Medizinische Betreuung Erwachsener mit geistiger Behinderung – Teil 1
«Mit dem kann man ja gar nicht reden!»

Medizinische Betreuung Erwachsener mit geistiger Behinderung – Teil 1

Übersichtsartikel
Édition
2020/4142
DOI:
https://doi.org/10.4414/fms.2020.08582
Forum Med Suisse. 2020;20(4142):566-569

Affiliations
a Praxis, Ärzte im Zentrum, Weinfelden, Schweiz; b Klinik für Inklusive Medizin, Evangelisches Krankenhaus Hagen-Aspe, Hagen, Deutschland

Publié le 06.10.2020

Teil 1 dieses Beitrags behandelt allgemeine Aspekte bezüglich ärztlicher Kontakte zu Menschen mit geistiger Behinderung, unter spezieller Berücksichtigung der keineswegs seltenen Verhaltensauffälligkeiten.

«Geistige Behinderung ist nicht etwas, was man hat – wie blaue Augen oder ein ‘krankes’ Herz. Geistige Behinderung ist auch nicht etwas, was man ist – wie etwa klein oder dünn zu sein. Sie ist weder eine gesundheitliche Störung noch eine psychische Krankheit. Sie ist vielmehr ein spezieller Zustand der Funktionsfähigkeit, der in der Kindheit beginnt und durch eine Begrenzung der Intelligenzfunktionen und der Fähigkeit zur Anpassung an die Umgebung gekennzeichnet ist. Geistige Behinderung spiegelt deshalb das ‘Passungsverhältnis’ zwischen den Möglichkeiten des Individuums und der Struktur und den Erwartungen seiner Umgebung wider.» (American Association of Mental Retardation – AAMR 1992).
Dieser Artikel konzentriert sich auf diejenigen erwachsenen Menschen, die sich vor allem bezüglich Selbständigkeit und Kommunikationsfähigkeit stark von anderen Patienten unterscheiden.

Einleitung

Je nach Enge der Definition gelten etwa 1% der erwachsenen Menschen als geistig behindert, von denen ⅓ als schwer beeinträchtigt einzustufen ist. Die vorhandenen Statistiken lassen keine klaren Aussagen zu. Bei nur leicht eingeschränkter Intelligenz ist es letztlich eine Frage der Sozialisation, wer zur Gruppe der Betroffenen gehört. Grossen Einfluss haben dabei allenfalls vorhandene Auffälligkeiten aus dem Autismus-Spek­trum, die leider oft immer noch nicht erkannt werden.
Dank Verbesserungen in der Ernährung und der Hy­giene (u.a. der Zahnpflege) sowie Fortschritten in der Medizin (z.B. Antibiotika bei Pneumonien) hat sich die Lebenserwartung im Laufe des 20. Jahrhunderts derjenigen der Gesamtbevölkerung angenähert; dennoch bleiben Unterschiede, die keineswegs immer mit der Behinderung begründbar, sondern oft auf Mängel in Prophylaxe, Diagnostik und Therapie zurückzuführen sind.

Zum Begriff

Der Begriff der geistigen Behinderung wird hier schon nur deshalb verwendet, weil er in Verfassung, Gesetzen und Verordnungen festgeschrieben ist. Viele betroffene Menschen bevorzugen den Begriff «kognitive Beeinträchtigung»; ein neuerer Begriff in der Literatur ist «intellektuelle Entwicklungsstörung».
Es handelt sich um eine komplexe und in der Ausprägung sehr unterschiedliche Entwicklungsbeeinträchtigung im kognitiven, motorischen, sensorischen, emotionalen und/oder sozialen Bereich. Aus medizinischer Sicht ist es, vor allem in der Forschung, letztlich nicht haltbar, verallgemeinernd von Menschen mit geistiger Behinderung zu sprechen. Behinderungsgrad und -profil, verschiedene Ätiologien, unterschiedliches Kommunikationsverhalten und autistische Merkmale, jedoch auch Lebenslauf und Lebensalter sowie familiäre Zusatzfaktoren und kulturelle Einflüsse führen zu einer bunten Palette sehr verschiedenartiger Menschen. Der in der ICD-10 («International Classification of Diseases») verwendete Begriff der Intelligenzminderung (F70–F79) deckt diese Komplexität nicht ab.

