Niedergradige Gliome – behandeln oder nicht behandeln?
Schlaglicht: Neurochirurgie

Niedergradige Gliome – behandeln oder nicht behandeln?

Medizinisches Schlaglicht
Ausgabe
2023/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09346
Swiss Med Forum. 2023;(16):50-51

Affiliations
a Klinik für Neurochirurgie, Universitätsspital Basel, Basel; b Klinik für Neurochirurgie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern

Publiziert am 19.04.2023

Die Behandlung und die Prognose von niedergradigen Gliomen haben sich durch neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend geändert.

Hintergrund

Diffuse Gliome gehören zu den häufigsten malignen Tumoren des Gehirns und werden in niedergradige Gliome (Low-Grade-Gliome [LGG], World-Health-Organisation-[WHO-]Grad 2) und hochgradige Gliome (High-Grade-Gliome [HGG], WHO-Grade 3 und 4) eingeteilt. Da Gliome diffus und infiltrativ wachsen, sind sie mit den aktuell verfügbaren Therapien nicht heilbar. LGG machen etwa 20–30% aller Gliome aus und nahezu alle LGG entwickeln sich nach einigen Jahren zu einem HGG.
Das Management von LGG war stets ein umstrittenes Thema und hat sich von einer Watch-and-Wait-Strategie zu einer frühen und aggressiven Behandlung entwickelt. Ein Grund dafür ist die Identifizierung von molekularen Markern, die nicht nur für Tumorgradierung und -einteilung wichtig sind, sondern darüber hinaus auch prognostische Aussagen erlauben und Einfluss auf die empfohlenen therapeutischen Massnahmen haben.
Immer mehr kristallisiert sich für LGG-Betroffene auch die Wichtigkeit einer frühen und idealerweise maximalen Tumorresektion heraus. Mithilfe von Neuerungen in den Operationstechniken kommen wir diesem Ziel näher.

Management von Low-Grade-Gliomen

Das Management von LGG war schon immer kontrovers und hat sich in den letzten Jahren stark verändert von einer passiven Watch-and-Wait-Strategie hin zu früher und aggressiver Behandlung. Insbesondere gibt es immer mehr Studien, die zeigen, dass die Patientinnen und Patienten hinsichtlich des Überlebens, des funktionellen Zustandes und der Anfallskontrolle von einer frühen und möglichst umfangreichen Tumorresektion profitieren [1–4]. Es gibt auch zunehmende Evidenz bezüglich des Zusammenhangs von grösserem Resektionsausmass und verbessertem Gesamtüberleben, verbessertem progressionsfreien Überleben, längerer Zeit zu maligner Transformation und besserer Anfallskontrolle [1, 2, 5, 6]. Wenn LGG früh und möglichst komplett reseziert werden, können sie möglicherweise kontrolliert werden, bevor sie sich maligne transformieren, was sich in einer besseren Lebenserwartung und -qualität widerspiegeln sollte. Mit einer Resektion ist es auch möglich, histologische und vor allem molekulare Informationen über den Tumor zu erhalten, was für Therapieentscheide und prognostische Einschätzung immer wichtiger wird. Tumorgewebe kann auch durch eine Biopsie gewonnen werden, sollte eine Resektion nicht möglich sein. Viele LGG werden inzidentell entdeckt und sind asymptomatisch. Die Nutzen-Risiko-Abwägung ist für diese Patientinnen und Patienten besonders wichtig.
Eine Schlussfolgerung aus aktuellen Studien zum Vergleich von postoperativer Chemo- und/oder Radiotherapie ist, dass Patientinnen und Patienten mit Isozitrat-Dehydrogenase-(IDH-)mutierten LGG, die jünger als 40 Jahre alt sind und bei denen kein sichtbarer Resttumor im postoperativen Magnetresonanztomogramm nachweisbar ist, eher nicht von einer unmittelbaren postoperativen Behandlung profitieren und aktiv (klinisch und bildgebend mittels Magnetresonanztomographie [MRT]) monitorisiert werden sollten. Bei Tumorprogress erfolgt dann eine Nachbehandlung (Chemo- und/oder Radiotherapie). Patientinnen und Patienten mit sogenannten Hoch-Risiko-LGG (IDH-Wildtyp-Tumoren, subtotale Tumorresektion/Biopsie, Alter >40 Jahre) sollten direkt postoperativ einer Nachbehandlung (kombinierte Chemo- und Radiotherapie) unterzogen werden [7].

