Die Geissel der alten Seefahrer auf der Hämodialysestation
Rückkehr einer alten Krankheit in die moderne Medizin

Die Geissel der alten Seefahrer auf der Hämodialysestation

Der besondere Fall
Édition
2020/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/fms.2020.08533
Forum Med Suisse. 2020;20(5152):808-810

Affiliations
a Nephrologie, Bürgerspital Solothurn, Solothurn; b Herz-und Nierenzentrum Aare, Solothurn

Publié le 15.12.2020

Ein 43-jähriger Patient wurde zur Dialysetherapie zugewiesen. Bei Eintritt zeigten sich blasse, noduläre Hautläsionen, eine Gingivitis und Gingivahypoplasie sowie ein kariöser Zahnstatus.

Hintergrund

Skorbut als Extremform eines schweren Vitamin-C-Mangels ist heute eine vergessene und fast verschwundene Erkrankung. In speziellen Risikosituationen kann diese alte «Seefahrer-Krankheit» jedoch auch heute noch auftreten und diagnostische Schwierigkeiten bereiten. Wir beschreiben den Fall eines 43-jährigen, diabetischen Patienten bei dem sich unter Dialysetherapie das Vollbild einer Skorbut-Krankheit entwickelt hat.

Fallbericht

Anamnese

Ein 43-jähriger, schlanker, asylsuchender Patient wurde uns nach einer Umplatzierung wohnortsnah zur Dialysetherapie zugewiesen. Eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz bestand seit ca. 2 Jahren aufgrund einer diabetischen Grunderkrankungen (Typ I, Erstdiagnose 1992) mit fortgeschrittenen Spätkomplikationen (periphere arterielle Verschlusskrankheit, diabetisches Fusssyndrom mit Vorfussamputation) mangels Compliance und fehlender medizinischer Versorgung. Die Dialysetherapie (3×/Woche 4 Stunden) wurde mit einer herkömmlichen Polysulfonmembran (FX Cordiax 100) über eine gut funktionierende Cimino-Vorderarmfistel durchgeführt. Die chronische Behandlung des Patienten gestaltete sich aus sprachlich-kulturellen Gründen sowie aufgrund psychischer Probleme (Irritabilität, aufbrausendes Verhalten, Antriebslosigkeit), Malcompliance und Polypharmazie erschwert.

Status

Schon bei der Erstvorstellung liessen sich vorbeschriebene blasse, noduläre Läsionen im Bereich des Rückens und der Beine nachweisen (Abb. 1). Enoral zeigten sich eine Gingivitis und Gingivahypoplasie sowie ein kariöser Zahnstatus. Im Verlauf dehnten sich die nun juckenden und teilweise putrid (superinfiziert-)ulzerierenden Hautläsionen trotz adäquater Wundbehandlung und optimierter Diabeteseinstellung auf den ganzen Stamm aus. Die Vitalparameter waren normwertig.
Abbildung 1:A–C)Typische nodulär-ulzeröse Hautläsionen bei manifestem Skorbut.

Befunde und Diagnose

Labormässig zeigten sich unter Berücksichtigung der Dialysepflichtigkeit keine speziellen Auffälligkeiten der routinemässig bestimmten Parameter (normales C-reaktives Protein und Hämoglobin, leicht erhöhtes Ferritin, leicht erhöhtes Parathormon, normale Kalzium- und Phosphatkonzentrationen). Serologisch lie­sen sich auch keine Hinweise auf eine Vaskulitis oder einen Parasitenbefall objektivieren. Eine Hautbiopsie war mit Exulzerationen, abszedierender Entzündungsreaktion und pseudoepitheliomatöser Epidermishyperplasie ebenfalls wenig wegweisend. Differentialdiagnostisch wurde deshalb eine Hypovitaminose trotz regelmässiger Substitution mit Dialvit-Kapseln (Vitamin-B-Komplex + 200 mg Vit­amin C) erwogen.
Nach Erhalt des Vitamin-C-Spiegels war die Diagnose Skorbut mit entsprechendem klinischem Bild (Phrynoderma) bei schwerem Vitamin-C-Mangel (Serumspiegel 5,7 µmol/l; Referenzwert 11,4–113 µmol/l) nach schliesslich fast einem Jahr – trotz multidisziplinärer Abklärung und Behandlung – gestellt.