Wichtige Aspekte der Betreuung

Allgemeines

Menschen mit einer Behinderung sind im Vergleich zur übrigen Bevölkerung im Durchschnitt anfälliger für somatische und psychische Erkrankungen bei gleichzeitig verminderten Bewältigungsmöglichkeiten. Somatische, psychische und psychosoziale Krisensituationen treten deshalb bei ihnen häufiger auf.
Die Patientinnen und Patienten leben praktisch immer in Abhängigkeit von einem Versorgungssystem (Angehörige, Heim, Werkstätte), das in Krisensituationen mitbetroffen ist und deshalb mitberücksichtigt werden muss. Das durch die Abhängigkeit bestehende Machtgefälle erfordert erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich Misshandlung oder gar Missbrauch.
Neben den allgemeingültigen medizinischen Grundlagen hilft ein Wissen um einige Besonderheiten in dieser Personengruppe bei der Diagnostik von Beschwerden; dazu gehören unter anderem Erkenntnisse über gehäuft vorhandene Risiken (z.B. Reflux, Osteoporose, Schluckstörungen etc.) und die Beachtung vermehrt auftretender neurologischer, epileptologischer, orthopädischer, ophthalmologischer, otorhinolaryngologischer und zahnmedizinischer Probleme, die einer Versorgung bedürfen oder allenfalls belastende Spätfolgen haben.
Menschen mit einer geistigen Behinderung können selber nicht oder nur teilweise und ungenau über ihre Symptome oder Lebensgeschichte Auskunft geben. Sie haben zum Beispiel oft Schwierigkeiten, Schmerzen zu lokalisieren und zu beschreiben. Auch haben sie meist keine eigenen Vorstellungen vom Behandlungsziel: bessere Funktion oder nur Schmerzfreiheit? Da sie zuweilen nicht einmal auf Nachfrage über Beschwerden berichten, muss die Ärztin / der Arzt in Eigeninitiative aktiv nach Symptomen suchen. Zudem ist bei vielen Syndromen zusätzlich nach besonderen Risiken zu forschen (z.B. Tumoren an den Nieren bei tuberöser Sklerose oder Hypothyreose bei Trisomie 21).
Auskunftspersonen neigen ihrerseits nicht selten zu voreiligen Interpretationen statt sachlich Beobachtungen zu beschreiben. Dokumentationen durch die Umgebung sind oft lückenhaft; beim Heimeintritt oder -wechsel gehen ausserdem Informationen verloren. Für neu beigezogene Ärztinnen und Ärzte ist es zudem recht mühsam und aufwendig, sich Akten über frühere Abklärungen und Behandlungen zu besorgen und einen Überblick darüber zu gewinnen. Sinnvollerweise sammeln Eltern möglichst alle medizinischen, pädagogischen und therapeutischen Befunde und Berichte ihres Kindes, weil sie nach Ablauf der Haftpflichtfrist vernichtet werden oder sonst nicht mehr auffindbar sind. Zuweilen sind bei der Invalidenversicherung (IV) noch wertvolle Akten vorhanden.
Das Risiko des Overshadowing (Übersehen von wichtigen Symptomen wegen Überdeckung durch prominentere Auffälligkeiten oder durch voreilige Erklärungen wie «gehört zur Behinderung») ist bei diesen Patientinnen und Patienten höher. Somatische Probleme, zum Beispiel Schmerzen, äussern sich bei ihnen häufig als Verhaltensauffälligkeiten, die deshalb nicht vorschnell als psychiatrisches Problem interpretiert werden dürfen (vgl. Abschnitt «Verhaltensauffälligkeiten»)!
Körperliche Untersuchungen sind oft aufgrund eingeschränkter oder fehlender Kooperationsfähigkeit, Wahrnehmungseinschränkungen und wegen Abwehrreaktionen erschwert. Dabei sind nebst Angst, Verwirrung und Unsicherheit in unvertrauten Situationen leider oft auch vielerlei unangenehme oder gar traumatisierende frühere Erfahrungen der Betroffenen mit Ärztinnen / Ärzten und medizinischen Einrichtungen (Schmerzen durch Eingriffe, Trennungserleben, Fixierungen) Quellen einer Abwehrhaltung.
Auf ärztlicher Seite führen Unsicherheit oder Hilflosigkeitsgefühle manchmal zu Passivität (Unterlassen z.B. einer angezeigten Untersuchung) oder aber zu sinnlosem, manchmal gar schädlichem Aktivismus ut aliquid (z.B. Verschreiben von Psychopharmaka).
Im Dilemma, nichts verpassen zu wollen, aber die Patientinnen und Patienten von belastenden Untersuchungen möglichst zu verschonen, muss die Entscheidung in Abstimmung mit den zuständigen Personen und im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen gefällt werden. Vorab verabreichte beruhigende Medikamente (meist Benzodiazepine) erleichtern in machen Fällen den Zugang, doch zuweilen sind Narkoseuntersuchungen unausweichlich, selten schon für Blutentnahmen, öfter für gynäkologische Untersuchungen oder Gebisskontrollen, und erst recht bei MRI-Untersuchungen. Dies gilt umso mehr für manche Eingriffe. Sinnvoll ist eine gute Koordination der verschiedenen anstehenden Untersuchungen. Damit die Narkosekosten übernommen werden, ist im Vorfeld ein Gesuch an die Krankenkasse notwendig.

