Der 22-jährige Student stellte sich neun Wochen nach initialem Trauma, bei welchem er sich eine zweitgradig offene Unterschenkelschaftfraktur rechts zugezogen hatte, zur Zweitmeinung vor.
Hintergrund
Unterschenkelschaftfrakturen entstehen zumeist im Rahmen eines Hoch-Energie-Traumas. Durch die enge Beziehung der Tibia und der Fibula ist eine gleichzeitige Fraktur beider häufig und die Standardversorgung mittels eines intramedullären Kraftträgers oder einer Plattenosteosynthese führt zumeist zu einer raschen Ausheilung. Biomechanisch und hinsichtlich Weichteilschädigung wird die Marknagelung favorisiert [1].
Allerdings kann die anatomische Reposition bei der Unterschenkelmarknagelung schwierig sein und ist eng mit dem operationstaktischen Vorgehen verknüpft. Persistierende Deformitäten nach einem Trauma können durch Veränderung der Statik zu Folgeschäden wie Schmerzen, Funktionseinschränkungen, verzögerter Frakturheilung oder Arthrose führen.
Rotationsfehler und Achsenfehlstellungen gehören neben Pseudoarthrosen im Frakturbereich zu den häufigeren längerfristigen Komplikationen. In der Literatur werden Rotationsfehlstellungen mit bis zu 20% und Achsenfehlstellungen mit 6% nach intramedullärer Nagelung angegeben [2, 3]. Werden postoperativ Fehlstellung im ausgewachsenen Skelett nachgewiesenen, so kann eine operative Korrektur notwendig werden. Argumente für eine Korrektur können die o.g. Folgeschäden sein. Bei mehrfragmentären oder Defektfrakturen kann zudem eine sekundäre Knochentransplantation notwendig werden, wenn keine ausreichende biologische Regenerationsfähigkeit vorhanden ist.
Fallbericht
Anamnese
Der 22-jährige Student stellte sich neun Wochen nach initialem Trauma bei uns in der Klinik zur Zweitmeinung vor. Er war mit dem Mountainbike im Ausland gestürzt und hatte sich dabei eine zweitgradig offene Unterschenkelschaftfraktur rechts zugezogen. Es erfolgte die Versorgung der Fraktur im Ausland mittels intramedullärem Kraftträger. Die Weichteilsituation war stets unter Kontrolle und konnte zur Ausheilung gebracht werden. Eine Vorstellung bei uns erfolgte, weil der Patient und seine Eltern das Gefühl hatten, dass das Bein «anders stehen» würde und weil man ihm auch nach neun Wochen noch davon abgeraten hatte, das Bein zu belasten.
Status
Patient in gutem Allgemeinzustand. Die Narbe über der initial offenen Fraktur zeigte sich reizlos. Eine Rötung, Schwellung, Überwärmung oder andere Anzeichen für einen Infekt im Bereich der Versorgung bestanden klinisch nicht. Schmerzen wurden vom Patienten ebenfalls verneint. Bei klinischer Betrachtung zeigte die Grosszehe rechts bei gebeugtem Knie etwas nach aussen.
Befunde
Im Röntgenbild des Unterschenkels zeigte sich bereits eine valgische Achsenfehlstellung von 6 Grad (Abb. 1). Die computertomographisch gesicherte Rotationskontrolle zeigte eine Aussenrotationfehlstellung im Seitenvergleich von 20 Grad (Abb. 2). Weder im konventionellen Bild noch im CT konnte eine Konsolidation über der Fraktur festgestellt werden.
Diagnose
Nach Synopsis der Befunde stellten wir die Diagnose einer postoperativen Rotations- und Achsenfehlstellung nach Versorgung mit einem intramedullären Kraftträger bei Status nach offener Unterschenkelschaftfraktur Grad II rechts.
Therapie
Ein hohes Risiko für Arthrose auf Grund der veränderten Statik, Schmerzen und Einschränkung der Funktion durch die Deformität und zuletzt auch kosmetische Überlegungen haben einen Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen eine Revisionsoperation. Es finden sich aktuell in der Literatur folgende Toleranzbereich für Deformitäten an der Tibia: Valgus/Varus >5°, >5° Innenrotation und >10° Aussenrotation sowie eine Verkürzung des betroffenen Beines >1 cm [4, 5].
Dem Patienten und der Familie wurde aus den bereits oben erwähnten Gründen zu einer operativen Korrektur der Fehlstellung geraten. Wir besprachen mit ihnen die verschiedenen Optionen, welche sich in der Invasivität und Verwendung von zusätzlichen Interponaten unterschieden (Tab. 1). Zusammen mit der Familie haben wir uns dann für die minimale Version entschieden. Hierbei wurde bei Valgusfehlstellung ein medialisierter Eintrittspunkt gewählt. Die Tibia wurde auf der gesamten Länge aufgebohrt und ein grösserer Nagel wurde gewählt, mit dem Ziel durch Transport von Knochenmehl in den Bereich des Frakturspalts eine autogene Spongiosatransplantation zu erreichen. Die Varuskorrektur wurde zudem durch eine Poller-Schraube gesichert, welche, lateral des Nagels von anterior nach posterior eingebracht, eine erneute Abweichung des Nagels nach lateral blockiert. Es folgte zuerst die distale Verriegelung eines nun weiter nach distal reichenden Nagels, die Korrektur der Rotation über den Nagel und schliesslich die proximale Verriegelung. Die Verriegelung erfolgte statisch.
