Unstimmigkeiten in der Säure-Base-Analyse

Unstimmigkeiten in der Säure-Base-Analyse

Leserbrief
Édition
2022/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/fms.2022.09106
Forum Med Suisse. 2022;22(1920):335

Publié le 10.05.2022

Besten Dank für diesen interessanten Fallbericht. Die Diagnose «akute metabolische Azidose» mit einem pH-Wert von 7,41 hat uns stutzig gemacht. Bei einer primären metabolischen Azidose würden wir einen pH-Wert von <7,35 erwarten.

Unstimmigkeiten in der Säure-Base-Analyse

Leserbrief zu: Resech F, Lehmann B, Weinmann W, Klingberg K. Akute Cyanidintoxikation durch Amygdalin. Swiss Med Forum. 2022;22(3–4):75–7.
Besten Dank für diesen interessanten Fallbericht [1].
Die Diagnose «akute metabolische Azidose» mit einem pH-Wert von 7,41 hat uns stutzig gemacht. Bei einer primären metabolischen Azidose würden wir einen pH-Wert von <7,35 erwarten. Deshalb sind uns beim Nachvollzug der Säure-Base-Analyse folgende Unstimmigkeiten aufgefallen:
Die Konsistenz der angegebenen Werte scheint uns nicht gegeben:
1. Der aus Bicarbonat und pCO2 berechnete pH-Wert mit der Formel pH = 6,1 + log (Bicarbonat / pCO2 × 0,03) ergibt einen Wert von 7,52, der pH-Wert wird jedoch mit 7,41 beschrieben.
2. Für die Säure-Base-Analyse wird in der Regel das aktuelle Bicarbonat, nicht das Standard-Bicarbonat verwendet. Diese Angabe fehlt hier leider und könnte zumindest teilweise auch der Grund für die Inkonsistenz der Werte sein. Mit grosser Sicherheit liegt hier aber eine zusätzliche respiratorische Alkalose vor, die im Wert des Standard-Bicarbonates nicht berücksichtigt ist.
3. Das Standard-Bicarbonat bedeutet eine Korrektur des aktuellen Bicarbonates auf einen pCO2-Normalwert von 40 mm Hg und eine Körpertemperatur von 37,0 °C mit dem Ziel, den respiratorischen Einfluss auf das Bicarbonat vollständig zu eliminieren.
4. Die zu erwartende Kompensation bei mutmasslicher reiner Laktatazidose unter Verwendung des angegebenen Bicarbonat-Wertes ergibt einen pCO2-Wert von 32 mm Hg. Gemessen wurde ein deutlich tieferer pCO2-Wert von 20 mm Hg. Auch dies deutet auf das zusätzliche Vorliegen einer respiratorische Alkalose hin. Wäre sie rein kompensatorisch, würde zudem der pH-Wert <7,35 liegen.
5. Die Anionenlücke (berechnet mit der Formel: Na – Cl – Bicarbonat) ist mit 13 (Normbereich 8–12 mmol/l) nur grenzwertig erweitert bei gleichzeitig ausgeprägter Laktatämie. Dieser Widerspruch ist aus den publizierten Laborwerten schlecht zu interpretieren. Er könnte auf das Vorliegen einer ausgeprägten Hypalbuminämie beim Patienten hindeuten, die eine scheinbare Verminderung der Anionenlücke zur Folge hätte. Die effektiv vorliegende Anionenlücke müsste Albumin-korrigiert berechnet werden mit der Formel: gemessene Anionenlücke + 0,25 × (40 – gemessenes Albumin).
6. Der Quotient ∆ Anionenlücke / ∆ Bicarbonat ergibt mit den hier publizierten Laborwerten gerechnet und ohne Berücksichtigung von Albuminkorrektur und aktuellem Bicarbonat einen Wert von 3/8 = 0,375, also deutlich <1. Gleichzeitig findet sich ein erhöhtes Chlorid. Dies könnte auf das Vorliegen einer zusätzlichen Non-Anion-Gap-Azidose hindeuten, die bei gleichzeitig erweiterter Anionenlücke mittels Bestimmung der osmotischen Lücke im Urin ätiologisch (renal vs. extrarenal) weiter eingegrenzt werden könnte [2].
7. Handelt es sich nun eher um eine akute oder chronische respiratorische Alkalose? Dies lässt sich aus den vorliegenden Laborwerten nicht beurteilen, da die Angabe des aktuellen Bicarbonates fehlt, die einen Vergleich zur adäquaten metabolischen Kompensation ermöglichen würde. Eine akute respiratorische Alkalose senkt das Bicarbonat um 2 mmol/l für jeden Abfall von 10 mm Hg pCO2, eine chronische um 4 mmol/l. Wenn man die respiratorische Alkalose mit der anamnestisch akut erfolgten Einnahme von Amygdalin in Zusammenhang bringt, dann dürfte eine akute respiratorische Alkalose vorliegen.
Zusammenfassend liegt hier vermutlich eine dreifache Säure-Base-Störung vor, die in der Summe einen normalisierten pH-Wert zur Folge hat: Laktatazidose, respiratorische Alkalose (anamnestisch vermutlich akut) und hyperchloräme Azidose (Diarrhoe? Tubuläre Schädigung durch Carboplatin? NaCl-Infusion?). Die akut aufgetretene Dyspnoe könnte so auch als direkte Amygdalin-Wirkung (direkte Stimulation des Atemzentrums?) interpretiert werden, wie das aufgrund der im Fallbericht geschilderten Symptome der Amygdalin-Intoxikation (Tachypnoe) plausibel wäre.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interes­senskonflikte zu haben.
1 Resech F, Lehmann B, Weinmann W, Klingberg K. Akute Cyanidintoxikation durch Amygdalin. Swiss Med Forum. 2022;22(3–4):75–7.
2 Emmet M, Palmer BF. Simple and mixed acid-base disorders. UpToDate 2020.