Pneumaturie bei invasiv wachsendem Kolonkarzinom
Anamnese ist wichtig!

Pneumaturie bei invasiv wachsendem Kolonkarzinom

Fallberichte
Édition
2018/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/fms.2018.03379
Forum Med Suisse. 2018;18(49):1046-1048

Affiliations
Spital Limmattal, Schlieren
a Chirurgie; b Urologie

Publié le 05.12.2018

Ein 65-jähriger Patient wurde bei komplizierten Harnwegsinfekten und vor fünf Monaten einmalig aufgetretener Pneumaturie zur urologischen Abklärung zugewiesen.

Hintergrund

Pneumaturie, der Luftabgang bei der Miktion, kann Leitsymptom verschiedener Ursachen sein (Tab. 1) und sollte immer Anlass für eine erweiterte Abklärung geben. Bei Diagnosestellung weisen rund 10% der kolorektalen Karzinome ein lokal fortgeschrittenes Stadium mit Infiltration der umgebenden Organe auf [1]. Befindet sich ein solches Karzinom im Colon sigmoideum oder im proximalen Rektum, sind vor allem die Harnblase, die weiblichen Adnexe sowie der Dünndarm von der Tumorinfiltration betroffen [2]. Leitsymptome einer möglichen Tumorinfiltration in die Harnblase können die Hämaturie oder die Pneumaturie sein, wobei in beiden Fällen eine Zystoskopie durch den Urologen sowie eine abdominale Computertomographie (CT) mit Kontrastmittel durchgeführt werden sollten [3]. Des Weiteren sind allfällige vorgängige Manipulationen wie zum Beispiel eine Katheterisierung oder Ähnliches zu erfragen und eine Urinanalyse auf Mikroorganismen zu veranlassen.
Tabelle 1: Mögliche Ursachen für das Auftreten ­einer ­Pneumaturie (kein Anspruch auf Vollständigkeit).
IatrogenZystoskopie
Dauerkatheter
Blasenspülung
Gasbildende ­MikroorganismenBakterien
Pilze
FistelnKolovesikal
Enterovesikal
Vesikovaginal
Aus aktuellem Anlass eines interessanten Falles möchten wir im Folgenden auf das Leitsymptom der Pneumaturie aufmerksam machen.

Fallbericht

Anamnese

Ein 65-jähriger Patient wurde bei komplizierten Harnwegsinfekten und vor fünf Monaten einmalig auf­getretener Pneumaturie zur urologischen Abklärung zugewiesen. Die Miktion beschreibt der Patient als subjektiv beschwerdefrei ohne bisheriges Auftreten ­einer Hämaturie. Neu aufgetreten in den letzten Monaten sind gehäufte Episoden von Diarrhöe und ein ­gewisser Gewichtsverlust. In der Anamnese findet sich ein einmaliger Schub einer Sigmadivertikulitis vor etwa zehn Jahren. Die Familienanamnese bezüglich kolorektalen Karzinomen oder Kolonpolypen ist unauffällig.

Befunde

Sonographisch zeigte sich in der urologischen Erstuntersuchung eine 7 × 8 cm messende paravesikale Raumforderung, welche die Harnblase zu infiltrieren schien. In der Zystoskopie imponierte am Übergang der Blasenhinterwand zum Blasenboden eine solide Raumforderung mit Fibrinauflagerungen (Abb. 1).
Abbildung 1: Zystoskopischer Befund der angedeutet papillär-­soliden Raumforderung am Übergang von der ­Blasenhinterwand zum Blasenboden.
In der durchgeführten CT zeigte sich ein rektosigmoidal gelegener, sub-stenosierender Tumor mit Infiltration der Harnblase und vergrösserten lokoregionären Lymphknoten (Abb. 2). Zusätzliche Organveränderungen, die zum Beispiel auf eine Metastasierung des Prozesses verdächtig wären, bestanden nicht.
Abbildung 2: Computertomographischer Befund mit Verdacht eines stenosierenden Darmprozesses mit Infiltration der Harnblase und möglicherweise lokoregionärer Lymphknotenmetastasierung (mit bestem Dank für die Genehmigung zur Publikation an PD Dr. Silke Potthast, Chefärztin Radiologie, Spital Limmattal).
Der CEA-Wert lag bei 4,9 μg/l (Norm <5 μg/l). Endoskopisch konnte die Tumorstenose im Sigma nicht passiert werden, die histologischen Proben zeigten schwere Epitheldysplasien, hochgradig suggestiv auf ein Adenokarzinom des Kolons.

