Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom
Wenig bekannte Diagnose mit hoher Dunkelziffer

Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom

Fallberichte
Édition
2018/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/fms.2017.03249
Forum Med Suisses. 2018;18(23):489-491

Affiliations
Kantonsspital Nidwalden, Stans

Publié le 06.06.2018

Das Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom ist ein Symptomkomplex aus starken Oberbauchschmerzen und rezidivierendem Erbrechen wegen jahrelangen Cannabiskonsums. Bis zur Diagnose haben die Patienten oft eine lange Vorgeschichte.

Hintergrund

Das Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom (CHS), erstmals in Adelaide 2004 beschrieben [1], ist eine wenig bekannte Erkrankung mit bisher noch unvollständig verstandener Pathophysiologie. Vor allem in den USA ist infolge des zunehmenden Cannabiskonsums im Rahmen von staatlichen Legalisierungen in den letzten Jahren die Diagnose vermehrt gestellt worden. Verlässliche Inzidenzen existieren bisher nicht, die Dunkelziffern sind vermutlich hoch. Das CHS ist ein Symptomkomplex aus starken Oberbauchschmerzen und rezidivierendem Erbrechen aufgrund jahrelangen Cannabiskonsums. Konventionelle Antiemetika und Analgetika vermögen eine nur ungenügende Symptomkontrolle zu gewährleisten. Klassischerweise berichten die Patienten eine Symptombesserung bei heissen Bädern. Diagnostisch finden sich gewöhnlich keine wegweisenden Befunde. Wir berichten von zwei Fällen, die auf unserer medizinischen Abteilung behandelt wurden.

Fallbericht 1

Anamnese

Der 23-jährige Student stellte sich auf der Notfallstation mit seit fünf Tagen bestehenden starken epigastrischen Schmerzen und rezidivierendem, nicht-blutigem Erbrechen vor. Dieses trete bis zu 15-mal täglich auf, besonders morgens. Dabei verschafften ihm heisse Bäder kurzfristig Linderung. Eine ähnliche Symptomatik habe er bereits ein Jahr zuvor gehabt. Er gab weder Stuhlgangs- oder Urinveränderungen noch abdominale Voroperationen an. Weiter bestand ein mindestens vierjähriger, täglicher Konsum von inhalativem Cannabis.

Status

Der Patient in deutlich reduziertem Allgemeinzustand und untergewichtigem Ernährungszustand war afebril, über dem Abdomen bestand eine starke epigastrische Druckdolenz.

Befunde

Es zeigten sich initial leicht erhöhte Leukozyten von 12,8 G/l (Norm: 4,0–10,0 G/l), zudem eine Hyponatri­ämie von 133 mmol/l (Norm: 135–145 mmol/l) und Hypokaliämie von 3,0 mmol/l (Norm: 3,6–4,8 mmol/l). Die rest­lichen Laborbefunde inklusive Transaminasen, CRP, Lipase waren unauffällig.

Fallbericht 2

Anamnese

Der 39-jährige Patient stellte sich selbstständig auf unserer Notfallstation aufgrund von seit drei Tagen bestehendem Erbrechen und perumbilicalen/epigastrischen Schmerzen vor. Der Patient befand sich im Methadonprogramm und konsumierte zusätzlich seit mindestens zehn Jahren täglich inhalatives Cannabis. Auch dieser Patient berichtete über vorausgehende Episoden mit der gleichen Symptomatik.

Status

Der Patient ist in reduziertem Allgemeinzustand und übergewichtigem Ernährungszustand (93,1 kg / 185 cm, Body-Mass-Index 27 kg/m2), Fieber bestand nicht. Es fand sich eine Druckdolenz epigastrisch sowie im rechten Oberbauch.

Befunde

Im Eintrittslabor bestand eine leichte Leukozytose von 12,3 G/l (Norm: 4,0–10,0 G/l) sowie eine leichte Hypernatriämie von 146 mmol/l (Norm: 135–145 mmol/l). Die restlichen Laborbefunde waren unauffällig.

