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Die Artikel in der Rubrik «Richtlinien» geben nicht unbedingt die Ansicht der SMF-Redaktion wieder. Die Inhalte unterstehen der redaktionellen Verantwortung der unterzeichnenden Fachgesellschaft bzw. Arbeitsgruppe; in vorliegendem Artikel handelt es sich um die Schweizerische Neurologische Gesellschaft (SNG).
Einleitung
Die Diagnostik und die Behandlung von Gehirnerschütterungen im Sport (engl. «sport-related concussion») haben sich in den letzten Jahren substantiell verändert und verbessert. Dennoch werden die betroffenen Sportlerinnen und Sportler oftmals unzureichend abgeklärt und nicht – oder nur mit der Empfehlung zu körperlicher Ruhe – behandelt [1].
Die Gehirnerschütterung im Sport wird durch direkte oder indirekte Krafteinwirkung (Schlag) gegen den Kopf verursacht [2]. Durch die Krafteinwirkung können das Gehirn, seine umgebenden knöchernen Strukturen, das vestibuläre Labyrinth, das Auge inklusive der Augenmuskeln und das zervikale Rückenmark inklusive umgebender Strukturen betroffen sein. Daher ist neben der Abgrenzung zum moderaten und schweren Schädel-Hirn-Trauma (SHT) die Identifizierung der betroffenen Systeme für das therapeutische Vorgehen von entscheidender Bedeutung.
Der vorliegende Artikel gibt eine Übersicht über diagnostische und therapeutische Handlungsempfehlungen für Neurologinnen und Neurologen. Die Empfehlungen stützen sich auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zu Kopfverletzungen [3], Gehirnerschütterungen im Sport [2, 4] und leichtem SHT [5, 6]. Die Übersicht berücksichtigt internationale und nationale Leitlinien des britischen «National Institute for Health and Care» (NICE) [3], der «American Academy of Neurology» (AAN) [4], der «American Medical Society for Sports Medicine» (AMSSM) [7], der «Concussion in Sport Group» (CISG) [2, 8–10] und von Sportverbänden (z.B. «World Rugby» [11], «National Football League» [12], «National Hockey League» [13], «English Ice Hockey Federation» [14], «Parachute Canada» [15], «Water Polo Canada» [16]).
Definition und Klassifikation
Die Definition und Klassifikation der Gehirnerschütterung im Sport sind uneinheitlich [17]. In der internationalen Klassifikation von Erkrankungen (ICD-10) wird die Gehirnerschütterung im Sport als eine Form der Gehirnverletzung definiert, die mit einem kurzzeitigen Verlust der normalen Gehirnfunktion als Reaktion auf eine Kopfverletzung einhergeht. Die AMSSM definierte sie als eine «traumatisch induzierte transiente Störung der Gehirnfunktion, die einen komplexen pathophysiologischen Prozess beinhaltet» (Übersetzung der Verfasser) [7]. Als zugrunde liegender pathophysiologischer Vorgang werden Veränderungen auf zellulärer (neuronaler/glialer) Ebene und Funktionsstörungen von neuronalen Netzwerken angenommen [7, 17, 18].
Im Kontext der SHT wird die Gehirnerschütterung im Sport dem leichten SHT zu- beziehungsweise untergeordnet [7, 19]. Die objektive Abgrenzung der Gehirnerschütterung im Sport zum moderaten oder schweren SHT erfolgt durch konventionelle tomographische Bildgebung (Computertomographie [CT], Magnetresonanztomographie [MRT] vom Gehirn), die nach einer Gehirnerschütterung keine strukturellen Schäden zeigen [2, 17]. Durch verbesserte Bildgebungen und Nachbearbeitungsverfahren lassen sich heutzutage auch beim leichten SHT in den ersten Tagen nach Trauma axonale Scherverletzungen nachweisen. Allerdings werden diese Verfahren zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht standardisiert durchgeführt und sind noch Gegenstand von Studien [5, 20].
Anzumerken gilt, dass im angloamerikanischen Raum ein auffälliges MRT mit milden klinischen Auffälligkeiten dem leichten SHT zugeordnet und als «complicated mild traumatic brain injury» benannt werden kann [21].