Therapie und Diagnose

Nach Besprechung des Falles am interdisziplinären ­Tumorboard, insbesondere mit Anwesenheit der Urologie und kolorektalen Chirurgie, wurde die Indikation für ein beschleunigtes operatives Vorgehen bei hochgradigem Verdacht auf ein Kolonkarzinom gestellt und durchgeführt. Dabei wurden zunächst laparoskopisch die Arteria und Vena mesentericae inferiores zentral abgesetzt, die linke Kolonflexur komplett mobilisiert und das Kolon am descendo-sigmoidalen Übergang abgesetzt. Bei der weiterführenden Exploration über eine mediane Laparotomie zeigte sich die Harnblase massiv zu zwei Dritteln, inklusive des Trigonumbereiches, infiltriert, so dass ein harnblasenerhaltendes Vorgehen nicht möglich war. So erfolgte eine En-bloc-Resektion des Sigmas, des proximalen Rektums mit partieller mesorektaler Exzision und der Harnblase inklusive Prostata (Zystoprostatovesikulektomie [Abb. 3]). Die Harnableitung wurde durch die Anlage eines Ileum-Conduits gewährleistet, was zuvor mit dem Patienten als Möglichkeit besprochen worden war. Zur Wiederherstellung der Kontinuität des Dickdarmes erfolgte eine primäre Deszendorektostomie. Bei initial stenosierender Raumforderung mit konsekutiver Dilatation des proximalen Kolonanteils wurde protektiv eine doppelläufige Transversostomie angelegt.
Abbildung 3: Operationspräparat mit dem Sigmakarzinom und anhaftendem Kolon und Harnblase.
Histologisch bestätigte sich im Resektat eine ausgedehnte Infiltration eines mässig differenzierten Adenokarzinoms der Kolonschleimhaut mit Infiltration aller Darmwandschichten und des perikolischen Fettgewebes bis in die Harnblase. Im perikolischen Fettgewebe fanden sich mehrere Satellitenknoten und eine Blut­gefässinvasion wurde nachgewiesen. Zusätzlich bestand eine ausgeprägte peritumorale, chronisch granulierende und teils akute, eitrig-abszedierende Entzündung. Es zeigten sich tumorfreie Resektatränder sowie 41 tumorfreie Lymphknoten (0/41).
Daraus ergab sich folgende Tumorklassifikation: (Version 8 UICC [«Union internationale contre le cancer»]) pT4b, pN1c1 (0/41), L0, V1, Pn0, G2, R0.
Zusammenfassend handelte es sich um ein langstreckiges, stenosierendes Sigmakarzinom mit kontinuierlichem Einwachsen in die Harnblase (UICC-Stadium IIIC).

Verlauf

Postoperativ konnte der Patient bei insgesamt pro­blemlosem Verlauf am 11. postoperativen Tag entlassen werden. In der Komplettierungskoloskopie fanden sich keine synchronen Tumore. Die protektive Transversostomie konnte vier Wochen später problemlos rückverlegt und somit die Darmkontinuität wieder vollständig hergestellt werden.
Aufgrund des UICC-Stadium IIIC wurde am interdiszi­plinären Tumorboard die Indikation für eine adjuvante Chemotherapie gestellt. Somit wurde vier Wochen nach Wiederherstellung der Darmkontinuität eine adjuvante Therapie mit XELOX (Fluorouracil, Oxaliplatin) in acht Zyklen über insgesamt sechs Monate initiiert. Bei fehlender Fernmetastasierung wurde von einer Therapie mit Bevacizumab abgesehen.