Therapie und Verlauf

Beide Patienten stellten sich unabhängig voneinander mit einer sehr ähnlichen Symptomatik sowie dem langjährigen täglichen Konsum von Cannabis vor. Die Symptomtherapie mit den üblichen antiemetischen Medikamenten wie Metoclopramid, Ondansetron und Meclozin zeigte keine Wirkung. Zur weiteren Diagnostik erfolgte aufgrund der fehlenden Besserung eine Gastroskopie. Hier zeigte sich sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch ein unauffälliger Befund, so fanden sich insbesondere keine Hinweise auf Lamblien, Helicobacter pylori, Sprue, Morbus Whipple oder auf Malignität. Auch computertomografisch konnte keine ursächliche Pathologie dargestellt werden. Eine allgemeine Stuhlbakteriologie und die Norovirus-PCR waren negativ. Differentialdiagnostisch wurde an ein Prolaktinom oder auch an eine Bleivergiftung im Rahmen des Cannabiskonsums [2] gedacht. Aber auch hier blieb die Diagnostik ohne weiterführende Ergebnisse.
Warme Duschen sorgten für eine kurzfristige Besserung und die Therapie mit Haloperidol-Tropfen und Lorazepam vermochte die Symptome erfolgreich zu behandeln.
Das Durchsetzen einer absoluten Cannabiskarenz sorgte bei beiden Patienten für einen Therapieerfolg, korrelierend zur Tetrahydrocannabinol(THC)-Halbwertszeit von 20–30 Stunden. Kurzfristig kam es jedoch zu einer erneuten klinischen Verschlechterung mit Erbrechen bei einem der beiden Patienten. Dies liess sich auf den erneuten Konsum von Cannabis während der Hospitalisation zurückführen, der genaue Zeitpunkt der Einnahme und das Wiederauftreten der Symptome liess sich nicht eruieren. Hiernach befolgte der Patient die ärztliche Empfehlung und eine Besserung stellte sich schnell ein, der Austritt nach Hause konnte ohne weitere Beschwerden erfolgen. Bei diesem Patienten stellten wir einen Gewichtsverlust von 93,1 auf 89 kg innert sechs Tagen fest.

Diagnose

Aufgrund des täglichen Konsums von Cannabis, der insgesamt blanden Diagnostik und der Besserung nach Cannabiskarenz wurde in beiden Fällen die Diagnose ­eines CHS gestellt.

Diskussion

Cannabis ist die schweizweit am meisten konsumierte illegale Droge [3], so gaben im Jahr 2012 23% der über 15-Jährigen an, schon einmal Cannabis konsumiert zu haben.
Trotz dieser Zahlen ist das CHS eine relativ seltene Diagnose, die sich vor allem auf Fallberichte und Studien mit geringen Fallzahlen stützt [1, 4]. Es ist eine relativ hohe Dunkelziffer zu vermuten, da kein diagnostischer Test existiert und das CHS somit eine Ausschlussdia­gnose ist. Patienten haben häufig eine lange Vorgeschichte mit Aufenthalten in der Notaufnahme und verschiedenster Diagnostik hinter sich. Mit der aktuellen Revision der Rome-Richtlinien für funktionelle gastrointestinale Störungen wurde in der vierten Revision das CHS erstmals als eigene Entität aufgeführt [5].
Klassischerweise wird Cannabiskonsum mit einer anti­emetischen Wirkung in Verbindung gebracht, dem gegenüber steht nun das zyklische Erbrechen beim chronischen Konsum. Viele Patienten berichten, eine Besserung auf heisse Bäder/Duschen zu verspüren. Bei keinem weiteren Emesis-Syndrom wurde dies beobachtet, weshalb man davon ausgeht, dass es für die Krankheit pathognomonisch ist [6].
Eine gesicherte Pathophysiologie der Erkrankung ist bis heute nicht bekannt, einige Theorien versuchen jedoch, die Ursache zu erklären.
Cannabis enthält neben dem Wirkstoff THC mindestens 65 weitere Cannabinoide, diese entfalten ihre Wirkung auf den Organismus über den Cannabinoidrezeptor. Zwei unterschiedliche Cannabinoidrezeptoren wurden mittlerweile identifiziert, der CB1- und der CB2-Rezeptor. Hierbei handelt es sich jeweils um G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, bei denen es zur Hemmung einer Adenylatzyklase kommt. CB1 wurde an unterschiedlichen Stellen im Gehirn und Gastrointestinaltrakt gefunden. Zu CB2 ist aktuell weniger bekannt, sein Vorhandensein in Plasmazellen und aktivierten Makrophagen spricht jedoch für eine antiinflammatorische Wirkung. Über den CB1-Rezeptor vermittelt THC eine motilitätssenkende Wirkung auf den Gastrointestinaltrakt. Dies ist eine proemetische Wirkung, die durch die gleichzeitige Wirkung auf die CB1-Rezeptoren im Zentralnervensystem wieder aufgehoben wird. Es besteht die Vermutung, dass bei empfindlichen Konsumenten das Überwiegen der gas­trointestinalen Wirkung Übelkeit auslöst. Ein anderer Erklärungsversuch vermutet bei betroffenen Patienten eine Mutation bei der hepatischen Metabolisierung, sodass es bei dem Abbau der Wirkstoffe zu einer Ansammlung eines proemetischen Metaboliten kommt. Allein THC wird zu über 100 verschiedenen Metaboliten verstoffwechselt. Einige Experten vermuten, dass das stark lipophile THC sich im zerebralen Fett ablagert und dort bei chronischem Konsum Vergiftungserscheinungen auslösen kann. Eine endgültige Erklärung ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nicht gefunden [6–8].
In der Praxis zeigt sich, dass es bei fortgeführtem Konsum häufig nach Wochen bis Monaten zu Rezidiven kommt. Bis auf die absolute Cannabiskarenz existiert keine kausale Therapie. Unterstützende Therapie mit ­intravenöser Rehydratation, Dopaminantagonisten, ­topischer Capsaicincrème und Vermeiden narkotischer Medikation hat einen Benefit gezeigt [7].
Zur Erleichterung der Diagnosestellung wurden 2009 von Sontineni et al. Kriterien entworfen, die in Tabelle 1 dargestellt sind [9]. Hierbei wird zwischen essentiellen, Haupt- und Nebenkriterien unterschieden.
Tabelle 1: Diagnosekriterien für das Cannabinoid Hyper­emesis-Syndrom (modifiziert aus [9]).
EssentiellLangzeitiger Cannabiskonsum
HauptkriterienAusgeprägte zyklische Übelkeit und ­Erbrechen
Besserung nach Cannabiskarenz
Besserung der Symptome durch heisse ­Bäder/Duschen
Abdominelle Schmerzen, epigastrisch oder periumbilikal
Wöchentlicher Cannabiskonsum
NebenkriterienAlter <50 Jahre
Gewichtsverlust >5 kg
Hauptsächlich morgendliche Beschwerden
Normaler Stuhlgang
Unauffällige Labor-, Endoskopie- und ­Radiographiebefunde

