Sturzprophylaxe: Wo stehen wir?
Schlaglicht: Geriatrie

Sturzprophylaxe: Wo stehen wir?

Medizinisches Schlaglicht
Ausgabe
2023/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09347
Swiss Med Forum. 2023;23(17):47-49

Affiliations
Service de gériatrie et de réadaptation gériatrique, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne

Publiziert am 26.04.2023

Stürze sind häufig bei älteren Personen und wirken sich in vielfacher Weise körperlich und psychologisch aus. Die Abklärung des Sturzrisikos sollte deshalb ab einem Alter von 65 Jahren ein Bestandteil der klinischen Routineuntersuchung sein.

Einleitung

In der Schweiz berichten ein Viertel (25,8%) der Personen ab 65 Jahren und ein Drittel (33,1%) der Personen ab 80 Jahren, die im eigenen Haushalt leben, im Laufe des Jahres gestürzt zu sein, die Hälfte davon wiederholt [1].
Für die Betroffenen haben diese Stürze vielfältige Auswirkungen in körperlicher und psychologischer Hinsicht. Zwar handelt es sich lediglich in 1–2% der Fälle um einen Sturz mit Todesfolge, doch ist die Mortalitätsrate in den vergangenen zehn Jahren stark angestiegen (in den Vereinigten Staaten und den Niederlanden um rund 300%) [2], möglicherweise im Zusammenhang mit der vermehrten Anwendung von Antikoagulanzien bei älteren Menschen. Einer von zehn Stürzen führt zu schweren Verletzungen, 2–3% davon machen Hüftfrakturen aus. In der Schweiz brechen sich pro Jahr rund 14 000 Personen die Hüfte, in über 90% der Fälle infolge eines Sturzes [3]. Auch wenn es nicht zu einer Fraktur kommt, gehen Stürze mit dem erhöhten Risiko eines funktionellen Verlustes und einer Einweisung in ein Pflegeheim einher [4], besonders wenn die Angst vor einem Sturz die Person dazu veranlasst, ihre Aktivität einzuschränken [5].
Weltweit rangieren Stürze auf dem dritten Platz der für Morbidität verantwortlichen Pathologien (Tod und Pflegeabhängigkeit kombiniert) [6], mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen. Allein die jährlichen Kosten von Hüftfrakturen wurden 2010 auf über 900 Mio. CHF geschätzt und dürften nunmehr auf etwa eine Milliarde gestiegen sein [7].
Die Veröffentlichung der ersten internationalen Empfehlungen für die klinische Praxis bietet Gelegenheit, einen Überblick über die beste verfügbare Evidenz für die Sturzprophylaxe und -behandlung bei selbständig lebenden älteren Menschen zu geben [8]. Auf Empfehlungen zur Sturzprävention im stationären Umfeld und in Langzeitpflegeeinrichtungen sowie für Personen mit bestimmten Erkrankungen (zum Beispiel Morbus Parkinson) wird in diesem Artikel nicht eingegangen, Interessierte finden Informationen dazu im Quellenartikel [8].

Prinzip der Versorgung

Der vorgeschlagene Vorgehensansatz (Abb. 1) umfasst zwei Etappen: 1. Stratifizierung des Sturzrisikos; 2. passende Interventionen je nach Risikogruppe, die Primär- (Verringerung des Sturzrisikos), Sekundär- (Verringerung des Risikos eines erneuten Sturzes) und Tertiärprophylaxe (Verringerung der Folgen im Falle eines erneuten Sturzes) verbinden.
Abbildung 1: Algorithmus zur Bewertung und Handhabung des Sturzrisikos bei selbstständig lebenden älteren Menschen (aus [8]: Montero-Odasso M, van der Velde N, Martin FC, Petrovic M, Tan MP, Ryg J, et al.; Task Force on Global Guidelines for Falls in Older Adults. World guidelines for falls prevention and management for older adults: a global initiative. Age Ageing. 2022;51:1–36. Nachdruck und Übersetzung mit freundlicher Genehmigung.).
© The Author(s) 2022. Published by Oxford University Press on behalf of the British Geriatrics Society, CC BY-NC 4.0