Arzt-Patienten-Beziehung

Wenn irgendwie möglich muss gerade auch bei kognitiv beeinträchtigten Patientinnen und Patienten ein gutes Vertrauensverhältnis aufgebaut werden. Dies ist sehr viel leichter möglich, wenn wir das Vertrauen der Umgebungspersonen gewinnen. Regelmässige, auch nur kurze Kontakte statt nur Begegnungen in Notfall­situationen helfen, Misstrauen abzubauen. Ohnehin sollten zumindest einmal jährlich Kontrolluntersuchungen stattfinden. Besonders im angelsächsischen Sprachraum wurden in den letzten Jahrzehnten Guidelines für die ärztliche Begleitung dieser Patientinnen und Patienten entwickelt (zwei Links dazu sind im Literaturverzeichnis angegeben). Diese Gesundheitschecks verfolgen einen multiprofessionellen Ansatz und werden wegen des Umfangs und des erhöhten Zeitbedarfs sinnvollerweise auf mehrere Termine verteilt.
Wechselnde Zuständigkeiten der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, wie sie in Gemeinschaftspraxen und wegen Teilzeitarbeit gehäufter vorkommen, bergen für diese Menschen wie für andere chronisch kranke Patientinnen und Patienten nicht zu vernachlässigende Nachteile und erfordern eine umso sorgfältigere und gut zugängliche Dokumentation. Auch ist nach Möglichkeit im Voraus zu klären, wo die Begegnung am besten stattfindet. In der vertrauten Umgebung ist dies oft sehr viel stress- und angstfreier möglich.
Eine Voraussetzung für eine tragende Arzt-Patienten-Beziehung ist jedoch auch, dass wir ein differenziertes Bild von behinderten Menschen entwickelt haben (behindert ≠ dumm; keine Lautsprache zu haben sagt noch nichts aus über die Intelligenz und das Sprachverständnis) und sie spüren lassen, dass wir sie als zwar anders begabte, jedoch grundsätzlich leidens-und kommunikationsfähige Menschen ernst nehmen, auch wenn ihr Denken, Fühlen und Wollen vielleicht nicht ohne Weiteres erkennbar ist. Wir zeigen das unter anderem, indem wir mit ihnen und nicht nur über sie reden, und zwar auf Augenhöhe und mit einer gut verständlichen Wortwahl und einfachem Satzbau. Im Dialog müssen wir jedoch auf verzögerte Antworten warten können und allenfalls die Frage nach einer angemessenen Pause wiederholen.
Um Menschen mit geistiger Behinderung eine Meinungsäusserung eher zu ermöglichen, ist der Einsatz von Kommunikationsmitteln oft unentbehrlich. Methoden der unterstützten Kommunikation (UK) – z.B. eine Skala mit Smileys oder Zahlen zur Erfassung der Befindlichkeit oder von Schmerzen; besser sind natürlich differenziertere Methoden – können weiterhelfen. Wenn eine Ärztin / ein Arzt wenig damit vertraut ist, muss eine darin erfahrene Person die notwendige Unterstützung leisten. Ferner existieren diverse Erfassungsinstrumente in Form von Skalen für Schmerzen, Angst und anderes bei nicht zu sprachlichen Äusserungen fähigen Personen (Hinweise in Literaturangaben).
Zu einer qualitativ hochstehenden medizinischen Versorgung gehört zudem, im Sinne eines ganzheitlichen (bio-psycho-sozialen) Ansatzes mit der persönlichen Lebensgeschichte und den Lebensbedingungen der Betroffenen vertraut zu sein.