Das Wichtigste für die Praxis

• Eines der Hauptprobleme ist die Selbstmedikation der betroffenen ­Pa­tienten mit Cannabis aufgrund der Nausea und der damit verbundene Circulus vitiosus.
• Insbesondere bei Patienten mit rezidivierenden Oberbauchschmerzen, Erbrechen und jahrelangem, fortgesetztem Cannabiskonsum und jeweils blander Diagnostik kann nach Ausschluss der «red flags» (Fieber/Sepsis, Hämatemesis/Meläna, hämodynamische Instabilität, Wind- und Stuhlverhalt >24 Stunden, Ikterus, akutes Koronarsyndrom, Bauchtrauma) die Diagnose eines Cannabinoid-Hyperemesis-Syndroms (CHS) in Erwägung gezogen werden.
• Die Therapie besteht aus absoluter Cannabiskarenz, gegebenenfalls Benzodiazepinen und warmen Bädern.
• Das komplette Sistieren der Beschwerden nach Cannabiskarenz ist ­pathognomonisch für das CHS und kann somit von anderen Emesissyndromen unterschieden werden.
Die Autoren haben keine finanziellen oder ­persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Mitja Fischer, dipl. Arzt
Kantonsspital Nidwalden
Ennetmooserstrasse 19
CH-6370 Stans
Mitja.Fischer[at]ksnw.ch
1 Allen JH, de Moore GM, Heddle R, Twartz JC. Cannabinoid hyperemesis: cyclical hyperemesis in association with chronic cannabis abuse. Gut. 2004;53:1566–70.
2 Busse F, Omidi L, Timper K, Leichtle A, Windgassen M, Kluge E, et al. Lead poisoning due to adulterated marijuana. N Engl J Med. 2008;358:1641–2.
3 Notari L, Le Mével L, Delgrande Jordan M, Maffli E. Zusammenfassende Ergebnisse der Schweizerischen Gesundheitsbefragungen 2012, 2007, 2002, 1997 und 1992 hinsichtlich des Konsums von Tabak, Alkohol, Medikamenten und illegalen Drogen. ­Forschungsbericht Nr. 70, Sucht Schweiz, 2014.
4 Hernandez JM, Paty J, Price IM. Cannabinoid hyperemesis syndrome presentation to the emergency department: A two-year multicentre retrospective chart review in a major urban area. CJEM. 2017;1–6.
5 Stanghellini V, Chan FKL, Hasler WL, Malagelada JR, Suzuki H, ­Tack J, et al. Gastroduodenal Disorders. Gastroenterology. 2016;150:1380–92.
6 Iacopetti CL, Packer CD. Cannabinoid hyperemesis syndrome: a case report and review of pathophysiology. Clin Med Res. 2014;12:65–7.
7 Sorensen CJ, DeSanto K, Borgelt L, Phillips KT, Monte AA. Cannabinoid Hyperemesis Syndrome: Diagnosis, Pathophysiology, and Treatment-a Systematic Review. J Med Toxicol. 2017;13:71–87.
8 Galli JA, Sawaya RA, Friedenberg FK. Cannabinoid hyperemesis syndrome. Curr Drug Abuse Rev. 2011;4:241–9.
9 Sontineni SP, Chaudhary S, Sontineni V, Lanspa SJ. Cannabinoid hyperemesis syndrome: clinical diagnosis of an underrecognised manifestation of chronic cannabis abuse. World J. Gastroenterol. 2009;15:1264–6.