Risikostratifizierung

Jede Konsultation eines älteren Menschen sollte als Gelegenheit gesehen werden, um mindestens einmal pro Jahr sein Sturzrisiko auf der Grundlage zweier Informationen einzuschätzen:
in den vorangegangenen zwölf Monaten erlittene Stürze;
Bewertung der Gehfunktion und des Gleichgewichts.
Zur routinemässigen Anamnese sollte gehören, sich nach einem allfälligen Sturz in den zwölf vorangegangenen Monaten zu erkundigen, auch wenn die Sensitivität (rund 45%) und die Spezifität (rund 83%) dieser Frage mässig sind (positive respektive negative Likelihood Ratio 2,7–2,9 respektive 0,7) [9]. Das Stellen von drei Fragen (Abb. 1) steigert die Sensitivität auf rund 69%, allerdings auf Kosten der Spezifität, die auf rund 58% sinkt [9]. Bei über 85-Jährigen ist die Sensitivität der Einzelfrage (67,1%) und der drei Fragen (95,5%) indes besser.
Wenn die Konsultation speziell aufgrund einer Sturzverletzung erfolgt, die Person mehrere Stürze angibt, die Gebrechlichkeitskriterien erfüllt (das heisst einen Wert ≥4 auf der «Clinical Frailty Scale» [CFS] [10] aufweist) oder nicht in der Lage war, eigenständig aufzustehen, wird das Rezidivrisiko jedenfalls als hoch angesehen. Legen Hinweise den Verdacht auf einen synkopalen Sturz nahe, sind kardiologische Untersuchungen in Betracht zu ziehen.
Sind die Kriterien eines schweren Sturzes nicht erfüllt (Abb. 1), lassen sich durch Einschätzung der Gehfunktion und des Gleichgewichts Personen mit mittlerem Risiko identifizieren, falls die Gehgeschwindigkeit unter <0,8 m/s liegt (das heisst, dass sie über 5 s benötigen, um 4 m zurückzulegen) oder alternativ der «Timed Up and Go»-Test (TUG, Abb. 2) in über 15 s absolviert wird [8, 9, 11].
Ist dies nicht der Fall, wird das Sturzrisiko als gering eingestuft.
Abbildung 2: «Timed Up and Go»-Test (TUG). Die Person wird gebeten, von einem Stuhl aufzustehen, 3 m in ihrem Tempo zu gehen, umzudrehen und sich erneut hinzusetzen [11].

Interventionen

Geringes Risiko

Das Sturzrisiko dieser Personen wird auf 20–30% innert eines Jahres geschätzt [12]. Auch wenn der Evidenzgrad mässig ist, sollten sie als Primärprophylaxe allgemeine Ratschläge erhalten (etwa durch die Beratungsstelle für Unfallverhütung [BFU] [13]) und zu regelmässiger Bewegung ermuntert werden (zum Beispiel 150–300 min/Woche mit mässiger Intensität [14]). Diese Personen sind jedes Jahr erneut zu beurteilen.

Mittleres Risiko

Diese Gruppe gibt nicht mehr als einen Sturz an, ohne Kriterien für einen schweren Sturz, allerdings ist die Gehfunktion beeinträchtigt. Ein (individuelles oder in Gruppen absolviertes) Programm spezieller Übungen zur Muskelstärkung und zum Gleichgewichtstraining sollte den Betroffenen empfohlen und in ihren Alltag integriert werden. Derartige Programme verringern die Zahl der Stürze um 23% (95-%-KI 0,71–0,83) und der Gestürzten um 15% (95-%-KI 0,81–0,89); dies entspricht einer Anzahl der notwendigen Behandlungen («number needed to treat» [NNT]), um einen Sturz zu verhindern oder um eine Person vor einem Sturz zu schützen, von 11 [15]. Auch die Zahl der Frakturen kann durch die Programme um 27% gesenkt werden.

