Behandlung der venösen Thromboembolie, Fokus tiefe Venenthrombose
Schweizer Expertenkommentare zu den 10. ACCP-Richtlinien über antithrombotische Therapie

Behandlung der venösen Thromboembolie, Fokus tiefe Venenthrombose

Aktuell
Ausgabe
2017/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2017.03043
Schweiz Med Forum 2017;17(35):732-737

Affiliations
a Abteilung für Angiologie, Kantonsspital Fribourg; b Universitätsklinik für Angiologie, Inselspital Bern; c Regionalspital Locarno;
d Abteilung für Angiologie, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne

Publiziert am 30.08.2017

Einleitung

Die Behandlungsrichtlinien des «American College of Chest Physicians» (ACCP) sind mit Sicherheit die einflussreichsten auf dem Gebiet der venösen Thromboembolie (VTE). Im Gegensatz zu den ersten neun Ausgaben werden die neuesten ACCP-Guidelines nicht mehr als Gesamtausgabe, sondern als Updates einzelner Kapitel veröffentlicht [1]. Als bisher einziges Kapitel der 10. ACCP-Guidelines wurden 2016 die Empfehlungen zum Thema der Behandlung der VTE publiziert [2]. Die schon seit 2005 zur Tradition gehörenden Kommentare der Schweizer Experten haben insbesondere zum Ziel, die international akzeptierten ACCP-Guidelines kurz zusammenzufassen, auf Schweizer Gegebenheiten zu übertragen und kritisch zu durchleuchten [3]. Nach dem ersten Artikel der Serie mit den Empfehlungen zur Behandlung der akuten Lungen­embolie (LE) [4] wird im Folgenden die Behandlung der tiefen Venenthrombose (TVT) diskutiert.

Auswahl der wichtigsten Empfehlungen

1. Die direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) Apixaban, Dabigatran, Edoxaban oder Rivaroxaban werden neu als die Therapie der ersten Wahl bei nicht tumorassoziierter TVT vorgeschlagen.
2. Bei tumorassoziierter TVT wird für die ersten 3–6 Monate weiterhin eine Therapie mit niedermolekularen Heparinen (NMH) bevorzugt.
3. Bei Patienten mit einer isolierten distalen TVT ohne Risikofaktoren für eine proximale Ausdehnung sollten Ultraschall-Verlaufskontrollen während zwei Wochen einer Antikoagulation vorgezogen werden.
4. Die Dauer der Antikoagulation bei Patienten mit akuter proximaler TVT beträgt mindestens drei Monate. Danach hängt die weitere Behandlungsdauer vom individuellen Rezidiv- und Blutungsrisiko ab. Für die verlängerte Erhaltungstherapie nach drei Monaten werden DOAK, allenfalls in prophylaktischer Dosierung, bevorzugt.
5. Niedrig dosiertes Aspirin® spielt aufgrund der im Vergleich zu therapeutisch oder prophylaktisch dosiertem DOAK (EINSTEIN-CHOICE-Studie) verminderten Effizienz bei gleichem Blutungsrisiko für die Rezidivprophylaxe bei Patienten mit einer unprovozierten proximalen TVT nach dreimonatiger Antikoa­gulation nur noch eine sehr untergeordnete Rolle und sollte nur bei Kontraindikation für eine verlängerte Antikoagulation verschrieben werden.
6. Bei Patienten mit einer akuten ilio-femoralen TVT sollte die Indikation für eine Katheter-Thrombolyse, eventuell chirurgische Thrombektomie, zur Limitierung des Risikos eines postthrombotischen Syndroms (PTS) evaluiert werden.
7. Die Einlage eines Vena-cava-Filters ist bei Patienten mit VTE, die antikoaguliert werden können, nicht indiziert.
8. Bei einem VTE-Rezidiv unter Antikoagulation wird vorgeschlagen, vorübergehend (z.B. 1 Monat) auf eine Therapie mit NMH zu wechseln oder die Dosis der NMH-Therapie um 1⁄4 bis 1⁄3 zu erhöhen.