Diskussion

Der vorliegende Fall illustriert die Wichtigkeit der Anamnese im klinischen Alltag. Bei diesem Patienten mit lokal fortgeschrittenem Sigmakarzinom mit Harnblaseninfiltration waren die rezidivierenden komplizierten Harnwegsinfekte zusammen mit der Pneumaturie das Leitsymptom. Daraufhin erfolgte die Zuweisung in die urologische Sprechstunde mit der diagnoseweisenden Zystoskopie. Trotz stenosierenden Sigmakarzinoms mit angedeuteter paradoxer Diarrhoe kam es zu keiner weiteren klinisch relevanten Passagestörung. Dem Patienten waren auch kein Blutabgang ab ano und auch keine Hämaturie aufgefallen.
In diesem Fallbeispiel bietet sich bei fehlender Fernmetastasierung bei lokal fortgeschrittenem Kolonkarzinom ein primär kuratives Therapiekonzept an. Mohan et al. konnten in einem systematischen Review zeigen, dass bei fehlenden Fernmetastasen die vollständige, wenn nötig multiviszerale Tumorresektion anzustreben ist, da eine R0-Resektion den grössten Langzeitüberlebensvorteil bringt [4]. In der Serie von Winter et al. zeigte sich bei R0-Resektion und negativem Nodalstatus ein 5-Jahres-Überleben von 72% und lediglich 26% bei R0-Resektion und positivem Nodalstatus. Histologisch fand sich bei unserem Patienten trotz des organüberschreitenden Wachstums keine Lymphknotenmetastasierung. Durch das radikale chirurgische Vorgehen konnte eine R0-Resektion erreicht werden. Mit der zusätzlichen adjuvanten Chemotherapie mit XELOX kann trotz des fortgeschrittenen UICC-Stadiums ein gutes Langzeit-Überleben erwartet werden [5].

Das Wichtigste für die Praxis

• Rezidivierende Harnwegsinfektionen bei Männern sind ungewöhnlich und sollten aufhorchen lassen. Die Pneumaturie sollte in diesem Falle, und insbesondere bei Verdacht auf ein entzündliches oder malignes Geschehen im kleinen Becken, aktiv erfragt und muss bei einem Vorliegen zeitnah urologisch abgeklärt werden.
• Kolorektale Tumoren mit Infiltration der Harnblase sind eher selten mit einer Prävalenz von <7% [1], haben aber bei R0-Resektion und nodal negativem Status eine gute Prognose. Dementsprechend sollte bei fehlender Fernmetastasierung auch bei fortgeschrittenem kolorektalem Karzinom eine vollständige, unter Umständen multiviszerale Tumorresektion angestrebt werden.
• Eine gute interdisziplinäre Planung und gemeinsame Durchführung des Eingriffs zwischen Urologen und Viszeralchirurgen ist bei multiviszeralen Resektionen unabdingbar.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Julian Süsstrunk
Chirurgische Klinik
Spital Limmattal
Urdorferstrasse 100
CH-8952 Schlieren
julian.suesstrunk[at]spital-limmattal.ch
1 Winter DC, Walsh R, Lee G, Kiely D, Riordain M, Sullivan G. Local Involvement of the Urinary Bladder in Primary Colorectal Cancer: Outcome with En-Bloc Resection. Ann Surg Oncol. 2007;14(1):69–73.
2 Campos FG, Calijuri-hamra MC, Imperiale AR, Kiss DR, Nahas SC, Cecconello I. Locally Advanced Colorectal Cancer: results of surgical treatment and prognostic factors. Arq Gastroenterol. 2011;(4):270–5.
3 Woranisarakul V, Ramart P, Phinthusophon K, Prapasrivorakul S, Lohsiriwat V. Accuracy of Preoperative Urinary Symptoms , Urinalysis , Computed Tomography and Cystoscopic Findings for the Diagnosis of Urinary Bladder Invasion in Patients with Colorectal Cancer. Asian Pacific J Cancer Prev. 2014;15:7241–4.
4 Mohan HM, Evans MD, Larkin JO, Beynon J. Multivisceral Resection in Colorectal Cancer : A Systematic Review. Ann Surg Oncol. 2013;(May):2929–36.
5 Genovesi D, Cèfaro GA, Vinciguerra A, Augurio A, Alessandro MD, Borzillo V, et al. Retrospective long-term results and prognostic factors of postoperative treatment for UICC stages II and III rectal cancer. Tumori. 2009;675–82.