Symptome
Eine Gehirnerschütterung kann zu vielfältigen Symptomen führen, die nach einigen Minuten, aber auch erst nach Stunden oder Tagen auftreten können. Häufige Symptome sind Konzentrationsstörungen (40–90%) [22], Kopfschmerzen (70–80%) [23], Schwindel und Gleichgewichtsstörungen (37–81%) [24, 25], Nackenschmerzen (20–50%) [24], Sehstörungen (20%) [26], Müdigkeit (20–50%) [24] und autonome Funktionsstörungen (20–60%) [27, 28]. Die Gehirnerschütterung im Sport führt in der Regel zu keiner Bewusstlosigkeit [1, 7].
Die meisten Symptome einer Gehirnerschütterung sind unspezifisch und können auch durch assoziierte Verletzungen benachbarter Strukturen beziehungsweise Systeme verursacht sein (s. Tab. S1 im Online-Appendix des Artikels) [29]. Eine klare Zuordnung aller relevanten posttraumatischen Symptome auf jeweils nur eine Struktur oder ein System ist nicht immer möglich. Eine Zuordnung sollte jedoch – insbesondere bei anhaltenden oder zunehmenden Symptomen oder Befunden – im Rahmen einer sorgfältigen interdisziplinären Diagnostik versucht werden, da die Ergebnisse zu unterschiedlichen therapeutischen Massnahmen führen können und einige Symptome, wie zum Beispiel Kopfschmerzen und Schwindel, als Prädiktoren für eine Persistenz von Symptomen gelten [30–32].
Diagnostik
Die Erstdiagnostik nach einer Kopfverletzung im Sport erfolgt in den meisten Fällen durch den/die Team- oder Wettkampfarzt/-ärztin, der/die die Rolle des «Case»-Managers übernimmt. Im Rahmen der Erstdiagnostik muss er/sie den Entscheid treffen, ob (a) unmittelbares Notfallmanagement und Transport zum Krankenhaus erforderlich ist, (b) der Sportler / die Sportlerin aus dem aktuellen Wettkampf/Training genommen werden muss («when in doubt set him/her out») [11] oder (c) der Sportler / die Sportlerin weiter Sport treiben kann. Klinische Expertise im Hinblick auf Differentialdiagnosen von Kopfverletzungen und deren Erstversorgung ist zur Ausübung dieser Rolle essentiell [33].
Bei Vorliegen eines der folgenden Symptome oder Befunde («red flags») muss notfallmässig durch den/die Team- oder Wettkampfarzt/-ärztin eine Zuweisung an das nächstliegende Spital erfolgen: jegliche Art der Bewusstlosigkeit, «Glasgow Coma Scale» (GCS) <15, Krampfanfall, anhaltende (anterograde oder retrograde) Amnesie, anhaltende Desorientiertheit/Verwirrtheit, Dysbalance mit Sturztendenz, anhaltender und/oder hochintensiver Kopfschmerz, Erbrechen, vertikale Doppelbilder, Spontannystagmus, Hörminderung/-verlust, Pupillendifferenz, fokal-neurologisches Defizit, Hinweise auf eine Weichteil- beziehungsweise knöcherne Verletzung oberhalb des Clavicula-Niveaus (z.B. Gesichts-/Schädelfraktur oder Halswirbelsäulenverletzung), Antikoagulation [5, 6, 34].
Das Notfallmanagement nach Kopfverletzungen muss klaren Prinzipien und standardisierten Massnahmen folgen, wie zum Beispiel dem «Advanced Trauma Life Support» (ATLS) oder wie in den Europäischen Trauma-Kursen beschrieben [3]. Ebenfalls sollte die Indikation für weitere Notfall-Diagnostik, insbesondere CT-Bildgebung, anhand standardisierter Entscheidungsregeln erfolgen (abgebildet z.B. durch NICE [3] / CHIP-Regel [35] / LTHV-Dokumentationsbogen Erstversorgung1 [35–37]).
Bewusstlosigkeit jeglicher Dauer oder ein GCS unter 15 können auf eine schwerere Gehirnerschütterung beziehungsweise ein moderates oder schweres SHT hindeuten. Das bedeutet, dass der betroffene Sportler / die betroffene Sportlerin das Training, den Wettkampf oder das Spiel abbrechen muss und nicht am selben Tag wiederaufnehmen darf [2].