Therapie

Nach initialer Erhöhung der peroralen Vitamin-C-­Dosis (400 mg/d) und zeitweise auch intravenöser Substitution (Ascorbinsäure 10% 500 mg i.v. täglich über 2 Wochen) zeigte sich eine rasche Verbesserung des Haut- und enoralen Befundes mit kompletter Abheilung der Ulzera in den folgenden Wochen.

Verlauf

Ob der vier Monate später aufgetretene, für den Patienten letale Myokardinfarkt ebenfalls noch mit dem Vitamin-C-Mangel in Zusammenhang stand, bleibt offen. Die autoptisch durchgeführte Untersuchung der Haut zeigte jedoch weiterhin eine follikuläre Hyperkeratose und follikuläre Plaques, die mit dem langen Vitamin-C-Mangel vereinbar waren.

Diskussion

Skorbut als Extremform des schweren Vitamin-C-Mangels tritt in der allgemeinen Population bei einem ­Vit­amin-C-Spiegel <10 µmol/l nur nach monatelanger einseitiger Ernährung und bei gewissen Risikokonstellationen auf (Tab. 1).
Tabelle 1: In der Literatur beschriebene Risikofaktoren für eine Skorbut-Erkrankung [1–5].
Risikofaktoren für Vitamin-C-MangelUrsachen
Dialysepflichtige NiereninsuffizienzVermehrte Elimination von wasserlöslichen ­Vitaminen, dialysespezifische Diätempfehlung (wenig Früchte/Gemüse)
RauchenVerminderte Absorption, erhöhter Verbrauch
Chronische EntzündungenAIDS, Malignome, Darmerkrankungen
MalnutritionPsychosen, Alkoholiker, Single-Männer, Armut
Diabetes mellitusErhöhter Bedarf
Schwangerschaft, StillenErhöhter Verbrauch
In den Zeiten der gros­sen Entdeckungen zur See war der Skorbut jedoch ein gefürchteter Begleiter an Bord und raffte ganze Schiffsbesatzungen hin. Meist begann er mit Schwellungen und Blutungen des Zahnfleischs und endete häufig tödlich.
Bei der nicht rauchenden Normalbevölkerung reicht die Einnahme von nur 10 mg Vitamin C pro Tag aus [1], um einen Skorbut zu verhindern. Dies ist mit den bei uns verfügbaren Lebensmitteln problemlos möglich (z.B. 1 Kiwi enthält 80 mg Vitamin C).
Pathophysiologisch manifestiert sich die Krankheit durch eine Kollagenbildungsstörung, die zu den klassischen Skorbutsymptomen wie Gingivalblutungen, ­follikulären Hyperkeratosen, Hautulzerationen mit Wundheilungsstörungen, Korkenzieherhaaren, Petechien und Ekchymosen führt [1]. Auch weitere Organsysteme können betroffen sein (Bewegungsapparat, Herzmuskel, Knochen, Immunsystem)[2]. In der Literatur finden sich verschiedene Assoziationen von Vit­amin-C-Mangel mit kardiovaskulären Ereignissen ­sowie Tumorerkrankungen, wobei randomisiert-kontrollierte Untersuchungen dazu fehlen [1]. Ein Vitamin-C-Mangel kann auch die Produktion von Neurotransmittern (Carnitin/Katecholamine) kompromittieren, was die ebenfalls auftretenden unspezifischen Begleitsymptome wie Asthenie, Depressionen, Irritabilität und Anorexie erklären könnte [2]. Gerade die letzt­genannten Symptome gehören zum Alltag auf der Dialysestation und können einen Vit­amin-C-Mangel bei diesen Patienten somit weiter verschleiern.
Das Auftreten eines Vitamin-C-Mangels bei Dialysepatienten ist schon seit Beginn der Nierenersatztherapie bekannt [3]. Diese Patienten weisen oft mehrere, zum Teil durch die Dialysetherapie induzierte Risikofaktoren auf, die einen schweren Vitamin-C-Mangel verursachen können (Tab. 1). Als Hauptfaktoren für einen Vit­amin-C-Mangel bei Dialyse sind einerseits die diätetischen Empfehlungen (kaliumarm = früchtearm) und andererseits die Entfernung von wasserlöslichem Vit­amin C durch die Dialyse selber (über 70 mg/Sitzung) verantwortlich [4]. Auch bei der Peritonealdialyse kann ein Vitamin-C-Verlust durch die Dialyse erfolgen und es sind Skorbutfälle unter dieser Modalität beschrieben [5].
Die Frage der richtigen Vitamin-C-Substitution ist kontroversen Diskussionen unterworfen. Aufgrund der ­renalen Elimination führt eine zu hohe Zufuhr von Vit­amin C via intrazelluläre Degradation zu Oxalat, dem primären Degradationsprodukt, zur möglichen Entwicklung einer systemischen Oxalose [6]. Daher wird Vitamin C im Allgemeinen bei Dialysepatienten eher restriktiv substituiert.
Mit einem Blick auf die Risikofaktoren sollte bei fehlenden evidenzbasierten Empfehlungen eine individuelle Abschätzung des Bedarfs bei dialysepflichtigen ­Patienten erfolgen.