Einbezug des Umfeldes

Für die Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung ist ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Angehörigen und Betreuungspersonen notwendig. Ihre Mitwirkung ist schon nur als Auskunftspersonen fast immer unentbehrlich. Sie kennen in der Regel die Betroffenen sehr viel besser und können zudem in der Untersuchungssituation hilfreich sein; oft wirken sie auch beruhigend auf verängstigte, misstrauische Patientinnen/Patienten. Sie sind ja dann auch für die Ausführung von Verordnungen und für Verlaufsbeobachtungen verantwortlich. Die Compliance für therapeutische Massnahmen wird ganz wesentlich durch die Betreuungspersonen mitbestimmt. Die Ärztin / der Arzt muss dies aktiv unterstützen und überprüfen.
Die Aufklärungspflicht über Diagnostik und Therapie ist im Behindertenbereich mindestens ebenso wichtig wie sonst. Für eine ausführliche Besprechung der Resultate und Konsequenzen mit den Bezugspersonen, wenn immer möglich und sinnvoll in Anwesenheit der betroffenen Patientinnen und Patienten, ist genügend Zeit einzuplanen. Gesetzliche Vertreter, und das sind oftmals die Eltern, sind ohnehin in die Entscheidungen einzubeziehen; ihr Einverständnis, auch schon nur zu diagnostischen Massnahmen, ist in aller Regel notwendig (vgl. auch «Rechtliche Grundlagen» im Online-Appendix des Artikels). Die Erwartungen der Umgebung sind freilich zuweilen widersprüchlich und die Ansprüche unrealistisch; als Ärztinnen und Ärzte sind wir aber letztlich immer Anwälte der Patientinnen und Patienten und unserem Gewissen verpflichtet.
Auch eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen darf nicht vernachlässigt werden. Das Berufsgeheimnis gilt jedoch auch bei Patientinnen und Patienten ohne Urteilsfähigkeit (alle anderen können ja nach ihrem Einverständnis gefragt werden). Das erfordert Achtsamkeit darüber, welche Informationen an wen weitergegeben werden.
All diese besonderen Aspekte passen allerdings oft nicht in den hektischen Arbeitsalltag und sind zudem teilweise nicht angemessen honoriert oder lösen mühsame Rückfragen der Kostenträger aus.

