Contenu principal
In einer alternden Gesellschaft gewinnen chronische Krankheiten an Bedeutung; immer mehr Menschen werden an ihrem Lebensende über Monate bis Jahre auf eine intensive medizinische Unterstützung und Begleitung angewiesen sein. In diesem Kontext ist die Kompetenz von Hausärztinnen und -ärzten im Bereich der Palliative Care von hohem Stellenwert.
Hintergrund
Erst in den letzten zehn Jahren wurden in den Schweizer Universitäten Curricula geschaffen, die es angehenden Ärztinnen und Ärzten ermöglichen, sich eingehend auf dem Gebiet der Palliative Care auszubilden. Die Mehrheit der heute praktizierenden Hausärztinnen und -ärzte wurden in ihrer Weiterbildungszeit zwar mit entsprechenden Problemen (oder Fragestellungen) konfrontiert, Einzug in die Weiterbildungsprogramme der FMH hat Palliative Care aber erst in den letzten Jahren gehalten und dies auch nur punktuell und regional sehr unterschiedlich [1]. Daher ist es wichtig, in Erfahrung zu bringen, welche Gebiete der Palliative Care Hausärztinnen und -ärzte als bedeutsam erachten, in welchen Bereichen sie sich sicher fühlen und wo in der Aus-, Weiter- und Fortbildung Nachholbedarf besteht. Systematische Untersuchungen aus anderen Ländern bestehen nur wenige. Vor einem Jahrzehnt waren in den USA beispielsweise Schmerz- und Symptomkontrolle, Kommunikation und Vorbereitung auf den Tod wichtige Themen für Hausärztinnen und -ärzte [2]; Ausbildungsinteressen in Palliative Care betrafen vor allem Aspekte der Schmerz- und Symptomkontrolle wie zum Beispiel Opioidverschreibung, die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen, aber auch den Gebrauch von Infusionspumpen.
Offensichtlich erachten Hausärztinnen und -ärzte weltweit ihre Kompetenz in den somatischen Bereichen und in der Kommunikation als besonders wichtig. Die Europäische Gesellschaft für Palliative Care (EAPC) betont allerdings in ihrem vor acht Jahren publizierten Grundlagenpapier, dass palliative Kompetenz darin besteht, auf körperliche, soziale, psychologische und spirituelle Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einzugehen [3], auch oder gerade in der Grundversorgung.
Neben der Vermittlung von Wissen und Können im Bereich der Palliative Care in der Aus- und Weiterbildung müssen auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es Hausärztinnen und -ärzten ermöglichen, ihre Patientinnen und Patienten am Lebensende zu betreuen. In Australien geben 25% der Hausärztinnen und -ärzte an, sich bei fortgeschrittenen Palliativsituationen aus der Behandlung zurückzuziehen, weil sie sich nicht in der Lage sehen, Hausbesuche anzubieten, weil sie in den oft komplexen Betreuungssituationen nicht adäquat unterstützt werden und weil die zeitintensive Betreuung nicht mit ihren familiären Verpflichtungen vereinbar sind.
Zielsetzung und Hypothese
Ziel der vorliegenden Erhebung1 war es, in Erfahrung zu bringen
– welche Kompetenzen im Bereich der Palliative Care Schweizer Hausärztinnen und -ärzte als wichtig und welche sie als weniger wichtig erachten;
– in welchen Gebieten sie sich sicher fühlen und in welchen weniger;
– welche Gründe sie veranlassen könnten, Patientinnen und Patienten nicht mehr weiterzubehandeln und sie beispielsweise einzuweisen oder von Spezialärztinnen und -ärzten weiterbetreuen zu lassen.
Methodik
Auf Basis von in der Literatur etablierten Qualitätskriterien und von im Rahmen desselben Forschungsprojektes durchgeführten Interviews mit 23 Hausärztinnen und -ärzten, drei Fokusgruppen von Pflegenden in drei Sprachregionen (deutsch, französisch, italienisch) der Schweiz sowie Interviews mit acht Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörigen entstand ein 14-seitiger Fragebogen, der durch zehn Hausärztinnen und -ärzte auf seine Validität und Verständlichkeit in der Anwendung geprüft wurde. Dieser Fragebogen wurde an eine Stichprobe von 2000 Hausärztinnen und -ärzten aus der Adressdatei der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) verschickt. Es wurde darauf geachtet, eine repräsentative Stichprobe auszuwählen in Bezug auf demographische (Geschlecht und Altersklasse) sowie geographisch/kulturelle Charakteristika (Sprache).
