Der Demenzursache auf der Spur – genau hinschauen lohnt sich
Schlaglicht: Neurologie

Der Demenzursache auf der Spur – genau hinschauen lohnt sich

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2023/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09342
Swiss Med Forum. 2023;23(13):984-985

Affiliations
a Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen; b Service de Neurologie, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) et Université de Lausanne, Lausanne; c Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich, Zürich

Publiziert am 29.03.2023

Hinter der Diagnose Demenz verbergen sich zahlreiche Erkrankungen. Die Kenntnis der Ätiologie verbessert die Therapie der Patientinnen und Patienten.

Einführung

Von den jährlich neu in der Schweiz auftretenden 32 000 Demenzerkrankungen erhalten gegenwärtig nur etwa 50% eine eingehende Abklärung. Bei insgesamt 150 000 Demenzbetroffenen in der Schweiz ist folglich bei mindestens 75 ​000 von ihnen nicht bekannt, welche Ursache für den fortschreitenden kognitiven Abbau vorliegt [1].
Die Gründe hierfür sind nicht vollständig geklärt. Eine wichtige Rolle spielt aber die Wahrnehmung der Erkrankung in der Bevölkerung und auch die Haltung der Hausärztinnen und -ärzte zum Sinn einer Demenzabklärung [2]. Wenn Demenz als «normaler Alterungsprozess» oder nicht beeinflussbares Schicksal angesehen wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass keine weiteren Abklärungen vorgenommen werden.
Im Gegensatz zu dieser landläufigen Meinung lohnt sich eine Abklärung der Demenzursache in jedem Lebensalter.

Abklärung der Demenzursache

Der Umfang der Abklärungen variiert stark – nicht jede betroffene Person benötigt jede verfügbare Diagnostik. Für die Beurteilung, welche Zusatzuntersuchungen sinnvoll sind, ist die Erfahrung von spezialisierten Zentren wie einer Memory Clinic von grossem Vorteil. Hinweise zum differenzierten Vorgehen in verschiedenen Situationen finden sich in den Empfehlungen zur Diagnostik der Demenz des Vereins Swiss Memory Clinics (SMC) unter www.swissmemoryclinics.ch [3]. Zumindest sollte eine fundierte klinische Untersuchung inklusive eines neurologischen und internistischen Status mit detaillierter Eigen- und Fremdanamnese erfolgen, ergänzt durch kognitive Tests und eine zerebrale Bildgebung.
Mit einer solchen basalen Abklärung wird eine diagnostische Sicherheit von 70–75% erreicht [4]. Ob dieses Mass an (Un-)Sicherheit reicht, sollten die behandelnden Ärztinnen und Ärzte im Diagnosegespräch zusammen mit Betroffenen und Angehörigen besprechen. Wenn eine höhere diagnostische Sicherheit gewünscht ist, stehen heute mit Biomarkern, erweiterter magnetresonanztomographischer Diagnostik (MR-Volumetrie) und nuklearmedizinischer Diagnostik etablierte Methoden zur Verfügung, welche die diagnostische Sicherheit auf bis zu 91% erhöhen [5]. Insbesondere durch die heute verfügbare Biomarker-Diagnostik kann die diagnostische Sicherheit gesteigert werden. Anwendungsempfehlungen für ihren Einsatz wurden jüngst publiziert [6].
Mögliche Gründe für eine erweiterte Abklärung sind in Tabelle 1 zusammengefasst (modifiziert nach [7]). Zu dieser erweiterten Diagnostik zählen in der Regel auch die Durchführung einer Liquordiagnostik sowie eine detaillierte neuropsychologische Untersuchung.
Tabelle 1: Indikationen für detaillierte Abklärung der Demenzursache (nach [7])
Rasch progrediente Demenz (inklusive Verdacht auf autoimmune Enzephalopathie)
Junges Alter (<65 Jahre)
Indikationsstellung für medikamentöse Therapien (inklusive neue Anti-Amyloid-Therapien)
Indikationsstellung für gezielte nicht pharmakologische Therapien
Abgrenzung zwischen Demenz, Depression oder anderen psychiatrischen Erkrankungen
Ausschluss behandelbarer Ursachen (z.B. Normaldruckhydrozephalus oder Hirntumor)
Atypische initiale Symptome (z.B. primär progrediente Aphasie, Verhaltensstörungen, Halluzinationen)
Klärung der Fahreignung
Klärung der Urteilsfähigkeit
Interesse an Studienteilnahme
Positive Familienanamnese
Gerade bei der Abklärung rasch progredienter Demenzerkrankungen und dem Einsatz von Biomarkern bei der Alzheimer-Erkrankung hat sich das Feld der Demenzdiagnostik in letzter Zeit massiv weiterentwickelt, so dass auf diese Punkte im Folgenden detaillierter eingegangen wird.

