähnlich wie bei der cis männlichen Bevölkerung erzeugt. Damit kommt es zu einem Absinken der Stimme um circa 8–10 Halbtöne. Dieser Effekt ist irreversibel und persistiert auch nach allfälligem Absetzen einer Androgenbehandlung. Durch eine suffiziente Testosterongabe wird in den meisten Fällen die Ovulation supprimiert, sodass es in der Regel nach wenigen Wochen zu einem Aussetzen des Menstruationszyklus kommt.
Heute wird vorzugsweise die parenterale Applikationsform gewählt, da die orale Gabe zu stark schwankenden Hormonspiegeln führt und die Leber durch den First-Pass-Effect unnötig belastet wird. Die häufigsten Nebenwirkungen sind neben initial auftretenden Aknesymptomen Glatzenbildung und gelegentlich Gewichtszunahme. Über eine Zunahme der Libido und des sexuellen Interesses wird häufig berichtet. Mit Beginn der Behandlung sollten regelmässige Laborkontrolle vereinbart werden. Das therapeutische Ziel strebt einen Testosteronwert an, der demjenigen der cis maskulinen Bevölkerung entspricht.

Feminisierende Behandlung

Die feminisierende Behandlung beinhaltet sowohl die Substitution von Östrogen als auch die Suppression der Androgene. Denn durch eine Östrogentherapie allein lässt sich die gonadale Testosteronproduktion nicht suffizient unterdrücken. Ziel ist es, Sexualhormonwerte, wie sie sich bei cis Frauen beobachten lassen, zu erreichen. Die Androgenblockade erfolgt durch die Einnahme von Cyproteronacetat und gelegentlich auch noch spezifische 5α-Reduktase-Hemmer, welche die Umwandlung von Testosteron in das potentere Dihydrotestosteron unterdrücken.
Unter einer suffizienten feminisierenden Hormontherapie kommt es zu einer Fettumverteilung und Muskelmassenabnahme. Das Brustwachstum setzt ein, erreicht jedoch in vielen Fällen kein genügendes Ausmass, um die GI/GD-Symptome zu stoppen. Durch die Testosteronblockade nehmen die Libido und die Erektionen ab und Ejakulationen verschwinden. Besteht bereits ein Stimmbruch, so hat die feminisierende Hormontherapie keinen Einfluss mehr auf die Stimmhöhe. Wird vor dem Stimmbruch eine Androgensupprimierung durchgeführt, behält die Stimme jedoch ihre bisherige Höhe.
Das oft beschriebene erhöhte Risiko für ein thromboembolisches Ereignis bei feminisierenden Behandlungen scheint klar mit der Einnahme der nicht mehr empfohlenen synthetischen Östrogenpräparate zusammenzuhängen [17]. Folglich zeigt sich ein Rückgang dieser Problematik, seit transdermale Präparate zur Anwendung kommen [18, 19]. Aus heutiger Sicht empfiehlt es sich, bei Vorliegen einer Risikokonstellation vor dem Hormonstart zusätzlich eine Thrombophilieabklärung durchzuführen. Ebenso sollten nach Installation der Hormonbehandlungen regelmässige Laborkontrollen erfolgen.

Dermatologie

Maskulinisierende Behandlungen

Da der Androgenlevel mit der Talgproduktion und dem Haarwachstum assoziiert ist, kann es bei Testosteronsubstitution zu vermehrtem Auftreten von Akne vulgaris und androgenetischer Alopezie kommen [20]. Eine Aknebehandlung erfolgt nach allgemeinen Leitlinien als Stufentherapie [21].
Im Rahmen der geschlechtsanpassenden Operationen können stigmatisierende Narben entstehen. Mittels fraktionierter (nicht)ablativer oder Gefässlaserbehandlungen können diese flacher und blasser gemacht werden [22, 23].

Feminisierende Behandlungen

Besonders die offensichtliche Gesichts- und Décolletébehaarung ist für trans Frauen belastend. Die «intense pulsed light»-(IPL-) oder Laser-Behandlungen sind etablierte Methoden zur dauerhaften Entfernung der unerwünschten Behaarung mit einer Erfolgsrate von 90% und mehr [24, 25]. Zur bleibenden Entfernung von weissen, grauen oder roten Haaren ist der Einsatz von Nadelepilation möglich.
Die androgenetische Alopezie stellt bei trans Frauen (und manchen trans Männern) eine Herausforderung dar. Gemäss aktueller Literatur ist die Behandlung erster Wahl eine topische Therapie mit Minoxidil 5% [26]. Eine systemische Therapie mit Spironolacton oder Finasterid kommt auch infrage [27], jedoch wird letztere teilweise kontrovers diskutiert, da sie bei trans Männern unter anderem einen Einfluss auf die Entstehung gewünschter sekundärer Geschlechtsmerkmale haben könnte [28].