Änderungen gegenüber der letzten ­Ausgabe

Wie schon in der letzten Ausgabe wird die Antikoagulationstherapie in drei Phasen eingeteilt: Die ersten 5–21 Tage werden als initiale Antikoagulation («initial treatment» gemäss ACCP) bezeichnet, die ersten drei Monate als Erhaltungstherapie («long-term treatment») und die langfristige Antikoagulation (ohne geplantes Therapieende) nach den ersten drei Monaten als verlängerte Erhaltungstherapie («extended treatment») [5, 6]. Neu werden die DOAK Apixaban, Dabigatran, Edoxaban oder Rivaroxaban (in alphabetischer Reihenfolge) den bisher empfohlenen Vitamin-K-Ant­agonisten (VKA) für die Erhaltungstherapie bei Patienten ohne aktive Krebserkrankung als Therapie erster Wahl vorgezogen (Evidenzgrad 2B gemäss ACCP-Adaptation der GRADE-Klassifizierung [3, 7]). Im Vergleich mit VKA sind DOAK mindestens gleich effizient zur Verhinderung von VTE-Rezidiven, haben ein vermindertes Risiko für schwere Blutungen, insbesondere tödliche und Hirnblutungen [8] und vereinfachen die Behandlung für Patienten wie auch für Ärzte [9]. Zu vermerken gilt hier, dass die orale Behandlung mit Dabigatran und Edoxaban vorgängig eine parenterale Behandlung mit NMH während mindesten 5 Tagen benötigt, währenddessen Apixaban und Rivaroxaban direkt ab der TVT-Diagnose eingenommen werden können. Bei tumorassoziierter TVT schlagen die ACCP-Richtlinien weiterhin eine parenterale Behandlung mittels NMH vor (2C), neu gelten die DOAK hingegen als gleichwertige Alternative zu den VKA bei Krebspatienten ohne NMH-Behandlung. Laut einer Metaanalyse der grossen randomisierten Zulassungsstudien, in welchen 3–5% der eingeschlossenen Patienten an einer aktiven Krebserkrankung litten, schnitten die DOAK im Vergleich zur Therapie Enoxaparin/VKA sogar tendenziell eher besser ab, jedoch bleibt ein direkter Vergleich mit der Standardtherapie NMH noch aus [10].
Die Empfehlungen für die Dauer der Antikoagulation wurden im Vergleich mit der 9. Ausgabe kaum verändert und sind in erster Linie vom individuellen Rezidiv- und Blutungsrisiko abhängig [2, 5]. Bei einer durch einen transienten chirurgischen oder nichtchirurgischen Risikofaktor provozierten proximalen TVT sollte die Antikoagulation nach drei Monaten gestoppt werden (1B für chirurgischen Risikofaktor, 2B für nichtchirurgischen Risikofaktor mit niedrigem oder moderatem Blutungsrisiko und 1B bei hohem Blutungsrisiko). Bei tumorassoziierter TVT wird bei weiterhin aktiver Krebserkrankung eine verlängerte Erhaltungstherapie empfohlen (1B bei niedrigem oder moderatem Blutungsrisiko, 2B bei hohem Blutungsrisiko). Bei erstmaliger unprovozierter (idiopathischer) proximaler TVT wird bei niedrigem oder moderatem Blutungsrisiko eine verlängerte Erhaltungstherapie vorgeschlagen (2B), bei hohem Blutungsrisiko hingegen nur eine dreimonatige Antikoagulation empfohlen (1B). Neu ist dafür die Bemerkung, dass das Patientengeschlecht und D-Dimer-Messungen einen Monat nach Absetzten der Antikoagulationstherapie den Entscheid für oder gegen eine allfällige verlängerte Erhaltungstherapie beeinflussen könnten, ohne dafür eine formelle Empfehlung abzugeben. Bei einer zweiten unprovozierten VTE sollte die Antikoagulation nach drei Monaten weitergeführt werden (1B bei niedrigem und 2B bei moderatem Blutungsrisiko), ausser bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko (2B). Neu ist der Vorschlag, dass man nach drei Monaten Erhaltungstherapie mit derselben Antikoagulation weiterfahren kann, sofern eine verlängerte Erhaltungstherapie als notwendig betrachtet wird (2C).
Seit der letzten ACCP-Ausgabe konnte in zwei grossen randomisierten Studien (ASPIRE und WARFASA) gezeigt werden, dass bei Patienten mit einer erstmaligen unprovozierten VTE und mindestens dreimonatiger therapeutischer Antikoagulation niedrigdosiertes Aspirin® im Vergleich zu Placebo die Rezidivrate um gut einen Drittel vermindert [11, 12]. Neu schlagen die ACCP-Richtlinien deshalb vor, bei Patienten mit unprovozierter proximaler TVT nach mindestens dreimonatiger Antikoagulation Aspirin® zur Rezidivprophylaxe in Erwägung zu ziehen (2B), sofern eine verlängerte Antikoagulation nicht in Frage kommt.