Die Hausärztinnen und -ärzte wurden gebeten, auf einer fünfstufigen Likert-Skala anzugeben, wie wichtig (sehr wichtig – unwichtig) sie die verschiedenen Palliative-Care-Kompetenzen erachten respektive wie sicher (sehr sicher – unsicher) sie sich in denselben fühlten. Zudem konnten sie ebenfalls auf einer fünfstufigen Likert-Skala (trifft völlig zu – trifft gar nicht zu) Gründe angeben, weswegen sie sich vorstellen könnten, eine Patientin oder einen Patienten am Lebensende nicht mehr selbst weiterzubetreuen, sondern an eine Spezialistin/einen Spezialisten oder eine Klinik weiterzuweisen.
Statistische Analyse
Die Charakteristika des befragten Kollektivs und die Antworten in den einzelnen Bereichen wurden mittels deskriptiver Statistik untersucht.
Multivariate Regressionsanalysen wurden durchgeführt, um den Einfluss von demographischen und beruflichen Variablen auf die durchschnittliche Sicherheit in allen Palliative-Care-Kompetenzen zu eruieren. Ebenso wurden die Gründe, weswegen man sich vorstellen könnte, eine Palliativpatientin / einen Palliativpatienten nicht mehr weiterzubetreuen, mittels multivariater Regression analysiert.
Als Prädiktoren wurden verwendet: Alter, Geschlecht, Arbeitspensum, Praxisgrösse, Anzahl Konsultationen pro Halbtag, Anzahl Hausbesuche pro Monat und eine spezifische Weiterbildung in Palliative Care. Zusätzlich wurden die Modelle kontrolliert für Sprachregion und Praxisregion.
Wichtigste Ergebnisse
Insgesamt haben 579 Hausärztinnen und -ärzte aus vier Sprachregionen der Schweiz den Fragebogen ausgefüllt (deutsch = 77%, französisch = 17%, italienisch = 5%, rätoromanisch = 1%), was einem Rücklauf von 31% entspricht [4]. Obwohl eine deutliche Mehrheit der Befragten Patientinnen und Patienten am Lebensende betreute (80–82%), hatte nur ein geringer Anteil eine spezifische berufliche Weiterbildung im Bereich Palliative Care absolviert (14%).
Welche Kompetenzen erachten Hausärztinnen/ -ärzte als wichtig und in welchen Bereichen fühlen sie sich kompetent?
Schweizer Hausärztinnen und -ärzte erachteten für die Betreuung ihrer Patientinnen und Patienten am Lebensende eine medizinische Kompetenz im Bereich der Schmerz- und Symptombehandlung als ausserordentlich wichtig (Abb. 1). Als nahezu ebenso bedeutsam bewerteten sie die folgenden psychosozialen Fähigkeiten: ihre Patientinnen und Patienten bei wichtigen Entscheidungen am Lebensende zu unterstützen, schwierige Gespräche mit ihnen und/oder ihren Angehörigen zu führen, den Angehörigen beizustehen. Auch gewisse juristische und ethische Kompetenzen wurden als wichtig erachtet, wie zum Beispiel die Beratung von Patientinnen und Patienten mit der Bitte um Begleitung und Unterstützung im Rahmen eines assistierten Suizids oder beim Erstellen von Patientenverfügungen. Ausserdem wurden organisatorische Fähigkeiten wie die Koordination einer vernetzen Versorgung besonders wichtig eingestuft.
Hausärztinnen und -ärzte sollten aus Sicht der Hälfte der Befragten zudem auch in der Lage sein, Menschen aus fremden Kulturen im Sterben kompetent zu begleiten und den spirituellen Bedürfnissen ihrer Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Nur die Ernährungsberatung schien weniger als der Hälfte (35%) der Befragten wichtig zu sein.