Chirurgie

Maskulinisierende Eingriffe

Mastektomie

Die Brustentfernung ist oft der erste chirurgische Schritt bei transmaskulinen Personen, da eine als weiblich gelesene Brust eine ausgeprägte GI/GD auslösen kann. Bis zur Operation tragen diese Personen oftmals einen sogenannten «Binder», um die Brust möglichst zu kaschieren. Je nach Brustgrösse sind verschiedene Techniken zur Mastektomie indiziert [29]. Ist die Brust gross, wird in der Regel die sogenannte «free nipple»-Mastektomie durchgeführt, bei kleiner oder mittlerer Brust kommt die subkutane Mastektomie mit oder ohne periareoläre Hautstraffung zum Einsatz [29]. Die Mastektomie ist die einzige Operation, die gemäss internationalen Guidelines bereits vor Eintreten des 18. Lebensjahrs indiziert sein kann [30]. Studien zeigen, dass diese Intervention äusserst erfolgreich ist. Bei kaum auftretenden postoperativen Problemen berichten die operierten Personen über eine erheblich verbesserte Lebensqualität [31].

Hysterektomie/Adnexektomie

Die Gebärmutter- und Eierstockentfernung kommt meist, aber nicht nur, bei jenen transmaskulinen Personen, die trotz suffizienter Testosteronbehandlung unter vaginalen Blutungen leiden, zum Einsatz. Diese Eingriffe zeigen im Vergleich zu denjenigen an cis Frauen keine Zusatzrisiken [32]. Je nach individueller Situation können diese Operationen mit der Mastektomie kombiniert werden. Nach einer Adnexektomie ist eine lebenslange Androgensubstitution indiziert [15].

Phalloplastik

Die Bildung eines Penis ist für viele transmaskuline Personen mit einer genital bezogenen GI/GD ein grosses Bedürfnis. Manche Behandlungssuchenden äussern diesen Wunsch sehr früh. Andere wiederum erst, nachdem sie festgestellt haben, dass andere Hilfsmittel (wie zum Beispiel die Penis-Hoden-Epithesen) nicht zur permanenten Reduktion der GI/GD beitragen konnten. Die Eingriffe sind komplex, da sie unter anderem mikrochirurgischer Gewebetransfers bedürfen und teilweise in mehreren Schritten stattfinden müssen. In der Regel wird bei dieser genitalen Angleichung auch die Vagina entfernt (Kolpektomie). Am häufigsten wird eine Phalloplastik mit Gewebe vom Unterarm durchgeführt, die sogenannte «tube-in-tube»-Radialis-Phalloplastik» [33]. Bei einer alternativen Methode (sogenannte «anterolateral thigh flap»-[ALT-]Phalloplastik) wird das Gewebe für den Phallus vom Oberschenkel entnommen werden [34]. Eine sorgfältige individuelle Beratung, auch in Abhängigkeit von den körperlichen Gegebenheiten der betreffenden Person, sind bei dieser letztgenannten Technik besonders wichtig. Bei beiden Techniken ist im Vorfeld eine Laserepilation der Entnahmestellen angezeigt, um Haarwuchs, insbesondere in der Harnröhre, zu verhindern. Komplikationen wie Fisteln und Harnröhrenstenosen können bei beiden Operationsarten auftreten und gelegentlich mehrere operative Revisionen nötig machen. Die Inzidenz von Fisteln und Stenosen werden in der Literatur weltweit mit 48% angegeben [35]. Dementsprechend sollte die präoperative Beratung auch diese Risiken umfassend thematisieren. Als letzte Schritte der Genitalangleichung sind die Coronaplastik sowie der Einsatz von Erektionsprothesen und Hodenimplantate zu nennen [36]. Studien zeigen, dass transmaskuline Personen sehr zufrieden mit dem Operationsergebnis sind [37].