Das Wichtigste für die Praxis

• Ein manifester Vitamin-C-Mangel wird bei Dialysepatienten und anderen chronischen Krankheiten selten diagnostiziert (unterdiagnostiziert?) und muss nicht zwingend mit einer offensichtlichen Malnutrition assoziiert sein.
• Dialysepatienten haben in Kombination mit weiteren Risikofaktoren ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Vitamin-C-Mangels aufgrund der Dialysetherapie selber und auch aufgrund diätischer Restriktionen (kaliumarm = Vitamin-C-arm).
• Bei Polymorbidität und unklaren Hautläsionen kann auch in der modernen Medizin die historische Krankheit Skorbut eine Differentialdiagnose sein und sollte bei den Abklärungen rechtzeitig mitberücksichtigt werden.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med. Stefan Farese
Herz-und Nierenzentrum Aare Solothurn
Poststrasse 14
CH-4500 Solothurn
stefan.farese[at]hnz-aare.ch
1 Lykkesfeldt J, Poulsen H. Is vitamin C supplementation beneficial? Lessons learned from randomised controlled trials. Br J Nutr. 2010;103(9):1251–9.
2 Fain O. Musculoskeletal manifestation of scurvy. Joint Bone Spine. 2005;72:124–8.
3 Handelman GJ. Vitamin C deficiency in dialysis patients—are we perceiving the tip of an iceberg?, Nephrol Dial Transplant. 2007;22(2):328–31.
4 Morena M, Cristol JP, Bosc JY, Tetta C, Forret G, Leger CL, et. al. Convective and diffusive losses of vitamin C during haemodiafiltration session: a contributive factor to oxidative stress in haemodialysis patients. Nephrol Dial Transplant. 2002;17(3):422–7 .
5 Singer R, Rhodes HC, Chin G, Kulkarni H, Ferrari P. High prevalenz of ascorbate deficiency in an Australian peritoneal dialysis population. Nephrology (Carlton). 2008;13:17–22.
6 Simpson G, Ortwerth BJ. The non-oxidative degradation of ascorbic acid at physiological conditions. Biochim Biophys Acta. 2000;1501(1):12–24.