Elektrostimulation und Technologien – Realität und Realisierung
Schlaglicht: Physikalische Medizin und Rehabilitation

Elektrostimulation und Technologien – Realität und Realisierung

Medizinisches Schlaglicht
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09344
Swiss Med Forum. 2023;23(1415):1002-1005

Affiliations
Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Nottwil: a Paraplegiologie und Rehabilitationsmedizin; b International FES Centre® für Behandlung, Forschung und Lehre

Publiziert am 05.04.2023

Für Menschen, die aufgrund eines Traumas oder einer neurologischen Erkrankung die Fähigkeit verloren haben, ihre Muskeln freiwillig zu bewegen, ist die die Elektrostimulation heute eine realistische Therapieoption im rehabilitativen Alltag.

Elektrostimulation

Die Methodik der Elektrostimulation (ES) hat je nach Anwendung und Indikation sehr gute bis moderate wissenschaftliche und klinische Evidenz. ES wurde bereits vor mehr als 200 Jahren bei Personen mit Querschnittslähmung (QSL) angewendet. In der Literatur finden sich zwei Aufzeichnungen von Brockliss (1782) und Mauduyt (1784) aus Frankreich. Beide empfahlen eine frühzeitige Behandlung mit ES bei Patientinnen und Patienten, die von der Taille abwärts gelähmt waren [1]. Ende des 19. Jahrhunderts wurden vier Fälle von inkomplett Gelähmten beschrieben, einer von Gull aus London [2] und drei von Erb aus Heidelberg [3]. Die Elektroden wurden auf der Haut über der Wirbelsäule angebracht. Bei den Patientinnen und Patienten verbesserte sich die Muskelkraft nach der Behandlung mit ES. Alle erlangten die Gehfähigkeit wieder und eine Person berichtete über Schmerzlinderung [2, 3]. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts erzielten Dimitrijevic et al. einen weiteren Meilenstein, da sie aufzeigten, dass eine gezielte Stimulation die Fazilitation der spinalen Motoneurone bewirkt und der afferente Input in das Rückenmark mit gleichzeitiger Inhibition der Interneurone zu einer motorischen Verbesserung führte [4]. Heutzutage ist die ES mit ihren verschiedenen Formen der neuromuskulären und funktionellen ES sowie der direkten Muskelstimulation in der Rehabilitation von Menschen mit akuter und chronischer QSL im Rehabilitationskonzept etabliert [5, 6]. Die Indikationen sind Neuromodulation zur Förderung residualer Funktionen [7, 8], motorisches Lernen [9, 10], Unterstützung und Ersatz bei Steh-, Geh- und Greiffunktionen im Sinn einer Orthetik [11], Atemmanagement [12, 13], Herz-Kreislauf-Training [14], Prophylaxe für Dekubitus [15], Subluxation im Schultergelenk und Osteoporose [16], Verbesserung der Muskelkraft sowie inter- und intramuskulären Koordination und Tonusregulation [17].
Bei der Vielfalt der Systeme für ES wird zwischen implantierbaren Systemen und solchen zur transkutanen Stimulation unterschieden (Abb. 1).
Abbildung 1: Übersicht über die Systeme für Elektrostimulation. EMG: Elektromyographie.
© Synapse Biomedical; RBM – Medizinprodukte; Schweizer Paraplegiker-Zentrum; mit freundlicher Genehmigung.
Bei letzterer wird über die Applikation von Elektroden auf die Haut bei der ES ein elektrisches Feld erzeugt, das entweder zu einer Depolarisation der Zellmembran der nahegelegenen Neuronen oder zur Auslösung von Aktionspotentialen der Muskelfasern führt. Beides resultiert in einer Muskelkontraktion [18]. Bei einer supranukleären Schädigung erfolgt die Übertragung des Stromes über den Nerv. Bei infranukleären Schädigungen hingegen erfolgt die Stimulation direkt über den Muskel. Die Reizschwelle für die Erzeugung von Aktionspotentialen bei Nervenfasern ist deutlich niedriger als diejenige für die direkte Erregung von Muskelfasern. Sie liegt bei Nervenfasern ab 50 µs (0,05 ms) Impulsdauer, während diejenige von Muskelfasern über 10 ms liegt. Basierend auf dieser physiologischen Grundlage entscheidet sich die Auswahl der Stimulationsparameter und des geeigneten Stimulationssystems.