Metaidoioplastik

Die Metaidoioplastik, auch bekannt als «Klitpen» oder «Minipenis», bietet eine Alternative zur Phalloplastik. Dabei wird eine limitierte Verlängerung von lokalem Gewebe im Genitalbereich durchgeführt, sodass die durch den Testosteroneinsatz vergrösserte Klitoris besser zur Geltung kommt. Dieser Eingriff ermöglicht, dass transmaskuline Personen im Stehen urinieren können. Eine Penetration während des Geschlechtsverkehrs ist im tradierten Sinne allerdings nicht möglich. Auch bei der Metaidoioplastik sind Fisteln und Stenosen mögliche Komplikationen. Studien zeigen, dass Menschen, die sich zu diesem Eingriff entscheiden, postoperativ zufrieden sind [38].

Feminisierende Eingriffe

Brustaufbau

Trotz einer feminisierenden Hormontherapie entwickelt sich nur bei wenigen Patient:innen eine derartige Brustgrösse und -form, dass die GI/GD-Symptome komplett behoben werden. Daher wird diese Operation von vielen transfemininen Personen in Anspruch genommen. Am häufigsten wird die Brust mit Silikonimplantaten aufgebaut. Alternativ kann bei optimalen körperlichen Voraussetzungen eine Brustbildung mit Eigenfett durchgeführt werden. Hierfür sind meistens 2–3 Sitzungen nötig. Der Vorteil dieses Eingriffs ist das Vermeiden von Fremdmaterial. In praktisch allen Fällen führen sie zu einer Verbesserung der Lebensqualität der betreffenden Personen [39].

Vaginoplastik

Die genitale Angleichung beinhaltet die Entfernung der Hoden und Schwellkörper, die Bildung einer sensiblen Klitoris mit einem neurovaskulären Bündel aus der Glans, die Bildung eines neuen Harnausganges, innerer und äusserer Schamlippen und einer Vagina. In der Schweiz werden an allen Behandlungszentren Modifikationen der klassischen penilen Inversionstechnik verwendet wie zum Beispiel die sogenannte Preecha-Methode [40] oder die kombinierte penile Inversionsmethode mit teilweiser Auskleidung der Vagina durch Urethralschleimhaut [41]. Alternativ kann die Vagina aus einem Dickdarmsegment (Sigmavaginoplastik) gebildet werden [41]. Es kann auch lediglich eine Vulva ohne Vagina oder als Minimalvariante eine isolierte Orchiektomie erfolgen, falls sich Patient:innen aus verschiedenen Gründen nicht einer kompletten Genitalangleichung unterziehen möchten. Präoperativ sollte je nach körperlicher Situation und gewählter Technik eine dauerhafte Laser- oder Nadelepilation evaluiert werden. Nach einer Vaginoplastik ist eine Vaginaldilatation nötig, bis sich die Dimension der Neovagina stabilisiert hat. Vaginalverengungen, Harnstrahlprobleme oder schmerzhafte Narben können Revisionseingriffe nötig machen. Seit Jahrzehnten zeigen Studien, dass diese Eingriffe die Lebensqualität der betroffenen Frauen verbessern können [42].

Gesichtsfeminisierung

Das Gesicht stellt in unserem Alltag das soziale Geschlechtsorgan par excellence dar. Zwar sind einzelne Gesichtsmerkmale einer sehr grossen Variationsbandbreite unterworfen, trotzdem werden Menschen anhand «geschlechts-typischer» Gesichtszüge durch das Umfeld innert Millisekunden in eine der binären Geschlechterkategorien eingeteilt. Gesichtszüge, die bei transfemininen Personen zu einem Misgendering führen können, sind unter anderem ein ausgeprägter Augenbrauenwulst, eine grosse Nase mit kleinem Nasolabialwinkel, ein breites Kinn und spitze Kieferwinkel oder ein ausgeprägter Adamsapfel. Diese Strukturen werden nicht durch eine feminisierende Hormonbehandlung verändert und müssen daher operativ verändert werden [43]. Zusätzliche Interventionen wie Brauenlift, Wangenaugmentation mit Eigenfett oder Implantaten und Lippenvolumisierung können die richtige Geschlechterklassifizierung des Gesichts unterstützen. Hierbei gilt es zu betonen, dass es sich auch bei diesen Interventionen nicht um kosmetische, sondern um geschlechtsangleichende Eingriffe handelt. Daher sind an der Stelle die präoperative Aufklärung und die richtige Festlegung des Operationsziels imminent wichtig. Erste Untersuchungen zeigen die Wirksamkeit dieser Schritte [44].