Da Symptome oder Befunde auch verzögert auftreten können, sollten alle Sportlerinnen und Sportler nach einer Kopfverletzung 24 Stunden von einer zuverlässigen Person (z.B. auch aus dem Familien-/Bekanntenkreis) im Hinblick auf eine klinische Verschlechterung oder das Neuauftreten von Symptomen/Befunden engmaschig beobachtet werden [2].
Innerhalb von drei Tagen sollte der/die Team- oder Wettkampfarzt/-ärztin den betroffenen Sportler / die betroffene Sportlerin erneut untersuchen, um den Verlauf beurteilen und um gegebenenfalls weitere Massnahmen einleiten zu können. Bei Vorliegen einer der in der Tabelle S1 (s. Online-Appendix des Artikels) gelisteten Symptome oder Befunde sollte eine klinische Triage-Untersuchung durch einen/eine in der Diagnostik von Gehirnerschütterung erfahrene/n neurologische/n Facharzt/-ärztin oder einen/eine in der neurologischen Untersuchung/Beurteilung erfahrene/n Arzt/Ärztin erfolgen. Wenn keine dieser Symptome oder Befunde vorliegen, soll eine kontrollierte stufenweise Wiederaufnahme von Sport, Schule und Beruf eingeleitet werden. Dieses strukturierte Vorgehen gilt auch bei Sportlerinnen und Sportlern, die ein unbeobachtetes Kopf-Trauma erlitten haben und sich erst mit Latenz bei ihrem Team-, Haus- oder Vertrauensarzt vorstellen.
Mithilfe einer gründlichen klinisch-neurologischen Untersuchung kann der Neurologe / die Neurologin eine klare Differentialdiagnose als Folge der Kopfverletzung stellen und individuell fokussierte Zusatzuntersuchungen zur Abklärung der Ursachen und Lokalisationen der bestehenden Symptome veranlassen. Diese Methode der klinisch gelenkten Untersuchung ist nicht nur kosteneffizient, sondern reduziert auch die Wahrscheinlichkeit falsch positiver Ergebnisse [33].
Wenn kombinierte Symptome, zum Beispiel Kopfschmerz, Gedächtnisstörungen, Schwindel, Hörstörungen und Sehstörungen, auftreten, ist eine Abklärung durch ein auf Gehirnerschütterungen spezialisiertes, multidisziplinäres medizinisches Team empfohlen [33]. Während dieser Untersuchung wird festgelegt, ob (a) zugewartet werden kann, (b) Zusatzuntersuchungen indiziert sind oder (c) frührehabilitative Massnahmen eingeleitet werden sollten. Im Entscheidungsprozess gilt zu beachten, dass «Zuwarten» ein aktives Beobachten (sog. «active surveillance») beinhaltet, da – wie bereits erwähnt – die Gehirnerschütterung ein dynamischer Prozess ist, dessen Symptome sich im Verlauf neu entwickeln oder verändern können.
Zusatzuntersuchungen durch Fachspezialistinnen und Fachspezialisten dienen der adäquaten diagnostischen Einordnung von Kopfschmerzen [38], Müdigkeit [25], vestibulären, visuellen, auditiven, kognitiven, emotionalen oder zervikogenen Symptomen und Befunden (s. Tab. S2 im Online-Appendix des Artikels) [1, 7, 24, 32].
Anhand des Leitsymptoms Schwindel, der nach Kopfschmerzen am häufigsten nach einem Kopftrauma auftritt [24, 25] soll beispielhaft das diagnostische Vorgehen beschrieben werden. Schwindel oder Benommenheit nach einem Kopftrauma kann sowohl vestibulären als auch anderen Ursprungs sein, da die Kontrolle von Körper- und Blickstabilität auf einer multisensorischen Integration von vestibulären, visuellen, propriozeptiven und weiteren Signalen beruht. Die Identifizierung des genauen Pathomechanismus ist komplex, aber unerlässlich für die korrekte Therapieplanung.