Tabelle 1: Übersicht über die verschiedenen Behandlungsoptionen.
Der unmittelbare postoperative Verlauf stellte sich komplikationslos dar. Die oben beschriebenen Fehlstellungen konnten behoben werden, was auch klinisch gut sichtbar war (Abb. 3). In der postoperativen Röntgenkontrolle zeigte sich, dass die Achsenabweichung zufriedenstellend korrigiert wurde (Abb. 4A). Eine sekundäre Knochentransplantation wurde erwogen, bei Nachweis von Kallusbildung aber verworfen (Abb. 4B).
Diskussion
Dieser Fall illustriert, dass für eine Korrektur der Deformität auch ein kleiner minimal-invasiver Eingriff – wie in diesem Fall über einen neu eingebrachten Nagel – ausreichen kann. Intramedulläre Kraftträger werden bereits zusammen mit anderen Fixationsmethoden verwendet, um angeborenen Deformitäten zu korrigieren [6]. Unseres Wissens gibt es jedoch sehr wenig Erfahrungsberichte über die direkte Korrektur einer posttraumatischen/postoperativen Deformität mittels eines Tibia-Nagels.
Ebenfalls wird demonstriert, dass für die Konsolidation im Frakturspalt eine Korrektur der Achse und Stabilisierung durch einen grossvolumigeren Nagel ausreicht und nicht zwingend autologer bzw. heterologer Knochen oder anderes Knochenersatzmaterial verwendet werden müssen. Eine erneut geschlossene Korrektur schützt den Weichteilmantel und fördert, durch autogene Spongiosatransplantation, die Knochenheilung.
Voraussetzung für diese Vorgehensweise ist jedoch eine fehlende Konsolidation im Bereich des Frakturspaltes. Bereits in Fehlstellung verheilte Frakturen können über dieses Verfahren nicht korrigiert werden und bedürfen offene Eingriffe mittels den entsprechenden Korrekturosteotomien.
Kritisch diskutiert werden muss, dass präoperativ keine Achsenstandaufnahmen unter Belastung zum Vergleich der Statik im Seitenvergleich erfolgt ist. Bei nicht konsolidierter Fraktur wurde die Achsenfehlstellung anhand der Frakturfragmente sowie des intraoperativen Seitenvergleichs unter Durchleuchtung kontrolliert. Ganzbeinaufnahmen im Seitenvergleich werden jedoch durch die Autoren zur präoperativen Planung empfohlen [7]. Weiter ist zur Bilanzierung der Rotationskorrektur eine postoperative Computertomographie sinnvoll, wurde in diesem Fall jedoch durch den Patienten bei deutlicher klinischer Besserung abgelehnt.
Das Wichtigste für die Praxis
• Bei symptomatischer Rotationsfehlstellungen nach Versorgung von Schaftfrakturen sowie Rotationsfehlstellung >10° erscheint nach Literaturlage eine Korrektur sinnvoll.
• Zur exakten Analyse, insbesondere bei kombinierten Fehlstellungen (Achse und Rotation), ist eine Computertomographie in Kombination mit konventioneller biplanarer Bildgebung (Achsenstandaufnahme bei Belastung) zielführend.
• Bei Nachweis einer korrekturbedürftigen Fehlstellung ist eine zeitnahe Korrektur technisch einfacher und mit einer Verkürzung des Heilungsverlaufes verbunden als eine Korrektur nach erfolgter knöcherner Heilung in Fehlstellung.
Verdankung
Die Autoren danken Dr. David Lackner, Clinical Associate Professor, University of Pittsburgh, für die Zurverfügungstellung des radiologischen Bildmaterials.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Correspondance
Simon Tiziani, dipl. Arzt Assistenzarzt Klinik für Traumatologie UniversitätsSpital Zürich Rämistrasse 100 CH-8091 Zürich simon.tiziani[at]usz.ch
Literatur
1 Melvin JS, Dombroski DG, Torbert JT, Kovach SJ, Esterhai JL, Mehta S. Open tibial shaft fractures: II. Definitive management and limb salvage. J Am Acad Orthop Surg. 2010;18(2):108–17.
2 Puloski S, Romano C, Buckley R, Powell J. Rotational malalignment of the tibia following reamed intramedullary nail fixation. J Orthop Trauma. 2004;18(7):397–402.
3 Obremskey WT, Cutrera N, Kidd CM. A prospective multi-center study of intramedullary nailing vs casting of stable tibial shaft fractures. J Orthop Traumatol. 2017;18(1):69–76.
4 Engsberg J, Leduc S, Ricci W, Borrelli J, Jr. Improved function and joint kinematics after correction of tibial malalignment. Am J Orthop (Belle Mead NJ). 2014;43(12):E313–8.
5 Santoro D, Tantavisut S, Aloj D, Karam MD. Diaphyseal osteotomy after post-traumatic malalignment. Curr Rev Musculoskelet Med.2014;7(4):312–22.
6 Bilen FE, Kocaoglu M, Eralp L, Balci HI. Fixator-assisted nailing and consecutive lengthening over an intramedullary nail for the correction of tibial deformity. J Bone Joint Surg Br. 2010;92(1):146–52.
7 Lichte P, Kobbe P, Lorken M, Pape HC. [Planning of corrective osteotomies of the lower limb]. Unfallchirurg.2010;113(7):573–83, quiz 584.