Verhaltensauffälligkeiten

Verhaltensauffälligkeiten sind ein häufiger Grund für Konsultationen in einer allgemeinärztlichen oder auch einer psychiatrischen Praxis. Da Verhalten meist ebenfalls eine Form von Kommunikation ist, sind Störungen nicht primär zu beseitigen, sondern wenn möglich zu verstehen. Die potenziellen Ursachen dafür sind äusserst vielfältig. Eine wichtige Frage dabei ist immer, ob sie schon lange bestehend, rezidivierend oder neu sind. Besonders bei Letzterem ist zuerst an die Möglichkeit einer körperlichen Ursache zu denken. Irgendwelche Beschwerden oder auch neu verordnete Medikamente können zu einem veränderten Körper­erleben und in der Folge einem veränderten Verhalten führen, etwa einer erhöhten Reizbarkeit mit vereinzelt (Auto-)Aggressionen, die mangels anderer Symptome nicht weiter hinterfragt wird (z.B. löste ein nicht beachtetes Analekzem bei einem Patienten immer, wenn er sich hinsetzte, einen heftigen Gewaltausbruch aus); vielleicht aber auch zu verminderter Aktivität (Ein sonst im Verhalten schwieriger junger Mann wurde über Nacht viel umgänglicher. Er war fieberfrei und ass normal. Als er am fünften Tag die Bettdecke ablehnte, wurde er abgeklärt: Appendicitis perforata bei unauffälliger Leukozytenzahl!). Das Nichtbeachten möglicher körperlicher Ursachen führt zu nutzlosen pädagogischen oder gar psychopharmakologischen Interventionen. Zudem ist natürlich auch an psychosoziale Belastungsfaktoren und Verunsicherungen oder schwierige Erlebnisse zu denken. Krisen in der Pubertät und frühen Adoleszenz sind durch das Bewusstwerden der enormen Einschränkungen in der Lebensgestaltung und der Zukunftsperspektiven im Vergleich zu Gleichaltrigen oder Geschwistern fast regelhaft und bedürfen einer vertieften Auseinandersetzung der Umgebung damit.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, welchen Anforderungen und Einschränkungen Bewohner in Heimen für Menschen mit einer geistigen Behinderung unterworfen sind, sind manche Reaktionen wie Wut, Trauer, Resignation oder Verzweiflung eher verständlich: Toleranz, Anpassungsfähigkeit, Rückstellung eigener Bedürfnisse, Geduld, eingeengte Platzverhältnisse, (Teil-)Verzicht auf Privat- und Intimsphäre und anderes sind zuweilen eine Überforderung; ein Kampf um Verständnis und Akzeptanz kann eine Folge sein. Bei wiederholten Krisen lassen sich bei aufmerksamer Beobachtung mit der Zeit bestimmte, für die betreffende Person charakteristische Frühzeichen definieren, die dokumentiert werden und den Umgebungspersonen bekannt sein sollen.
Auch psychiatrische Erkrankungen, die zwar öfter als in der übrigen Bevölkerung auftreten, aber doch nur zu einem kleinen Teil eine Ursache von Verhaltensauffälligkeiten sind, verändern das Verhalten. Angststörungen, Depressionen oder eine beginnende demenzielle Entwicklung bleiben vielleicht vorerst unerkannt.
Selbstverständlich sollen auch bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen geeignete Psychopharmaka verordnet werden. Wir bewegen uns jedoch fast immer im Off-Label-Bereich (vgl. auch «Rechtliche Grundlagen» im Online-Appendix des Artikels). Beobachtungen zeigen, dass allzu oft und nicht selten hochdosiert Neuroleptika, andererseits zu selten Antidepressiva verschrieben werden; auf Benzodiazepine wird vielfach trotz guter Verträglichkeit verzichtet; bei dosierter Abgabe besteht jedoch keine Suchtgefahr und keineswegs immer kommt es zu Wirkungsverlust. Es besteht inzwischen weitherum Konsens, dass Neuroleptika zur Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung oder mit Autismus oft wenig wirksam und mit erheblichen Nebenwirkungen behaftet sind (Abnahme lebenspraktischer Fähigkeiten; Geh- und Sehprobleme; neurologische Nebenwirkungen bis hin zu kaum behandelbaren Spätdyskinesien; dadurch manchmal erhöhter Pflege- und Betreuungsaufwand). Eine Verschreibung zur Sanktionierung von unerwünschtem Verhalten ist ohnehin unethisch. Leider werden Medikationen oft jahre- oder gar jahrzehntelang nicht überprüft und keine Ausschleichversuche vorgenommen.
In einem zweiten Teil dieses Artikels, der in der nächsten Ausgabe des Swiss Medical Forum erscheint, wird noch spezifischer auf Situationen in Praxen und Spitälern eingegangen.
Etliche dieser Gedanken wurden vom Erstautor schon in einem Artikel 2007 (Schweiz Ärzteztg. 2007;88(30):1260–3) und in einem Buchbeitrag 2015 (Paltzer A, Liebster B, Wyss H [Hrsg.]. Danke, ich esse keine Suppe Perspektiven der Behindertenarbeit. 1. Auflage. Zürich; Edition Stephan Witschi; 2015; ISBN 978-3-906191-03-4) geäussert.