Die klinische Relevanz der isolierten distalen TVT (IDTVT), das heisst mit maximaler proximaler Thrombusausdehnung bis distal der Vena poplitea, bleibt weiterhin umstritten und die Evidenz für deren Behandlung spärlich, obwohl es sich mit bis zu 50% der diagnostizierten Thrombosen um ein häufiges klinisches Problem handelt [13, 14]. Insgesamt wird das Embolie- und Rezidivrisiko bei IDTVT als geringer betrachtet und mehrere Studien bewiesen die Sicherheit der diagnostischen Vorgehensweise mit alleinigem Kompressionsultraschall (KUS) der proximalen Venen, sofern dieser bei initial negativem Resultat nach 5–7 Tagen wiederholt wird [15]. Es liegt deshalb auf der Hand, dass eine systematische Antikoagulation aller IDTVT wahrscheinlich nicht notwendig ist und die Pa­tienten einem erhöhten Blutungsrisiko aussetzen kann. Die ACCP hat versucht, diesen Umständen gerecht zu werden, indem sie verschiedene Kriterien zur Beurteilung des Risikos einer proximalen Ausdehnung zusammengestellt hat (Tab. 1).
Tabelle 1: Risikofaktoren für eine proximale Ausdehnung der isolierten distalen TVT (IDTVT) gemäss ACCP. 
Eine isolierte distale TVT wird als Hoch-Risiko-IDTVTfür eine proximale Ausdehnung betrachtet, wenn:
D-Dimere erhöht (besonders wenn ohne anderweitige ­Erklärung deutlich erhöht)
Ausgeprägte Thrombose (>5 cm Längenausdehnung, ­mehrere Venen betroffen, >7 mm Maximaldurchmesser)
Thrombose nahe bei proximalen Venen
KeinreversiblerVTE-Risikofaktor vorhanden
Aktive Krebserkrankung vorhanden
Rediziv-VTE
Patient hospitalisiert
Abkürzungen: ACCP = American College of Chest Physicians; 
TVT = tiefe Venenthrombose; VTE = venöse Thromboembolie
Zudem werden Unterschenkelmuskel-Venenthrombosen ohne gleichzeitige distale Leitvenenthrombosen als Niedrig-Risiko betrachtet. Für Patienten mit IDTVT und ohne ausgeprägte Symptome oder Risikofaktoren für eine proximale Ausdehnung zieht die ACCP KUS-Verlaufskontrollen während zwei Wochen vor (z.B. nach 1 und 2 Wochen), während bei Patienten mit ausgeprägter Symptomatik oder Risikofaktoren für eine Ausdehnung eher eine Antikoagulation vorgezogen wird (2C). Sollte initial der Entscheid für eine Antikoa­gulationstherapie gefällt werden oder stellt man bei der KUS-Verlaufskontrolle eine proximale Ausdehnung der Thrombose fest, empfehlen die ACCP-Richtlinien dieselbe Antikoagulation wie bei proximalen TVT (1B).
Die neuen ACCP-Richtlinien beinhalten erstmals Empfehlungen zur Behandlung des VTE-Rezidivs unter Antikoagulation, obwohl es hierfür bisher nur retro­spektive Kohortenstudien gibt [16]. Bei bestätigtem VTE-Rezidiv trotz korrekt dosierter und eingenommener Antikoagulation sollte in erster Linie eine aktive Krebserkrankung oder ein Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom ausgeschlossen und Medikamente, die das VTE-Risiko erhöhen (z.B. gewisse Chemotherapien oder Östrogene), falls möglich gestoppt werden. Therapeutisch schlagen die ACCP-Richtlinien vor, Patienten mit einem VTE-Rezidiv unter VKA oder DOAK-Therapie zumindest temporär (z.B. 1 Monat) auf eine Therapie mit NMH umzustellen und bei Patienten unter NMH die Dosis um rund 1⁄4 bis 1⁄3 zu erhöhen (2C).
Betreff der Rolle der katheterbasierten Behandlung von proximalen TVT konnte die 2012 publizierte CaVenT-Studie aus Norwegen zeigen, dass eine Katheter-Thrombolyse zusätzlich zur Standardtherapie (Antikoagulation und Kompressionstherapie) bei Patienten mit einer erstmaligen hochproximalen TVT (Thrombose der Beckenvenen, der V. femoralis communis oder der kranialen Hälfte der V. femoralis) im Vergleich zur Standardtherapie die Rate des PTS nach zwei Jahren si­gnifikant reduziert (41% vs. 56%, p = 0,04) [17], jedoch ohne Verbesserung der Lebensqualität [18]. Trotz dieser bisher grössten randomisiert-kontrollierten Studie zur katheterbasierten Behandlung haben die ACCP ihre Empfehlungen diesbezüglich nicht geändert und schlagen bei akuter proximaler TVT weiterhin die alleinige Antikoagulation ohne Katheter-Thrombolyse vor (2C). Es wird jedoch vermerkt, dass Patienten mit einer akuten ilio-femoralen TVT (d.h. Thrombosierung der Beckenvenen und/oder der V. femoralis communis), einer Symptomdauer von <14 Tagen, einer Lebenserwartung von >1 Jahr mit gutem funktionellem Status und niedrigem Blutungsrisiko am ehesten von einer Katheter-Thrombolyse profitieren könnten. Des Weiteren wird die Einlage eines Vena-cava-Filters bei Patienten mit akuter TVT, die antikoaguliert werden können, nicht empfohlen (1B).
Anders als in den letzten ACCP-Richtlinien wird neu das Tragen von Kompressionsstrümpfen zur Vermeidung eines PTS nicht mehr vorgeschlagen (2B). Die Änderung der Empfehlung beruht auf den Resultaten der grossen SOX-Studie, in der 806 Patienten mit proximaler TVT in zwei Gruppen randomisiert wurden, eine Kompres­sionsstrumpf-Gruppe (30–40 mmHg Andruckstärke im Fesselbereich) und eine Placebo-Strumpf-Gruppe (<5 mmHg). Die kumulative Inzidenz des PTS war nach zwei Jahren in beiden Gruppen ähnlich [19].