Was ihre eigenen Palliative-Care-Fähigkeiten betrifft, fühlen sich die befragten Ärztinnen und Ärzte im Bereich der Schmerz- und Symptombehandlung sehr sicher (Abb. 2). Als deutlich weniger kompetent schätzen sie sich selbst ein, wenn sie schwierige Gespräche über Suizidwünsche führen, auf spirituelle Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten eingehen oder Menschen aus fremden Kulturen am Lebensende kompetent unterstützen sollten. Die multivariaten Analysen ergaben, dass ein höheres Alter der Ärztinnen und Ärzte, die Häufigkeit von Hausbesuchen, die Arbeit in einer Gruppenpraxis (vs. Einzelpraxis) und eine spezifische Weiterbildung in Palliative Care mit erhöhter Sicherheit in sämtlichen Palliative-Care-Kompetenzen einhergehen.
Weshalb könnten Schweizer Hausärztinnen/ -ärzte sich vorstellen, Palliativpatientinnen/ -patienten nicht mehr weiterzubetreuen?
Zeitmangel (30%), höhere Kompetenz von Spezialistinnen/Spezialisten (23%) und Inkompatibilität mit anderen Verpflichtungen (19%) wurden als häufigste Gründe angegeben, Palliativpatientinnen und -patienten nicht weiterzubetreuen (Abb. 3). Die multivariaten Analysen ergaben, dass diejenigen Hausärztinnen und -ärzte, die sich eher nicht vorstellen können, Palliativpatienten in andere Hände zu übergeben, tendenziell über 60 Jahre alt sind, vergleichsweise viele Konsultationen pro Halbtag durchführen und sich insgesamt in allen Kompetenzbereichen der Palliative Care sicherer fühlen als ihre Kolleginnen und Kollegen, die dazu neigen, ihre Patientinnen am Lebensende nicht mehr weiterzubetreuen.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Die Erhebung wurde zu grossen Teilen bei Hausärztinnen und -ärzten vorgenommen, die keine strukturierte Aus- und Weiterbildung auf dem Gebiet der Palliative Care genossen haben. Immerhin scheint es so zu sein, dass aktuell praktizierende Schweizer Hausärztinnen und -ärzte insgesamt «nichtsomatische» Kompetenzen wie das Erstellen von Patientenverfügungen, die Beratung von Menschen mit einem Wunsch nach assistiertem Suizid, das Eingehen auf spirituelle Bedürfnisse und auch die Betreuung von Menschen aus fremden Kulturen an deren Lebensende als nahezu ebenso wichtig erachten wie die Kompetenz in den Bereichen der Palliative Care wie Schmerz- und Symptomkontrolle. In diesen «nichtsomatischen» Kompetenzen fühlen sie sich aber deutlich unsicherer als in den somatischen Bereichen. Daher ist sicher in der Planung von Fortbildungen für praktizierende Hausärztinnen und -ärzte ein besonderes Augenmerk auf diese ethischen, juristischen und spirituellen Kompetenzen zu richten. Ebenso müssen die im Entstehen begriffenen Palliative-Care-Curricula und -Weiterbildungsprogramme vor dem Hintergrund der in dieser Studie erhobenen Befunde nochmals kritisch angesehen werden. Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es Hausärztinnen und -ärzten ermöglichen, ihre Patientinnen und Patienten auch am Lebensende weiterzubetreuen. Hierfür bedarf es neben der adäquaten Aus-, Weiter- und Fortbildung auch der Bereitstellung von zeitlichen Ressourcen mit entsprechender finanzieller Abgeltung. Hausbesuche als ein wesentliches Element der Palliative Care sollten gefördert werden und, was für die jüngere Generation wichtig ist, Familienbetreuungsmodelle sind zu unterstützen, die es jüngeren Ärztinnen und Ärzten erlauben, trotz familiärer Verpflichtungen ihre Patientinnen und Patienten in dieser vulnerablen Lebensphase weiterhin hausärztlich zu betreuen.
doi: 10.1371/journal.pone.0170168.
All authors report grants from the Swiss National Science Foundation (NFP 67), during the conduct of the study. Furthermore, DMH reports grants from Edmond Safra, during the conduct of the study. In addition, all authors have a patent <a href="http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0170168" target="_blank" class="extlink url">doi: 10.1371/journal.pone.0170168</a>. eCollection 2017 licensed to Plos One.
Image d'en-tête: © Monkey Business Images | Dreamstime.com
PD Dr. med. Klaus Bally
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel | uniham-bb
Kantonsspital Baselland
Rheinstr. 26
CH-4410 Liestal
klaus.bally[at]unibas.ch
Published under the copyright license
“Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”.
No commercial reuse without permission.