Das Wichtigste für die Praxis

• Menschen mit einer geistigen Behinderung sind im Durchschnitt anfälliger für somatische Erkrankungen und psychische Störungen.
• Als Ärztinnen und Ärzte sind wir stark auf Fremdangaben aus dem ­Umfeld angewiesen, das in aller Regel einbezogen werden muss.
• Körperliche Untersuchungen sind oftmals erschwert.
• Verhaltensänderungen und -auffälligkeiten sind ein häufiger Grund für Arztbesuche. Zuerst ist dabei stets nach körperlichen Ursachen zu suchen.
Für die kritische Durchsicht und wertvollen Anregungen danken die Autoren Dr. med. Thomas Dorn, Facharzt für Neurologie, Montana, Simone Greminger, med. pract., Bürglen, und Dr. med. Alfred Schweizer, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Weinfelden, herzlich.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Felix Brem
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Ärzte im Zentrum
Rathausstrasse 17
CH-8570 Weinfelden
felix.brem[at]hin.ch
– Tanja Sappok (Hrsg.). Psychische Gesundheit bei intellektueller Entwicklungsstörung – Ein Lehrbuch für die Praxis. 1. Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer; 2019.
– Belot M. Der Ausdruck von Schmerz bei mehrfachbehinderten Personen: Evaluation der Schmerzzeichen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung. In: Maier-Michalitsch N (Hrsg.). Leben Pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben; 2009. p. 88–107.
– Handflyer «wir für uns»: http://www.wir-für-uns.ch/31201.html
Guidelines:
– Sullivan WF, Diepstra H, Heng J, Ally S, Bradley E, Casson I, et al. Primary care of adults with developmental disabilities: 2018 Canadian consensus guidelines. (Canada 2006 + 2011+2018); Tools for primary Care Provider. https://www.cfp.ca/content/cfp/64/4/254.full.pdf.
Spitalaufenthalt:
– Ich bin anders und doch gleich! Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung im Spital. Reihe Praxis. Olten: Stiftung Arkadis, No 1/2016. https://www.arkadis.ch/de/praxis.html.
– Menschen mit Behinderung im Krankenhaus – Hinweise zum Krankenhausaufenthalt insbesondere von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung (mit Checkliste). Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege; 2015. https://www.bestellen.bayern.de/application/applstarter?APPL=eshop&DIR=eshop&ACTIONxSETVAL(artdtl.htm,APGxNODENR:332868,AARTxNR:stmgp_gesund_030,AARTxNODENR:345421,USERxBODYURL:artdtl.htm,KATALOG:StMGP,AKATxNAME:StMGP,ALLE:x)=X
Schmerzskalen:
Hinweis auf Angstskala: