Digitale Gesundheitskompetenz – Schlüssel zur digitalen Transformation
Schlaglicht: Prävention und Public Health /Gesundheitswesen

Digitale Gesundheitskompetenz – Schlüssel zur digitalen Transformation

Medizinisches Schlaglicht
Ausgabe
2023/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09371
Swiss Med Forum. 2023;23(19):40-42

Affiliations
a Institut für Public Health, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Winterthur; b Medizinische Fakultät, Universität Basel, Basel

Publiziert am 10.05.2023

Der Public-Health-Forschung und -Praxis kommt die Rolle zu, Risiken und Chancen der digitalen Transformation des Gesundheitswesens zu adressieren und dabei neue digitale Gesundheitsdeterminanten wie zum Beispiel die digitale Gesundheitskompetenz zu berücksichtigen.

Einführung

Die digitale Transformation der Gesellschaft macht vor den Türen des Gesundheitssystems nicht halt. Digitale Technologien werden auf allen Ebenen eingeführt, im Patientendatenmanagement, bei interner und externer Kommunikation, in Gesundheitsförderung und Prävention bis hin zu Diagnostik und Therapien.
Den Begriff elektronische oder digitale Gesundheit gibt es bereits seit über 20 Jahren [1]. Im Vergleich dazu ist Digital Public Health ein junger Begriff, der erstmals im Jahr 2017 in der «Public Health Digital Strategy» des Vereinigten Königreichs genannt wurde [2]. Während Digital Health sich auf die Anwendung und das Potential der digitalen Technologien für die Gesundheit und die Gesundheitsversorgung von Patientinnen und Patienten bezieht, hat Digital Public Health die Bevölkerung und das Gesundheitssystem insgesamt im Blick. Offensichtliche Schnittstellen (Abb. 1) liegen zum Beispiel bei einem zentralen Public-Health-Thema, der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit, vor.
Abbildung 1: Digital Health und Digital Public Health (adaptiert nach [5]: Wienert J, Jahnel T, Maaß L. What are Digital Public Health Interventions? First Steps Toward a Definition and an Intervention Classification Framework. J Med Internet Res. 2022;24(6):e31921. doi: 10.2196/31921. ©Julian Wienert, Tina Jahnel, Laura Maaß. Originally published in the Journal of Medical Internet Research [ https://www.jmir.org ], 28.06.2022, under the terms of the CC BY 4.0 license [ https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 /]). eHealth: «electronic health»; mHealth: «mobile health».
Die COVID-19-Pandemie hat zudem gezeigt, wie wichtig eine parallele Entwicklung der digitalen Infrastruktur für Kommunikation und Datenaustausch in der Versorgung der Patientinnen und Patienten und den Public-Health-Organisationen ist, um funktionale und effiziente Abläufe und Informationsaustausch sicherzustellen. COVID-19 hat auch die Diskussion der digitalen Chancengerechtigkeit und der digitalen Gesundheitskompetenz neu entfacht [3, 4].
Hierbei kommt Digital Public Health eine wichtige Aufgabe zu. Es liegt in der Tradition von Public Health, gesundheitliche Auswirkungen von Verhalten und Verhältnissen zu studieren, evidenzbasierte Empfehlungen abzuleiten und umzusetzen. Es ist naheliegend, dass Digital Public Health digitale Gesundheitsdeterminanten und Folgen der digitalen Transformation für die Bevölkerungsgesundheit adressiert [6]. Die digitale Gesundheitskompetenz ist eine digitale Gesundheitsdeterminante, die sich, in dem Masse wie der digitale Wandel voranschreitet und die Komplexität der Technologien und Anwendungen zunimmt, als eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Digitalisierung des Gesundheitssystems herausstellen mag.

Definition der digitalen Gesundheitskompetenz [9]

Digitale Gesundheitskompetenz
… eine dynamische und kontextspezifische Anzahl individueller und sozialer Faktoren sowie die Berücksichtigung technologischer Einschränkungen bei der Nutzung digitaler Technologien für die Suche, den Erwerb, das Verstehen, die Bewertung, die Kommunikation, die Anwendung und die Kreation von Gesundheitsinformationen in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung mit dem Ziel, die Lebensqualität über die gesamte Lebensspanne hinweg zu erhalten oder zu verbessern.
(Übersetzung durch die Autorin aus [9]: Griebel L, Enwald H, Gilstad H, Pohl AL, Moreland J, Sedlmayr M. eHealth literacy research – Quo vadis? Inform Health Soc Care. 2018;43(4):427–42. doi: 10.1080/17538157.2017.1364247.) © 2017 Taylor & Francis, Nachdruck und Übersetzung mit freundlicher Genehmigung.)

Digitale Gesundheitskompetenz

Was genau unter digitalen Gesundheitskompetenzen zu verstehen ist, ist aufgrund der kontinuierlichen technologischen Entwicklungen nicht abschliessend zu definieren [1]. Eine der ersten Definitionen [7] beruhte auf dem Konzept der Gesundheitskompetenz [8], Informationen zu suchen, zu verstehen, kritisch zu beurteilen und anzuwenden. Eine aktuellere Definition ([9], siehe Kasten) schliesst dagegen den Kontext und die individuellen und sozialen Faktoren mit ein. Neuere Definitionen der digitalen Gesundheitskompetenz berücksichtigen auch die prosumierende Rolle der Bevölkerung, die nicht nur digital konsumiert, sondern zunehmend Inhalte produziert und Informationen teilt. Auch bei der digitalen Gesundheitskompetenz geht es nicht mehr nur um individuelle Kompetenzen, sondern um die Frage, wie digital kompetent das Gesundheitssystem ist und wie beide, Bevölkerung und System, interagieren [10].
Das erste wissenschaftlich validierte Instrument zu Messung der digitalen Gesundheitskompetenz, eHEALS, stammt von Norman und Skinner [7] (Abb. 2). Wenngleich die darin enthaltenen Grundkompetenzen Bestand haben, müssen viele dieser «literacy»-Kompetenzen den gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen entsprechend erweitert werden (Abb. 2). Am offensichtlichsten mag die Erweiterung um neue Medien («social media literacy») und digitale Geräte («digital device literacy») sein. Neuere Messinstrumente enthalten auch interaktive und motivationale Faktoren [11] sowie Datenschutz- («privacy literacy») und Navigationskompetenz («navigation literacy») [12]. Das Netzwerk «Measuring Population and Organizational Health Literacy» (M-POHL) unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa hat 2018 aufbauend auf Norman und Skinner [7] und Van der Vaart [12] einen Digital-Health-Fragebogen entwickelt, der Fragen zu Umgang mit digitalen Informationen, Interaktion mit digitalen Ressourcen und Nutzung der digitalen Medien enthält [13].
Abbildung 2: Adaptiertes Lilly-Model [7]. Grundkompetenzen nach Norman und Skinner [7] – weisse Schrift, neue Kompetenzen – schwarze Schrift.

Wie digital kompetent ist die Schweizer Bevölkerung?

Über die digitale Gesundheitskompetenz der Schweizer Bevölkerung liegen bereits einige Daten vor [14, 15]. Laut dem Nationalen Gesundheitskompetenz Survey hatte im Frühling 2020 ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung (72%) häufig Schwierigkeiten im Umgang mit Online-Gesundheitsinformationen und -angeboten und 44% wiesen eine mangelhafte digitale Gesundheitskompetenz aus [14]. Zunehmendes Alter, soziale Unterstützung, finanzielle Deprivation sowie der selbsteingeschätzte soziale Status waren mit der digitalen Gesundheitskompetenz negativ korreliert. Vergleichbare Ergebnisse wurden in anderen europäischen Ländern gefunden [16]. In Deutschland haben Schaeffer et al. [17] die digitale Gesundheitskompetenz vor und während der Corona-Pandemie gemessen. Der Anteil geringer digitaler Gesundheitskompetenz lag vor der Corona-Pandemie bei 75,8%, und insbesondere bei Personen >65 Jahre (86,0%), mit tiefem Bildungsstatus (86,7%) oder mit mindestens einer chronischen Erkrankung (86,2%) höher [17]. Durch Corona hat sich die digitale Gesundheitskompetenz geringfügig verbessert, vor allem bei Jüngeren. Gemäss dem eHealth Barometer, das seit 2015 den aktuellen Stand und die Entwicklung von eHealth in der Schweiz erhebt, nutzten 2022 77% der befragten Bürgerinnen und Bürger das Internet, um sich zu Gesundheitsthemen zu informieren, und ein Grossteil der Bevölkerung verwendet oder kennt eine digitale Gesundheits-Applikation oder wäre bereit, eine solche zu verwenden [15]. Zudem wurde ein hoher subjektiver Weiterbildungsbedarf der befragten Gesundheitsfachpersonen zum Thema eHealth ermittelt [15].

Digitale Gesundheitskompetenz, die «Super-Gesundheitsdeterminante»

Die digitale Gesundheitskompetenz wurde bereits als «Super-Gesundheitsdeterminante» bezeichnet [18]. Auf der einen Seite ist sie mit klassischen Gesundheitsdeterminanten, zum Beispiel Bildung und sozioökonomischem Status, assoziiert. Auf der anderen Seite erschwert eine tiefe digitale Gesundheitskompetenz in einer zunehmend digitalen Gesellschaft den Zugang zu vielen gesundheitsrelevanten Sektoren, Informationen und Angeboten. Digitale Gesundheitskompetenz kann einen wesentlichen Beitrag zur digitalen Chancengerechtigkeit leisten [3, 19]. Eine kürzlich erschienene Publikation formuliert Empfehlungen zur Stärkung der digitalen Chancengerechtigkeit in der Forschung, die sich auch auf die Praxis übertragen lassen. Eine der Empfehlungen lautet, einen Schwerpunkt auf digitale Gesundheitskompetenz und gesellschaftliche Teilhabe an der Transformation zu legen. Weiter wird empfohlen: 1. Chancengerechtigkeit und unterversorgte Gruppen in den Mittelpunkt zu stellen, 2. Hindernisse für Zugang, Akzeptanz und Nutzung digitaler Angebote zu reflektieren und abzubauen, 3. ethische Ansätze in der Erhebung und Nutzung digitaler Gesundheitsdaten sicherzustellen und 4. Grenzen und Risiken digitaler Daten und Anwendungen kritisch zu reflektieren.
Abschliessend macht die Diskussion um die digitale Gesundheitskompetenz deutlich, dass Digital Public Health deutlich mehr als die Verwendung neuer digitaler Technologien zur Erreichung althergebrachter Ziele ist. Die digitale Transformation wirft Fragen und Herausforderungen auf und birgt neue Chancen und Risiken, die von der Public-Health-Forschung und der Public-Health-Praxis adressiert werden.
Prof. Dr. med. Julia Dratva
Institut für Public Health, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Winterthur; Medizinische Fakultät, Universität Basel, Basel
Die Autorin ist Präsidentin der Gesellschaft der Fachärztinnen und -ärzte in Prävention und Public Health.
Prof. Dr. med. Julia Dratva
Institut für Public Health
ZHAW Gesundheit
Katharina-Sulzer-Platz 9
CH-8400 Winterthur
julia.dratva[at]zhaw.ch
1 Oh H, Rizo C, Enkin M, Jadad A. What Is eHealth (3): A Systematic Review of Published Definitions. Journal of Medical Internet Research. 2005;7(1):e1.
2 UK Goverment. Digital-first public health: Public Health England’s digital strategy [Internet]. London, UK; 2017 Feb [zitiert 5. Januar 2023]. Verfügbar unter: https://www.gov.uk/government/publications/digital-first-public-health/digital-first-public-health-public-health-englands-digital-strategy
3 Richardson S, Lawrence K, Schoenthaler AM, Mann D. A framework for digital health equity. npj Digit Med. 2022;5(1):119.
4 Figueroa CA, Murayama H, Amorim PC, White A, Quiterio A, Luo T, et al. Applying the Digital Health Social Justice Guide. Front Digit Health. 2022;4:807886.
5 Wienert J, Jahnel T, Maaß L. What are Digital Public Health Interventions? First Steps Toward a Definition and an Intervention Classification Framework. J Med Internet Res. 2022;24(6):e31921.
6 Odone A, Buttigieg S, Ricciardi W, Azzopardi-Muscat N, Staines A. Public health digitalization in Europe. European Journal of Public Health. 2019;29(Supplement_3):28–35.
7 Norman CD, Skinner HA. eHEALS: The eHealth Literacy Scale. J Med Internet Res. 2006;8(4):e27.
8 Nutbeam D. Health literacy as a public health goal: a challenge for contemporary health education and communication strategies into the 21st century. Health promotion international. 2000;15(3):259–67.
9 Griebel L, Enwald H, Gilstad H, Pohl AL, Moreland J, Sedlmayr M. eHealth literacy research – Quo vadis? Informatics for Health and Social Care. 2018;43(4):427–42.
10 Norgaard O, Furstrand D, Klokker L, Karnoe A, Kayser L, Osborn RH. The e-health literacy framework: A conceptual framework for characterizing e-health users and their interaction with e-health systems. Knowledge Management & E-Learning. 2015;7(4)(4):522–40.
11 Kayser L, Karnoe A, Furstrand D, Batterham R, Christensen KB, Elsworth G, et al. A Multidimensional Tool Based on the eHealth Literacy Framework: Development and Initial Validity Testing of the eHealth Literacy Questionnaire (eHLQ). J Med Internet Res [Internet]. 12. Februar 2018 [zitiert 29. Januar 2019];20(2). Verfügbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5826975/
12 van der Vaart R, Drossaert C. Development of the Digital Health Literacy Instrument: Measuring a Broad Spectrum of Health 1.0 and Health 2.0 Skills. J Med Internet Res. 2017;19(1):e27.
13 HLS19 Consortium. Factsheet: HLS 19-DIGI Instrument to measure Digital Health Literacy [Internet]. 2022. Verfügbar unter: https://m-pohl.net/sites/m-pohl.net/files/inline-files/Factsheet%20HLS19-DIGI.pdf
14 DeGani S, Jaks R, Bieri U, Hocher JPh. Health Literacy Survey Schweiz 2019-2021. Schlussbericht im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Zürich: Careum Stiftung; 2021 Sep.
15 Golder L, Grez T, Burgunder T, Rey R. Schlussbericht eHealth Barometer 2022 [Internet]. Bern; 2022 März. Verfügbar unter: https://e-healthforum.ch/studienergebnisse-2022-2/
16 HLS19 Consortium of the WHO Action Network M-POHL. International Report on the Methodology, Results, and Recommendations of the European Health Literacy Population Survey 2019-2021 (HLS19) of M-POHL. Vienna; 2021.
17 Schaeffer D, Berens EM, Gille S, Griese L, Klinger J, de Sombre S, et al. Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland vor und während der Corona Pandemie: Ergebnisse des HLS-GER 2 [Internet]. Universität Bielefeld, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung; 2021 [zitiert 5. Januar 2023] S. 5180909 bytes. Verfügbar unter: https://pub.uni-bielefeld.de/record/2950305
18 Sieck CJ, Sheon A, Ancker JS, Castek J, Callahan B, Siefer A. Digital inclusion as a social determinant of health. npj Digit Med. 2021;4(1):52.
19 Jaworski BK, Webb Hooper M, Aklin WM, Jean-Francois B, Elwood WN, Belis D, et al. Advancing digital health equity: Directions for behavioral and social science research. Translational Behavioral Medicine. 2022;ibac088.