Technologien

Die Entwicklung von Stimulationssystemen, die Array-Elektroden (Abb. 2) integrieren, sowie die Möglichkeit der anwenderfreundlichen Programmierung von Bewegungsmustern in der klinischen Praxis haben die Behandlung von Menschen mit QSL verbessert.
Abbildung 2: Array- oder Multipad-Elektrode für den Unterarm zur Stimulation von Handfunktionen (FESIA Grasp ® ).
Es können Kombinationsbehandlungen von ES integriert in die klassische physio- und ergotherapeutische Behandlung durchgeführt werden (Abb. 3).
Abbildung 3: Integration der funktionellen Elektrostimulation in eine physiotherapeutische Behandlung. Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Zusätzlich erlaubt die Robotik, die repetitive oder wechselnde Bewegungsmuster – sei es aufgabenspezifisch oder lokomotionsbezogen – mit einer ES in Echtzeit synchronisiert, die Prinzipien der Neuromodulation und des motorischen Lernens in der Akut- und Subakutphase nach QSL umzusetzen (Abb. 4) [7].
Abbildung 4: Therapieeinheit auf dem MotionMaker™. Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Der Einsatz von immersiven Lernformen wie unter anderem die Anwendung von virtuellen Welten (Abb. 5) als Zusatz zur ES mit Robotik bietet dem zentralen und peripheren Nervensystem einen umfassenden Reiz.
Abbildung 5: Kombination aus direkter Muskelstimulation und funktionellen Übungen, unterstützt durch Virtual Reality. Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Letztlich ist das Ziel der Neurorehabilitation, alle Wege motorisch, sensorisch und kognitiv zu nutzen, um restaurativ auf residuale Funktionen im geschädigten Gebiet des Nervensystemes Einfluss zu nehmen.

Umsetzung am Beispiel der Lokomotion

Klinische Innovation in Kombination mit einem fundierten neurologischen Fachwissen sind die Kernkompetenzen des interprofessionellen Rehabilitationsteams.
Die Neuromodulation ist ein Schwerpunkt der Rehabilitation, der in der akuten und subakuten Phase nach QSL zur Anwendung kommt. Je nach Belastbarkeit der zu behandelnden Person kann hier mit einer stationären Robotik, zum Beispiel dem MotionMakerTM, gearbeitet werden. Der MotionMakerTM ist eine Cyberthese (Abb. 4), die neuromuskuläre ES in Echtzeit der unteren Extremitäten mit symmetrischen extensorischen und flexorischen sowie alternierenden Beinbewegungen in einer Robotik kombiniert. Die ES selbst kann efferent sensorisch oder afferent motorisch erfolgen, je nach Auswahl der Stimulationsparameter und Höhe der Amplitude. Zudem verfügt das Gerät über ein visuelles Feedbacksystem, das der Patientin oder dem Patienten Rückmeldung über die Synchronisation der eigenen Beinbewegung und der Robotik über den gesamten Bewegungsweg gibt. Betroffene jeder Läsionshöhe können von der Therapie zu einem frühen Zeitpunkt in der Rehabilitation profitieren.
Ein anderer Ansatz der Neuromodulation ist die Kombination von Lokomotionstraining auf dem Lokomat® in Kombination mit transkutaner Rückenmarkstimulation («transcutaneous spinal cord stimulation» [tSCS]). Bei der tSCS werden die sensorischen Fasern, insbesondere die afferenten Ia-Fasern, in den Hinterwurzeln aktiviert, die eine transsynaptische Aktivierung der α-Motoneuronen bewirken [19]. Es wird vermutet, dass die unmittelbare Verbesserung in der Motorik auf die zeitliche Summation von afferentem Input und den willkürlichen Befehlen auf die absteigenden Bahnen zurückzuführen ist [20]. Die Umsetzung in den klinischen Alltag ist einfach. Die tSCS läuft simultan zum Lokomotionstraining. Besteht die Möglichkeit, dies mit Action Observation zu kombinieren, ist der Reiz auf das Nervensystem und letztlich auf die neurale Plastizität umfassend erreicht.
In der chronischen Phase nach QSL, wenn motorische Defizite mit Hilfsmitteln unterstützt werden müssen, bieten ES-induzierte Fusshebersysteme eine Alternative zu klassischen Schienen. Die Geräte, die Array-Elektroden bereitstellen, ermöglichen die grösstmögliche Individualität der Programmierbarkeit (Abb. 6). Die ES umfasst die gezielte Aktivierung der Musculi peronei, des Musculus tibialis anterior und gegebenenfalls der langen Zehenextensoren. In der Abdruckphase ist die Aktivität des Musculus triceps surae entscheidend, um genügend Stabilität im Vorwärtstransport des Körpergewichtes über das Standbein zu gewährleisten. Zudem kann, wenn erwünscht, der Fluchtreflex in Nähe des Peronalnerves stimuliert werden, falls Defizite in der Knie-und Hüftflexion die Schrittauslösung beeinträchtigen. Vorwärtsgehen, Rückwärtsgehen, Seitschritte, Richtungs- und Geschwindigkeitswechsel sowie Treppensteigen sind mit zuverlässiger ES möglich.
Abbildung 6: FESIA Walk ® .

Fazit

Zusammenfassend zeigt das Beispiel der Behandlung von Gangstörungen nach QSL den Einsatz von ES und Technologie von der akuten bis zur chronischen Phase. Dieser Behandlungsansatz sollte standardisiert werden und durch ergänzende wissenschaftliche und klinische Evidenz weiter belegt werden.
Dr. Ines Bersch-Porada, PT
Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Nottwil
Dr. med. Michael Baumberger
Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Nottwil
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Michael Baumberger
Schweizer Paraplegiker-Zentrum
Guido A. Zäch Str. 1
CH-6207 Nottwil
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