Hohes Risiko

Bei diesen Personen muss im Rahmen einer systematischen und strukturierten Bewertung (Abb. 3) durch eine Gesundheitsfachperson abgeklärt werden, ob intrinsische (direkt mit den Erkrankungen der Person verbundene), extrinsische (mit der Medikation und der Umwelt verbundene) und situationsbezogene (mit Risikotätigkeiten und -gewohnheiten verbundene) Risikofaktoren vorliegen [8, 12].
Abbildung 3: Die wichtigsten intrinsischen, extrinsischen und situationsbezogenen Faktoren, die mit erhöhtem Sturzrisiko verbunden sind (nach [12]).
OR: «Odds Ratio»; 95-%-KI: Konfidenzintervall 95%; N. v.: nicht verfügbar.
Das Sturzrisiko nimmt mit der Anzahl dieser Faktoren zu und der Grundsatz lautet, unter Voraussetzung des Einverständnisses der Person auf jeden beeinflussbaren Faktor einzuwirken, um das Risiko künftiger Stürze zu verringern. Dieser gezielte Interventionsplan sollte individuell abgestimmt sein und neben dem Risikoprofil die Prioritäten und Vorlieben der Person berücksichtigen. Im Idealfall ist die Betreuung multidisziplinär (Medizin, Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Pharmakologie usw.). Eine eingehende Darstellung aller evidenzbasierten Empfehlungen ist im Quellenartikel zu finden [8], in diesem Artikel hier werden nur die wichtigsten diskutiert.
Dieser strukturierte Ansatz ermöglicht es, die Zahl der Gestürzten um 20–30% und die Zahl der Stürze um 30–40% zu verringern; dies entspricht 11 vermiedenen Stürzen pro 100 Behandelte pro Jahr [12, 16–18]. Auch wenn es schwierig bleibt, den jeweiligen Beitrag der einzelnen Komponenten dieser Interventionen zu identifizieren, sind Bewegung (Kräftigung, Gleichgewicht, Tai Chi usw., mindestens 3×/Woche während mindestens 12 Wochen), Neubewertung der Medikation (Dosisreduktion oder Absetzen von Psychotropika und Hypnosedativa usw.) sowie Anpassung des Schuhwerks und der Gehhilfe zentrale Elemente der Programme, die sich als wirksam erwiesen haben.
Andere Interventionen erwiesen sich als isoliert oder kombiniert wirksam im Rahmen dieser mehrere Bereiche abdeckenden Interventionsprogramme, insbesondere die Adaptierung der Wohnungseinrichtung (Verringerung des Sturzrisikos um 21% und bis zu 39%, 95-%-KI 21–53%, bei Personen mit hohem Risiko, NNT = 4) [16, 19], die Behandlung der mit Stürzen assoziierten Begleiterkrankungen (orthostatische Hypotonie, Katarakt usw.) sowie der Angst vor Stürzen [20]. Vitamin D (800–1000 IE/Tag) ist bei Gebrechlichen (CFS ≥5) wegen hohen Mangelrisikos weiterhin indiziert.
Bei Personen mit hohem Risiko, bei denen das Risiko eines neuen Sturzes im Verlauf eines Jahres bis zu 70% beträgt, ist eine Tertiärprophylaxe angezeigt, die die Behandlung einer allfälligen Osteoporose (besonders beim Mann!) und Alarmsysteme kombiniert. In dieser Gruppe werden Neubeurteilungen in verkürzten Intervallen (30–90 Tage) empfohlen.

Schlussfolgerungen

Ab dem 65. Lebensjahr sollte die Abklärung des Sturzrisikos Teil der klinischen Routineuntersuchung sein. Ältere Menschen mit geringem Risiko sollten allgemeine Prophylaxe-Ratschläge erhalten und zu regelmässiger Bewegung ermuntert werden. Ältere Menschen mit mittlerem Risiko sollten an ein spezielles Bewegungsprogramm in der Gemeinde verwiesen werden. Bei älteren Menschen mit hohem Risiko schliesslich sollten individuell abgestimmte, multifaktorielle Interventionen umgesetzt werden, die auf ihre Risikofaktoren abzielen.
Prof. Dr. med. Christophe J. Büla
Service de gériatrie et de réadaptation gériatrique, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne
Der Autor hat deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Prof. Dr. med. Christophe J. Büla
Service de gériatrie et réadaptation gériatrique
Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV)
Chemin de Mont-Paisible 16
CH-1011 Lausanne
1 https://ind.obsan.admin.ch/indicator/obsan/stuerze (Zugriff am 21. Oktober 2021)
2 Hartholt KA, van Beeck EF, van der Cammen TJM. Mortality from falls in Dutch adults 80 years and older, 2000-2016. JAMA 2018;319:1380–2.
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