Sportlerinnen und Sportler mit persistierendem Schwindel oder Benommenheitsgefühl nach einer Kopfverletzung leiden oft an einer kombinierten peripheren und zentralen Funktionsstörung. Als Folge können zentrale Mechanismen der Kompensation von peripher-vestibulären Defiziten beeinträchtigt sein [39]. Häufige Befunde bei Sportlerninnen und Sportlern mit anhaltenden Symptomen nach einer Gehirnerschütterung sind visuell induzierter Schwindel und visuelle Dominanz der Gleichgewichtskontrolle, die sich beide als Folge einer unbewussten vestibulären Vermeidungsstrategie entwickeln.
Apparativ gestützte (elektrophysiologische) Untersuchungen können den differentialdiagnostischen Prozess im Hinblick auf die Auswahl therapeutischer Optionen wesentlich verbessern. Bei anhaltendem Schwindel oder verschwommenem Sehen / Nebelsehen sind neben den bekannten klinischen Basisuntersuchungen (Spontannystagmus/Blickrichtungsnystagmus, horizontaler Kopf-Impuls-Test, Testung der vertikalen Divergenz («test of skew»), Romberg-Test, Provokationsmanöver zur Identifikation von Lagerungsschwindel/-nystagmus) zusätzliche vestibuläre Tests unerlässlich. Ziel dieser Untersuchungen ist es, peripher-vestibuläre Defizite zu identifizieren oder auszuschliessen. Die apparativ gestützte vestibuläre Untersuchung besteht typischerweise aus: Video-Kopf-Impuls-Test aller Bogengänge (V-KIT), dynamische Sehschärfe (DVA) oder funktioneller Kopf-Impuls-Test (f-KIT), zervikale und okuläre vestibulär evozierte myogene Potenziale (cVEMP, oVEMP), subjektive visuelle Vertikale (SVV), Fundusfotografie, kalorische Tests, okulomotorische Tests (Sakkaden, Blickfolge, optokinetischer Nystagmus, Erfassung von Spontan-, Blickrichtungs-, Positions-, Kopfschüttel- und Vibrationsnystagmus).
Symptombasierte Differentialdiagnose
Einige posttraumatische Symptome oder Befunde sind spezifisch für eine Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems, wie zum Beispiel Gedächtnisstörungen, Verwirrtheit oder vertikaler Nystagmus, und deuten auf eine Gehirnerschütterung oder auf eine schwerere Form des SHT hin [2, 17, 24].
Im Folgenden werden die wichtigsten Differentialdiagnosen innerhalb der verschiedenen Systeme beschrieben.
Schmerz
Die Ursachen von Kopfschmerzen können vielfältige sein, zum Beispiel zerebral (wie Migräne oder Spannungstyp), zervikal (biomechanisch, myofaszial oder neural/nerval [24, 40]), temporomandibulär [24], und sollten nach internationalen Kriterien diagnostiziert werden [38]. Bei einem posttraumatischen Kopfschmerz ist ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Trauma anzunehmen.
Retroorbitale Schmerzen können durch eine okuläre Verletzung, eine Funktionsstörung der oberen Halswirbelsäule («referred pain») oder des temporomandibulären Gelenks verursacht werden. Bei der Frage nach Vorliegen einer Funktionsstörung der oberen Halswirbelsäule sollte eine neuro-muskuloskelettale Untersuchung erfolgen [24].
Migräne-Kopfschmerzen gehen nicht selten mit Nausea einher. Diese kann aber unabhängig davon durch eine Gleichgewichtsstörung [41] verursacht sein. Durch ein Kopftrauma kann es zu einer Aktivierung einer vorbestehenden Migräne kommen. Wesentlich ist es, eine Kopfschmerzchronifizierung durch den Übergebrauch akut wirksamer Schmerzmittel zu erkennen [38].
Vestibuläre Symptome
Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen können durch eine peripher-vestibuläre Störung (Labyrinth, vestibulärer Nerv), durch eine zentrale vestibuläre Schädigung im Rahmen der Gehirnerschütterung [24, 41–43] oder durch andere Beeinträchtigungen (wie eine autonome Dysregulation, Dehydrierung, zervikale Funktionsstörungen [44] etc.) verursacht werden. Wenn Gleichgewichtsstörungen vorherrschen, sind weitere Untersuchungen der posturalen Kontrolle, des Gehens und der unteren Extremitäten indiziert, um eine zusätzliche vestibulospinale oder somatosensorische Beteiligung sowie eine begleitende Verletzung der Beine nicht zu übersehen [24].