Stimmangleichende Operationen

Die notwendige Stimmanpassung, der es bedarf, damit transfeminine Personen ihre GI/GD reduzieren können, ist anspruchsvoll. Anatomische Gegebenheiten beeinflussen die Stimmhöhe, weshalb eine hormonelle feminisierende Therapie keine Wirkung zeigt. Als erste Massnahme kann eine logopädische Unterstützung zur geschlechtsanpassenden Veränderung der verschiedenen Stimmparameter führen. In vielen Fällen gelingt dies so, dass die Person über keine GI/GD-Symptome mehr berichtet. Allerdings können anatomische Gegebenheiten (lange Stimmlippen, grosser Resonanzraum) oder fehlende auditiv-perzeptive Wahrnehmung dies auch verunmöglichen. Die permanente Stimmanhebung ist mit einem Kraftakt der Halsmuskulatur verbunden und führt zu Erschöpfung. Die Stimmspezialist:innen können dann die Betroffenen im Hinblick auf eine stimmerhöhende Operation beraten. Die Stimmlippen können verkürzt (Glottoplastik) [45] oder gedehnt werden (Cricothyropexie) [46]. Bei der «feminization laryngoplasty» werden beide Techniken kombiniert [47]. Es ist mit einer Stimmerhöhung von etwa 8–12 Halbtönen zu rechnen. Nebenwirkungen sind selten (unter anderem Heiserkeit) [45]. Der Erfolg dieser Eingriffe wird durch verschiedene Studien belegt [45, 46].

Nachbetreuung

Medizinische Transitionen stellen für Menschen mit einer GI eine herausfordernde, aber praktisch immer positive Situation dar. Folglich zeigen Studien, dass sowohl eine hormonelle [48, 49] als auch chirurgische [50, 51] Behandlungen zur Reduktion von psychopathologischen Begleitsymptomen und zur Verbesserung der Lebensqualität der Personen mit GI führen können. Die Reduktion der GI-induzierten Spannungen gelingt dann am besten, wenn sich die Massnahmen an die Bedürfnisse der Behandlungssuchenden anpassen – und nicht wie in der Vergangenheit umgekehrt. Einige Interventionen (zum Beispiel Hormonbehandlung) müssen lebenslänglich durchgeführt werden und bedingen daher regelmässige Kontrollen. Dasselbe, aber in einer geringen Frequenz, gilt auch für Personen, die sich Operationen unterzogen haben. Auf diese Weise werden Menschen mit GI künftig vielmehr die Regel als die Ausnahme in jeder primärversorgenden Praxis darstellen.
Dr. med. David Garcia Nuñez
Innovations-Focus Geschlechtervarianz, Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie, Universitätsspital Basel, Basel

Das Wichtigste für die Praxis

Menschen mit einer Geschlechtsinkongruenz stellen sich zunehmend in der Primärversorgung zwecks Durchführung einer medizinischen Transition vor.
Während die Transitions- und damit auch Behandlungsziele von den Behandlungssuchenden selbst zu definieren sind, sollten die medizinischen Interventionen mittels eines «shared decision»-Prozesses bestimmt werden.
Die vorgestellten medizinischen geschlechtsangleichenden Massnahmen besitzen sowohl eine klinische als auch eine evidenzbasierte Wirksamkeit.
Die Kombination der verschiedenen Interventionen erfolgt in jedem Fall basierend auf einer individuellen Beurteilung und soll je nach Wirksamkeit im Verlauf – auch mit anderen hier nicht erwähnten Massnahmen – ergänzt werden.
Einige medizinische Interventionen bedürfen einer langfristigen medizinischen Kontrolle, was die Notwendigkeit, die Versorgung von Menschen mit einer Geschlechtsinkongruenz zu verbessern, zusätzlich hervorhebt.
AM hat Zuschüsse von ALK, Galderma und Bencard für die Teilnahme an Veranstaltungen / Reisekosten deklariert. NF hat angegeben, ein Honorar für einen Studentenkurs zum Thema «Gender Medicine» vom Hirslanden Institute for Medical Education, Zürich, erhalten zu haben. Die anderen Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. David Garcia Nuñez
Innovations-Focus Geschlechtervarianz
Universitätsspital Basel
Spitalstrasse 21
CH-4056 Basel
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