Fokus auf diagnostische Exzellenz
Schlaglicht: Allgemeine Innere Medizin

Fokus auf diagnostische Exzellenz

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09327
Swiss Med Forum. 2023;23(11):962-963

Affiliations
Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern

Publiziert am 15.03.2023

Dieser Artikel beleuchtet kognitive Diagnoseprozesse, diagnostische Fehlerquellen und zeigt auf, wie jeder und jede, hier und jetzt, zur diagnostischen Exzellenz gelangen kann.

Einleitung

Diagnostische Fehler, definiert als Versagen, eine genaue und zeitgerechte Diagnose zu stellen oder diese adäquat zu kommunizieren, kommen ambulant sowie stationär vor [1]. Schätzungen gehen von 10–20% falschen, verpassten oder verzögerten Diagnosen aus [2]. Die meisten von Allgemeininternistinnen und -internisten verpassten Diagnosen betreffen nicht etwa seltene Erkrankungen, sondern häufige Krankheiten wie Pneumonie, Herzinsuffizienz und Tumorerkrankungen [3]. Diagnosefehler führen zu Morbidität, Mortalität und Kosten und sind der häufigste Grund für medizinische Haftpflichtprozesse [2]. Die Diagnosequalität wird daher zunehmend als wichtiger Faktor der Patientensicherheit erkannt [1].
Diagnostische Exzellenz geht über blosse Diagnosegenauigkeit hinaus und beinhaltet auch Rechtzeitigkeit, Effizienz und Patientenzentriertheit. Letztlich geht es nicht nur darum, effizient eine genaue Diagnose zu stellen, sondern auch Patientenpräferenzen und diagnostische Unsicherheit zu adressieren [4, 5]. So soll bei fehlendem Patientenwunsch eine Diagnose nicht erzwungen oder bei diagnostischer Unsicherheit, statt immer neue Tests zu veranlassen, auch einmal der klinische Verlauf abgewartet werden [4].

Diagnoseprozess

Die Diagnose ist ein komplexer und iterativer Prozess, der eine Beschaffung, Integration und Interpretation von klinischen Daten beinhaltet und verschiedene Gesundheitsberufe, Angehörige und Betroffene selbst involviert [1]. Eine Diagnose ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage, von Unsicherheit geprägt und initial oft nicht definitiv. Der Diagnoseprozess wird durch multiple Faktoren beeinflusst wie Kommunikation, Zusammensetzung und Aufgabenverteilung innerhalb des diagnostischen Teams, technische Möglichkeiten, Organisation (z.B. Vorhandensein von diagnostischen Algorithmen), Umgebungseinflüsse (z.B. Lärm) sowie Tarifsysteme, die technische anstatt kognitiver Leistungen honorieren [1]. Dabei scheinen Arbeitslast und tariflich bedingter Zeitdruck zur vermehrten Inanspruchnahme von Zusatzuntersuchungen zu führen [6]. Infolge steigender Komplexität steht immer mehr die Team- statt einer Einzelleistung durch Solo- und Sonderdiagnostiker wie den legendären Dr. Osler oder die Filmfigur Dr. House im Vordergrund.

Diagnostische Fehlerquellen

Die Komplexität des Diagnoseprozesses mit seinen vielen Einflussfaktoren macht ihn fehleranfällig. Diagnostische Fehler können in drei Kategorien eingeteilt werden [7]: «no-fault»-, systembedingte und kognitive Fehler. Bei «no-fault»-Fehlern ist die Diagnosestellung durch atypische/maskierte Krankheitspräsentation oder fehlende Patientenkooperation behindert. Einige Krankheiten sind schlicht nicht diagnostizierbar. Systemfehler betreffen Probleme wie eingeschränkte Verfügbarkeit von Zusatzuntersuchungen oder Fehler in der Kommunikation von Testresultaten. Kognitive Fehler sensu lato sind bedingt durch mangelhafte Fachkenntnisse, Fehler in der genauen/vollständigen Erhebung klinischer Daten oder deren fehlerhafte Synthese. In der Inneren Medizin sind in 74% der Diagnosefehler kognitive Faktoren haupt- oder mitbeteiligt [7]. Darunter sind Fehler der Datensynthese, das heisst Fehler im Clinical Reasoning, mit 83% die wichtigste Ursache, gefolgt von Fehlern in der Datenerhebung (14%) und mangelhafte Kenntnisse (3%) [7].