Der kurzzeitige (weniger als einer Minute andauernde) positionsabhängige Drehschwindel ist spezifisch für den benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (BPLS), der posttraumatisch durch abgesprengte Otolithen in den vestibulären Bogengängen (Canalo- oder Cupulolithiasis) verursacht werden kann. Der BPLS kann mit Provokationsmanövern (Hallpike-Manöver für die posterioren oder anterioren Bogengänge, Supine-Roll-Manöver für die horizontalen Bogengänge) unter Beobachtung des positionsabhängigen Nystagmus, am besten unter der Frenzelbrille oder mit Videookulographie, diagnostiziert werden. Die betroffenen Bogengänge können durch entsprechende Befreiungsmanöver leicht von den Konkrementen befreit werden (z.B. Epley-Manöver für die posteriore Canalolithiasis, Gufoni-Manöver für die horizontale Canalolithiasis oder Cupulolithiasis, Yacovino-Manöver für die anteriore Canalolithiasis).
Sich fühlen «wie in einem Lift» kann ein Hinweis auf eine Funktionsstörung der Otolithenorgane sein [45].
Visuelle Symptome
Beschreibt ein Sportler / eine Sportlerin bei schnellen Kopfbewegungen Symptome wie «meine Augen können nicht folgen / sind verlangsamt» oder «verschwommenes Sehen» muss von einer Beeinträchtigung der Blickstabilisierung durch den vestibulookulären Reflex oder der Verarbeitung visueller (optokinetischer) Informationen ausgegangen werden [24]. Ursachen können durch den Video-Kopf-Impulstest [46] und durch die Testung der dynamischen Sehschärfe identifiziert werden [47].
Photophobie oder Lichtempfindlichkeit können durch Störungen innerhalb des Auges (d.h. Pupille, Retina) oder entlang der neurovisuellen Bahnen oder im Rahmen posttraumatischer migräniformer Kopfschmerzen entstehen [48]. «Mouches volantes»-ähnliche Symptome können durch eine okuläre Pathologie, eine gesteigerte Wahrnehmung der physiologischen Glaskörpertrübung oder eine gesteigerte Sensibilität der visuellen Bahnen und des Kortex bedingt sein [49].
Hörsymptome
Lärmempfindlichkeit oder Tinnitus können durch eine Funktionsstörung der Cochlea, bedingt durch eine Commotio oder Contusio cochleae, oder der neuroauditiven Bahnen verursacht werden. Bei Tinnitus ist als Differentialdiagnose die Assoziation zu Funktionsstörungen der Halswirbelsäule und des temporomandibulären Gelenks zu berücksichtigen [50–53].
Symptome des autonomen Nervensystems
Veränderungen in der Herzfrequenz [54] in Ruhe oder während kognitiver [55] oder körperlicher Aktivität [56], Palpitationen, Hyper-/Hypohidrose oder ein vermehrtes «Hitzegefühl» können auf eine autonome zerebrovaskuläre Dysregulation hinweisen. Andere Ursachen, wie das Vorliegen eines bakteriellen oder viraler Infektes, Elektrolyt- oder hormonelle Störungen beziehungsweise vorbestehende Stimmungsstörungen wie Angst oder Depression, sollten vor allem bei anhaltenden Beschwerden differentialdiagnostisch gesucht werden.
Neurokognitive Symptome
Konzentrations- und mnestische Beeinträchtigungen können durch die Gehirnerschütterung selbst verursacht oder Folge anderer Störungen sein. Schwindel zum Beispiel korreliert mit neurokognitiven Beeinträchtigungen und wird als Prädiktor für eine längere Regenerationszeit [57] nach einer Gehirnerschütterung betrachtet. Ebenso wirken sich Schlafstörungen negativ auf die Kognition aus [58].
Affektive/emotionale Symptome
Posttraumatische affektive Symptome sind von vorbestehenden Stimmungsstörungen wie Depression und Angst zu differenzieren [24, 59].
