Primär progrediente Multiple Sklerose: Fortschritt?

Primär progrediente Multiple Sklerose: Fortschritt?

Und anderswo ...?
Ausgabe
2017/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.02918
Schweiz Med Forum 2017;17(19):419

Publiziert am 10.05.2017

Primär progrediente Multiple ­Sklerose: Fortschritt?

Fragestellung

Bei etwa 10–15% der Multiple-Sklerose(MS)-Fälle handelt es sich um eine primär progrediente Verlaufsform. Diese ist besonders heimtückisch sowie durch eine langsame und unausweichliche Progression der neurolo­gischen Invalidität gekennzeichnet. Entsprechende Phase-3-Studien haben bis dato nur negative Resultate ergeben. Es ist bekannt, dass die B-Lymphozyten an der Pathogenese von MS, inkl. der primär progredienten ­Verlaufsform, beteiligt sind, indem sie Antigene präsentieren, Antikörper oder Zytokine produzieren. Sie sind in den entzündeten ­Meningen zu finden. CD 20 ist ein Oberflächen­antigen dieser Lymphozytenpopulation. Ocrelizumab (O.) ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der gegen die B-Lymphozytenpopulation mit CD-20-Antigenen gerichtet ist. Wie wirksam ist er bei primär progre­dienter MS?

Methode

Die Patienten waren 18–55 Jahre alt, litten an primär progredienter MS gemäss McDonald-Kriterien und wurden anhand der EDSS-In­validitätsskala («Expanded Disability Status Scale», 0–10 Punkte) stratifiziert. Bei einem EDSS-Score von 5 oder mehr Punkten musste die Krankheit bereits seit 15, bei einem Score von 5 oder weniger Punkten seit 10 Jahren ­bestanden haben. Die Patienten wurden im Verhältnis von 2:1 randomisiert und erhielten 24 Wochen lang 600 mg O. (2 × 300 mg alle 12 Tage) oder Plazebo. Die Zahl der Injektionen wurde ­anhand des Auftretens eines bestätigten ­Progressionsereignisses nach 12 Wochen bestimmt. Es wurden mind. 5 Dosen injiziert und in der gesamten Kohorte traten 253 be­stätigte Progressionsereignisse auf. Primärer Endpunkt war die Rate der Patienten mit einer bestätigten Progression von +1 Punkt gemäss EDSS-Skala nach 12 Wochen, wenn der Score zu Studienbeginn höchstens 5,5, und von +0,5 Punkten, wenn der Score zu Studienbeginn >5,5 betragen hatte. Zu den sekundären Endpunkten gehörten u.a. die 25-Fuss-Gehzeit und das Hirnvolumen.

Resultate

402 Patienten erhielten O. bis ­Woche 120 und 174 Plazebo. Der primäre Endpunkt wurde von 32,9% unter O. und 39,3% unter Plazebo erreicht, HR 0,76 p = 0,03. In Woche 120 hatte sich die 25-Fuss-Gehzeit bei 39% der Patienten unter O. und 55% unter Plazebo verlängert (p = 0,04). Auch das Hirnvolumen hatte unter Plazebo stärker abgenommen als unter O.

Probleme

O. hatte mehr Nebenwirkungen zur Folge als Plazebo, insbesondere Lippenherpes-Schübe bei 2,3 vs. 0,4% der Patienten. Besorgniserregender war jedoch eine ­Zunahme der Karzinome unter O. Diese traten bei 11 Patienten auf, darunter 4 Brustkrebsfälle, gegenüber 2 Karzinomen unter Plazebo.

Kommentar

Die Studie ist sehr komplex, weshalb hier nicht alle Evaluationsscores erwähnt werden sollen. Zwar sind die Unterschiede der Invaliditätsscores nicht enorm, nichtsdestotrotz aber signifikant. Für die Patienten, die das Glück haben, auf die Therapie anzusprechen, bedeutet dies trotz allem eine geringere Progression der Erkrankung. Bis dato sprach letztere auf keine Therapie an. Entsprechend sollte jeder Fortschritt, gleich wie gering er ausfällt, als solcher gewürdigt werden. Überdies ist die signifikant geringere Abnahme des Hirnvolumens unter O. im Vergleich zu Plazebo von Woche 24–120 ­bemerkenswert, was zeigt, dass O. nicht nur klinisch, sondern auch morpho­logisch wirkt. Ein geringer, jedoch immerhin ein Erfolg. In derselben Zeitschrift (S. 221) wird über eine Studie berichtet, die ebenfalls ermutigende Resultate von O. bei schubförmiger MS gezeigt hat.
Montalban X, et al. N Engl J Med. 2017;376:209–20.

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