Fehler im Clinical Reasoning

Das Clinical Reasoning, die Integration und Interpretation klinischer Informationen, stellt die ärztliche Kernkompetenz schlechthin dar. Dabei erfolgt je nach Vertrautheit mit dem Problem und dessen Komplexität ein Wechsel zwischen einem raschen, intuitiv-unbewussten Denken, das auf Erkennung von bekannten Mustern (z.B. Trisomie 21) beruht, und einem langsameren, analytischen Denken basierend auf dem systematischen Erstellen und Testen von Arbeitshypothesen (z.B. Ikterus) [8]. Intuitives Denken, besonders bei atypischen Problemstellungen, ist jedoch anfällig für unbewusste «Fehler», sogenannte kognitive Biases (Tab. 1) [9]. Affektive Biases wie Vorurteile gegenüber bestimmten Personengruppen [10], ärztliche Persönlichkeitsmerkmale wie Risikoaversion, Selbstüberschätzung oder Laune/Müdigkeit können auch zu kognitivem «Versagen» führen [11, 12].
Tabelle 1: Definition und klinische Beispiele häufiger kognitiver Biases [9]
Kognitiver BiasDefinitionKlinisches Beispiel
VerfügbarkeitsbiasMan stellt eher eine Diagnose, die man (frisch) im Gedächtnis hat.Nach verpasster Subarachnoidalblutung meldet der Kliniker bei jeglicher Art von Kopfschmerzen eine zerebrale Bildgebung an.
AnkereffektMan verlässt sich auf erste Eindrücke, spätere Informationen werden nicht mehr berücksichtigt.Der Patient wird mit Diagnose Pneumonie auf die Bettenstation verlegt. Der Stationsarzt schenkt neuen Befunden, die gegen eine Pneumonie sprechen, keine Beachtung.
Verfrühter FallabschlussAkzeptanz der erstbesten Diagnose («When the diagnosis is made, the thinking stops»).Kliniker führt akute Lumbalgien auf degenerative Wirbelsäulenveränderungen zurück, ohne Erwägung anderer Diagnosen.
Framing EffektDiagnose beeinflusst durch das Wording der Fallbeschreibung.Beim selben Patienten deutet das Narrativ Raucheranamnese, Husten und Dyspnoe auf Lungenkarzinom oder chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) hin; das Narrativ HIV (CD4 <200), Husten und Dyspnoe hingegen auf Pneumonie mit opportunistischen Erregern.
Blinder GehorsamGegenüber Resultaten von Zusatzuntersuchungen oder Expertenmeinungen.«Ausschluss» einer Lungenembolie bei negativem Angio-CT trotz hoher klinischer Vortestwahrscheinlichkeit.

Der Weg zur diagnostischen Exzellenz

Das Clinical Reasoning als diagnostische Hauptfehlerquelle wäre ein guter Ansatzpunkt für Qualitätsverbesserungsmassnahmen. Diagnostische Exzellenz ist lernbar und besteht aus der kontinuierlichen Entwicklung der eigenen Diagnoseexpertise und der Prävention von Fehlern. Die Expertise wird geschärft durch die konsistente Verwendung eines strukturierten Diagnoseapproachs, Feedback und Verifizierung von Diagnosen durch Tracking von Patientenverläufen, Falllösungsübungen und wachsende praktische Erfahrung [12–14]. Konzise Problembeschreibungen mit priorisierten Differentialdiagnosen, die Verwendung diagnostischer Schemata zur Klassifizierung von Symptomen/Befunden sowie Krankheitsskripte (mentale Zusammenfassungen relevanter Krankheiten) helfen, das Denken zu strukturieren [15]. Bei der Fehlerprävention stehen Strategien zur Vermeidung unbewusster kognitiver und affektiver Biases im Vordergrund. Dabei ist es wichtig, sich dieser Biases im Denkprozess bewusst zu werden und durch kognitive Forcing-Strategien in Richtung analytisches Denken zu übersteuern (z.B. «Mach immer eine Differentialdiagnose», «Denke immer an das Worst-Case-Szenario») [12]. Voraussetzung hierzu ist, kognitive Prozesse und Fehler überhaupt zu kennen. Weitere empfohlene, nur bedingt evidenzbasierte Massnahmen zur kognitiven Fehlerreduktion sind die Förderung des kritischen Hinterfragens, teambasierte Diagnostik, Entscheidungshilfen (Checklisten, Alert-Systeme, Algorithmen, Technologien der Artificial Intelligence) und Arbeitsbedingungen, die beispielsweise durch weniger Übermüdung eine bessere Kognition erlauben [12, 13, 16, 17].
Ein Hindernis zur Verbesserung der allgemeinen Diagnosequalität ist der Mangel an strukturierten Curricula in Clinical Reasoning / kognitiven Fehlern in der ärztlichen Weiter- und Fortbildung. Zudem, obwohl Konzepte zur Messung der Diagnosequalität und -sicherheit entwickelt wurden [18], fehlen akzeptierte Definitionen und Standards, um diagnostische Performance zu messen [19]. Die eingeschränkte Messbarkeit der Diagnosequalität behindert die wissenschaftliche Evaluation, Implementation und das Monitoring wirksamer Qualitätsoptimierungsmassnahmen («If you can’t measure it, you can’t improve it»).

Fazit

Diagnosequalität ist massgeblich abhängig vom ärztlichen Denken. Neben vermehrtem Training in Clinical Reasoningwären die Entwicklung messbarer Qualitätsindikatoren und ökonomischer Anreizsysteme zur Belohnung diagnostischer Exzellenz wichtige Schritte zur Qualitätsverbesserung [20]. Zur Stärkung diagnostischer Exzellenz in Allgemeiner Innerer Medizin hat die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) 2022 die erste «Diagnostic Masterclass» ins Leben gerufen und eine wissenschaftliche Ausschreibung zum Thema «Diagnostic Quality and Excellence»lanciert.
Prof. Dr. med. Drahomir Aujesky
Universitätsklinik für Allgemeine
Innere ​Medizin, Inselspital,
Universitätsspital Bern, Bern
Ich danke Dr. Martin Perrig, MME, für die kritische Durchsicht dieses Manuskripts.
Prof. Dr. med. Drahomir Aujesky
Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Haus 5
Freiburgstrasse 18
CH-3010 Bern
Empfohlene Literatur
​1 National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine. Improving Diagnosis in Health Care. Washington, DC: The National Academies Press; 2015. Accessed at: https://doi.org/10.17226/21794.
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