Motorische Symptome
Die anfängliche Unfähigkeit, die Extremitäten zu bewegen, als Ausdruck transienter Lähmungen an zwei oder allen vier Extremitäten können ein Hinweis auf eine spinale Beteiligung (Differentialdiagnose Commotio oder Contusio spinalis) sein. Ein MRT sollte mit der Frage nach spinaler Verletzung eingeleitet werden [60].
Therapie
Eine fundierte Diagnostik bildet die Grundlage für die Empfehlung von adäquaten und aufeinander abgestimmten therapeutischen und rehabilitativen Massnahmen und zur Planung der stufenweisen Rückkehr zum Sport, zur Schule oder zur Arbeit. Es ist empfehlenswert, die Therapie und die Wiederaufnahme der körperlichen und kognitiven Aktivitäten (Sport, Schule und Arbeit) parallel einzuleiten.
Das therapeutische und rehabilitative Vorgehen hat sich in den letzten Jahren substantiell verändert. Während bis ca. 2016 «Ruhe bis Symptomregredienz» verordnet wurde, folgt seit einigen Jahren einer initialen kognitiven und körperlichen Ruhephase (24–48 Stunden) eine kontrollierte Steigerung der körperlichen und kognitiven Aktivität [2, 61]. Hierbei erlangt zunehmend ein symptombasiertes Training im aeroben Bereich eine signifikante Rolle [62].
Der therapeutische Ansatz richtet sich nach den im Vordergrund stehenden Symptomen und Befunden und deren Interpretation. Hierbei sollten für die einzelnen Bereiche standardisierte Methoden und Techniken angewandt werden, die den Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften zu entnehmen sind. Wichtig dabei ist, jedes verordnete Medikament mit dem Antidoping-Reglement (www.antidoping.ch) abzugleichen.
Beim posttraumatischen Kopfschmerz orientiert sich die Therapie an den Leitlinien des phänotypisch korrespondierenden primären oder sekundären Kopfschmerztyps [23, 32]. Kopfschmerzen durch Medikamentenübergebrauch sollten erkannt und adäquat behandelt werden [63].
Bei der Therapie des Schwindels ist zu berücksichtigen, dass – insbesondere bei anhaltenden Symptomen – den vestibulären Symptomen oft eine Kombination von peripheren und zentralen Funktionsstörungen zugrunde liegt [39]. Generell führen Störungen der sensorischen Signale immer zu einer veränderten Funktion der Motorik, was im therapeutischen Vorgehen berücksichtigt werden muss. Konsequenterweise besteht die Frührehabilitation nach Gehirnerschütterung regelmässig aus parallel ablaufenden Therapieprogrammen. Bei Schwindel und Gleichgewichtsstörungen sind es zum Beispiel Canalolith-Befreiungsmanöver und neurorehabilitative Massnahmen zur Verbesserung der Kontrolle des Körperschwerpunkts, der posturalen Stabilität, der Blickstabilität bei aktiven Kopfbewegungen (vestibulookulärer Reflex), zur Desensibilisierung bei gesteigerter visueller (optokinetischer) Sensibilität oder zur Förderung der vestibulären Verarbeitung bei visueller Dominanz mit vestibulärem Vermeidungsverhalten.
Eine Kombination aktiver und passiver Massnahmen ist oftmals sinnvoll. Möglichst rasch sollen Komponenten der Therapie als Heimprogramm durchgeführt werden können. Verhaltenstherapeutische Massnahmen können im Hinblick auf Symptomverarbeitung, Tagesstruktur, Schlafverhalten oder zum Erlernen von Entspannungstechniken hilfreich sein.
Da gerade bei der Gehirnerschütterung in der Regel mehrere unterschiedliche, sich gegenseitig beeinflussende sensorische und motorische Systeme betroffen sind, ist ein durch ein erfahrenes interdisziplinäres Team zusammengestelltes, aufeinander abgestimmtes, multimodales Therapieprogramm für die schnelle Rückkehr zum Sport, zur Schule und zur Arbeit essentiell. Nur so können Therapie-Interaktionen adäquat berücksichtigt und bestehende standardisierte Programme in die Therapieplanung integriert werden.