Rasch progrediente Demenz

Die rasch progrediente Demenz (RPD) beschreibt eine schnell fortschreitende kognitive Störung, bei der die Progression von den ersten Symptomen bis zum Stadium der Demenz (schwere neurokognitive Störung nach heutiger Terminologie) in weniger als 1–2 Jahren erfolgt, meist innerhalb von Wochen oder Monaten, ohne dass es in der Literatur eine klare zeitliche Definition gibt [8, 9]. Tabelle 2 fasst die häufigsten Ätiologien der RPD zusammen.
Tabelle 2: Ursachen einer rasch progredienten Demenz (nach [8, 9])
Klassische neurodegenerative Erkrankungen (schnell fortschreitender Phänotyp / Assoziation mit Co-Pathologien)
Prionenerkrankung
Entzündliche ZNS-Erkrankungen
Autoimmune Enzephalopathien
Infektiöse Enzephalopathien (HIV, Syphilis, HSV, VZV, Whipple, JC-Virus etc.)
Vaskuläre ZNS-Erkrankungen
Vaskuläre Leukenzephalopathie, multiple Schlaganfälle, zerebrale Venenthrombose
ZNS-Vaskulitis
Zerebrale Amyloid-Angiopathie
Toxische und metabolische Enzephalopathien
Wernicke-Korsakoff-Enzephalopathie, hepatische Enzephalopathie, endokrine Störungen, Vitamin-B12- oder Folatmangel etc.
Toxisch (Schwermetalle etc.)
Andere Ursachen
Normaldruckhydrozephalus
Neoplasien (Metastasen, ZNS-Lymphom etc.)
Psychiatrische Störungen
Rezidivierende epileptische Anfälle / non-konvulsiver Status epilepticus
HIV: Humanes Immundefizienzvirus; HSV: Herpes-simplex-Virus; VZV: Varicella-Zoster-Virus; ZNS: zentrales Nervensystem.
Eine Prionenerkrankung ist eine der wichtigen und prototypischen Ursachen einer RPD. Die häufigste Prionenkrankheit ist die sporadische Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD), deren Ursache die Aggregation von falsch gefaltetem Prionprotein (PrPsc) im Gehirn ist [10]. Auch die Alzheimer-Krankheit kann sich als RPD manifestieren, vor allem wenn sie mit einer Amyloid-Angiopathie oder anderen Kofaktoren, die zu einer beschleunigten neuronalen Degeneration beitragen, einhergeht. Darüber hinaus können sich auch weitere Demenzerkrankungen durch eine schnell fortschreitende kognitive Störung äussern:
Eine Autoimmunenzephalitis ist eine relativ häufige Ursache einer rasch progredienten Demenz bei jungen Patientinnen und Patienten (<45 Jahren). Sie ist bei frühzeitiger Diagnose oft behandelbar [11, 12]. Es gibt zwei Arten von Autoimmunenzephalitiden, je nach dem antigenen Ziel des Antikörpers in der Zelle: Enzephalitiden mit Antikörpern gegen Oberflächen-/Synapsenrezeptoren und Enzephalitiden mit Antikörpern gegen intrazelluläre Antigene, die als «onkoneuronale» Enzephalitiden bezeichnet werden [13]. Onkoneuronale Enzephalitiden sind hauptsächlich paraneoplastische Syndrome und es wird angenommen, dass der nachgewiesene Antikörper (zum Beispiel Anti-Hu) nur eine Reflexion der Immunantwort ist, ohne an sich pathogen zu sein. Bei Anti-Oberflächen-/Synapsenrezeptor-Enzephalitiden ist der nachgewiesene Antikörper pathogen und spiegelt eine humorale Immunantwort wider, mit einer besseren Reaktion auf eine Immuntherapie. Diese Enzephalitiden können paraneoplastisch, postinfektiös oder idiopathisch sein, wobei die Anti-N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor-(NMDAR-) und Anti-«leucine-rich glioma-inactivated protein 1»-(LGI1-)Enzephalitiden am häufigsten vorkommen [14, 15]. Häufig treten autoimmune Enzephalitiden als limbische Enzephalitis auf. Sie zeigen kognitive Beeinträchtigungen, die vorwiegend anterograde Gedächtnisinhalte betreffen und mit psychiatrischen Manifestationen einhergehen.
Als weitere Ursachen einer RPD sind metabolische und toxische Enzephalopathien zu nennen. Alkoholkonsum, meist in Verbindung mit Unterernährung, kann eine Wernicke-Enzephalopathie (in Verbindung mit einem Vitamin-B1-Mangel) oder eine hepatische Enzephalopathie verursachen. Schliesslich müssen auch seltenere Ursachen für eine RPD in Betracht gezogen werden wie Neoplasien des Zentralnervensystems (ZNS), insbesondere das primäre ZNS-Lymphom, und ein Normaldruckhydrozephalus.