Aktualisierte Klassifizierung

Molekulare Marker spielen eine immer wichtigere Rolle für die Gradierung und Prognose von LGG. Da die Marker teilweise auch prädiktiv sind, das heisst zu besserem Therapieansprechen führen, werden sie als Grundlage für Therapieentscheidungen genutzt.
Die wichtigsten Marker sind IDH1/2-Mutationen, O-6-Methylguanin-DNA-Methyltransferase-(MGMT-)Promotor-Methylierung und Heterozygotieverlust von 1p/19q. Diese drei Marker sind sowohl von prognostischer als auch von prädiktiver Relevanz [8–11]. Tumoren mit methyliertem MGMT-Promotor sprechen zum Beispiel besser auf alkylierende Chemotherapeutika an [12].
IDH1/2-Mutationen und der 1p/19q-Status wurden in die WHO-Klassifikation der Hirntumoren 2016 integriert, die mit der Revision 2021 nochmals verfeinert und verändert wurde (Abb. 1) [13, 14].
Abbildung 1: Grundlegende zusammenfassende und vereinfacht dargestellte Einteilung der niedergradigen Gliome anhand der aktualisierten Guidelines der World Health Organisation (WHO) 2016 und 2021 [13, 14]. CDKN2A/B: cyclin-abhängiger Kinase-Inhibitor 2A/B; IDH: Isozitrat-Dehydrogenase; NOS: «not otherwise specified».
Ein weiterer wichtiger negativer prognostischer Marker ist die homozygote Deletion von Cyclin-abhängigem Kinase-Inhibitor 2A/B (CDKN2A/B). Wenn ein IDH-mutierter astrozytärer Tumor diese Deletion trägt, wird er in der neuen WHO-Klassifikation von 2021 als WHO-Grad 4 klassifiziert und entsprechend behandelt, unabhängig von den histologischen Merkmalen (Abb. 1) [14].

Neuerungen in der chirurgischen Technik

Die Herausforderung bei der chirurgischen Behandlung von LGG ist ein maximales Resektionsausmass mit Minimierung des Risikos für postoperative neurologische Defizite, vor allem wenn eloquente Hirnareale involviert sind. Dabei sind Mapping und Monitoring von kortikalen und subkortikalen zum Beispiel motorischen Funktionen wichtig zur Vermeidung von postoperativen Ausfällen. LGG, die sich in oder nah den Sprachzentren befinden, werden idealerweise im Wachzustand operiert, da es keine Möglichkeit gibt, bei der schlafenden Person Sprachfunktionen zu monitorisieren. Zunehmend werden auch LGG nahe an oder in motorischen Arealen im Wachzustand operiert.
Während man sich früher auf positives Mapping verliess, um funktionelle Kortexareale zu identifizieren, haben Studien gezeigt, dass auch negatives Mapping, also das «Nichtvorhandensein» von Funktion aussagekräftig ist, um das Risiko für postoperative neurologische Defizite niedrig zu halten [15]. Das führt dazu, dass man die funktionellen Areale nicht mehr zwingend exponieren muss und die operativen Zugänge somit kleiner sein können, was zu verkürzter Operationszeit, verminderter Wundfläche und erhöhtem Patientenkomfort führt.
Weitere Techniken, die die Resektion von LGG sicherer und wirkungsvoller machen, sind die funktionelle MRT, die Neuronavigation, die verbesserte intraoperative pathologische Beurteilung sowie das kontinuierliche Monitorisieren von motorischen Funktionen während der eigentlichen Gewebsentfernung. Letzteres wird ermöglicht durch die Entwicklung von Instrumenten, bei denen eine monopolare Stimulation in einen Sauger [16] oder Ultraschall-Gewebezertrümmerer [17] integriert wird. Diese Instrumente nutzen die monopolare Hochfrequenz-Stimulationstechnik («train-of-five») und sind ausgestattet mit einem akustischen, auf motorisch evozierten Potentialen (MEP) basierten Alarm, mit dem der Abstand beispielsweise zur Pyramidenbahn abgeschätzt werden kann.

Diskussion und Ausblick

Die Behandlung und die Klassifizierung von LGG haben sich in den letzten Jahren stark gewandelt.
Die Evidenz zur Rolle der verschiedenen Therapien bei LGG stammen aus einer Zeit, in der die molekulare Einteilung der LGG noch nicht existierte. In den nächsten Jahren wird ein Informationszugewinn durch neue Studien an molekular klassifizierten LGG erwartet.
Durch stetige Weiterentwicklung der Operations- und Stimulationstechnik ist es heutzutage möglich, bis zu und sogar in funktionellen Arealen Tumoren zu resezieren, die früher als inoperabel eingestuft worden wären.
Durch die zunehmende Entdeckung von molekularen Markern und das bessere Verständnis der Tumorgenese besteht die Hoffnung, dass LGG in Zukunft mittels patientenspezifischer «targeted therapies» besser kontrollierbar oder sogar heilbar werden.
Dr. med. Severina Leu
Klinik für Neurochirurgie, Universitätsspital Basel, Basel
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Severina Leu
Klinik für Neurochirurgie
Universitätsspital Basel
Spitalstrasse 21
CH-4031 Basel
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