Rückkehr zum Sport, zur Schule und zur Arbeit
Seit ca. 2017 wird nach einer initialen Ruhephase von 24 bis 48 Stunden eine kontrollierte, stufenweise und symptomlimitierte Wiederaufnahme von Sport, Arbeit und Schule empfohlen [2, 7, 19, 61]. Ein systematisches Vorgehen ist im «Sport Concussion Assessment Tool» (SCAT5©) dargestellt [64], auf Deutsch zu finden unter https://swissconcussion.com/downloads/).
Verlauf und Prognose
Der Verlauf einer Gehirnerschütterung im Sport wird in der Literatur mit spontanem Rückgang der Symptome in 75–90% der Fälle innerhalb von zehn bis 14 Tagen als generell günstig bezeichnet [65, 66]. Bei diesen Angaben sollte jedoch berücksichtigt werden, dass sie auf Studien beruhen, die überwiegend bei American-Football-Spielern durchgeführt wurden und daher wahrscheinlich nicht für alle Patientengruppen zutreffend sind. Zudem wurde in einem Grossteil der Studien der Symptomrückgang unter reduzierter körperlicher Belastung (Stufe 1–2 des Return-to-Sports-Programmes) beurteilt. Kinder, Adoleszente und Sportlerinnen haben einen längeren Verlauf [67].
Wichtigste Punkte zur Gehirnerschütterung im Sport:
• Die Gehirnerschütterung im Sport wird zu den leichten Formen des Schädel-Hirn-Traumas (SHT) gezählt. Im Gegensatz zum moderaten oder schweren SHT sind strukturelle Veränderungen in konventionell tomographischen Verfahren des Gehirns (Computertomographie, Magnetresonanztomographie) in der Regel nicht nachweisbar.
• Die Diagnose der Gehirnerschütterung wird klinisch gestellt und sollte auf der Anamnese sowie neurologischen, neuropsychologischen, neurovestibulären, auditiven, ophthalmologischen und neuromuskuloskelettalen Untersuchungen basieren. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bilden die Grundlage für das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen.
• Die Symptome nach einer Gehirnerschütterung sind vielfältig und gehören überwiegend zum Formenkreis der neurologischen Erkrankungen (u.a. Kopfschmerzen, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Lichtempfindlichkeit, Lärmempfindlichkeit, Müdigkeit, Gedächtnisstörungen). In den meisten Fällen kommt es zu keiner Bewusstlosigkeit.
• Die Erstbeurteilung nach einer Kopfverletzung im Sport erfolgt in den meisten Fällen durch den/die Team- oder Wettkampfarzt/-ärztin, der/die die Rolle des «Case»-Managers übernimmt. Zur Ausübung dieser Rolle ist klinische Expertise im Hinblick auf Differentialdiagnosen und deren Erstversorgung notwendig.
• Bei initial bestehenden Symptomen/Befunden wie Bewusstlosigkeit, Bewusstseinsstörung, Amnesie oder Desorientierung oder bei anhaltenden zerebralen, zervikogenen, vestibulären, cochleären, ophthalmologischen Symptomen sollte innerhalb von drei Tagen eine klinische Erstuntersuchung durch einen/eine mit SHT erfahrene/n neurologische/n Facharzt/-ärztin erfolgen. Während der Triage-Untersuchung wird festgelegt, ob (a) der Verlauf beobachtet werden kann, (b) Zusatzuntersuchungen indiziert sind oder (c) frührehabilitative Massnahmen eingeleitet werden sollten.
• Apparative neurophysiologische und neuroradiologische Untersuchungen sind für die Indikation multimodaler und aufeinander abgestimmter Therapien in Abhängigkeit der initialen Symptome und Befunde beziehungsweise bei Symptompersistenz oder bei Vorliegen gewisser Risikofaktoren zu Beginn und im Verlauf notwendig.
• Die angewandten Therapien richten sich nach den aktuellen Leitlinien der Fachgesellschaften. Bei vielfältigen Symptomen ist ein multimodaler Ansatz durch ein interdisziplinäres Team erforderlich.
Der Online-Appendix ist als separates Dokument verfügbar unter: https://doi.org/10.4414/smf.2020.08563.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Dr. med.
Nina Feddermann-Demont
Klinik für Neurologie und Klinisches Neurozentrum
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