Zusammenfassung

Die diagnostischen Möglichkeiten bei Demenz haben sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Gerade bei rasch progredienten Demenzerkrankungen sollten alle diagnostischen Mittel ausgeschöpft werden, da sich in dieser Gruppe vermehrt Fälle finden, die kausal therapiert werden können. Doch auch wenn keine behandelbare Ursache gefunden wird: Die genaue Klärung der Ätiologie erleichtert schnelle und zielgerichtete Entscheidungen, was die symptomatische Therapie und optimale Betreuung der Betroffenen angeht.
Dr. med. Ansgar Felbecker
Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
AF: Grants von der EMPA-KSSG-Forschungsförderung, von der Stiftung Synapsis – Demenz Forschung Schweiz; Beraterhonorare (Zahlung an Institut) von Roche, Biogen, eisai, OM Pharma, Specialty Care Therapiezentren AG, Nestle, Vifor Pharma; Vortragshonorare (Zahlung an Institut) von Roche, Schwabe Pharma und OM Pharma; Präsident und Vorstandsmitglied von Swiss Memory Clinics und Mitglied des Leitungsgremiums der Nationalen Plattform Demenz. CP: Zuschüsse (Zahlung ans CHUV) von Merck, Biogen, Roche and Novartis für die Teilnahme an Advisory Boards und für Vorträge. HHJ: Grants vom Schweizerischen Nationalfonds und der Renate Rugieri Stiftung; Beraterhonorare von Amicus Therapeutics, Alexion, Allergan, Alnylam Pharmaceuticals, Biogen, GMP Orphan, Ipsen, Roche, Sanofi-Aventis; Vortragshonorare von Roche, Sanof-Aventis, Amicus Therapeutics; Zuschüsse für Reisekosten von Amicus Therapeutics. VL hat deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Ansgar Felbecker
Klinik für Neurologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
CH-9007 St. Gallen
1 Alzheimer Schweiz. Demenz in der Schweiz 2022, Zahlen und Fakten. 2022 [Abgerufen 07.10.2022]. Abrufbar unter: https://www.alzheimer-schweiz.ch/de/ueber-demenz/beitrag/demenz-in-der-schweiz
2 Giezendanner S, Monsch AU, Kressig RW, MuellerY, StreitS, Essig S, ZellerA, Bally K. (2019). General practitioners’ attitudes towards early diagnosis of dementia: a cross-sectional survey. BMC Fam Pract. 2019;20(1):65.
3 Swiss Memory Clinics (SMC). Inhaltliche Qualitätsstandards «Swiss Memory Clinics» zur Demenzdiagnostik. 2022 [Abgerufen 07.10.2022]. Abrufbar unter: https://www.swissmemoryclinics.ch/qualitaetsshyentwicklung/qualitaetsstandards/diagnostik
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8 Hermann P, Zerr I. Rapidly progressive dementias – aetiologies, diagnosis and management. Nat Rev Neurol. 2022;18(6):363–76.
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