Kommentare der Schweizer Experten

Eine der wichtigsten, aber auch schwierigsten Fragen in der Behandlung der VTE bleibt die Dauer und Dosierung der Antikoagulation nach den ersten drei Monaten Erhaltungstherapie. In der bisher einzigen randomisierten Studie mit einem direkten Vergleich zwischen VKA und DOAK (Dabigatran) für die verlängerte Erhaltungstherapie konnte eine verminderte Blutungsrate unter Dabigatran bei ähnlich guter Effizienz gezeigt werden [20], was in einer Post-hoc-Analyse der randomisierten Hokusai-VTE-Studie (Edoxaban vs VKA) bestätigt werden konnte [21]. Mehrere Phase-III-Studien mit Apixaban, Dabigatran oder Rivaroxaban konnten zudem im Vergleich zu Placebo eine rund 80% verminderte VTE-Rezidivrate zeigen, bei kaum erhöhtem Blutungsrisiko [20, 22, 23]. Die AMPLIFY-Extension- und die erst kürzlich veröffentlichte EINSTEIN-CHOICE-Studie konnten bei Patienten nach erfolgter 6–12-monatiger Antikoagulation und unklarer Indikation für eine verlängerte Erhaltungstherapie zudem beweisen, dass eine prophylaktisch dosierte Antikoa­gulation (Apixaban 2,5 mg bid oder Rivaroxaban 10 mg qd) ohne signifikant erhöhtes Blutungsrisiko ein VTE-Rezidiv effizient verhindern kann [22, 24]. Die EINSTEIN-CHOICE-Studie konnte zudem zeigen, dass Rivaroxaban 10 mg oder 20 mg im direkten Vergleich mit Aspirin® 100 mg die VTE-Rezidivrate nach zusätzlicher 12-monatiger Behandlung um rund 70% vermindern konnte (Rivaroxaban 10 mg 1,2%; 20 mg 1,5%; Aspirin® 4,4%), ohne das Risiko für schwere oder klinisch relevante Blutungen zu erhöhen (Rivaroxaban 10 mg 2,4%; 20 mg 3,3%; Aspirin® 2,0%) [24]. Im Gegensatz zur ACCP ziehen die Schweizer Experten deshalb bei nicht tumor­assoziierter TVT und Indikation für eine verlängerte Erhaltungstherapie eine Behandlung mit (prophylaktisch dosierten) DOAK den VKA und besonders auch niedrigdosiertem Aspirin® vor. Es sollte jedoch erwähnt werden, dass Rivaroxaban in prophylaktischer Dosierung (10 mg) für die verlängerte Erhaltungstherapie in der Schweiz noch nicht zugelassen ist. Da sowohl bei der AMPLIFY-Extension- wie auch in der EINSTEIN-CHOICE-Studie Patienten mit einem hohen Rezidivrisiko ausgeschlossen wurden, sollte bei diesen Patienten die verlängerte Erhaltungstherapie weiterhin mit einer therapeutisch dosierten Antikoa­gulation erfolgen.
Patienten mit einer erstmaligen unprovozierten proximalen TVT oder LE haben ein beträchtliches Rezidiv­risiko (bis zu 30% in den ersten fünf Jahren [25]), weshalb die ACCP eine verlängerte Erhaltungstherapie bei nicht hohem Blutungsrisiko vorschlagen. Mehr als die Hälfte dieser Patienten wird jedoch kein VTE-Rezidiv erleiden und bei Langzeitantikoagulation entsprechend einem relevanten Blutungsrisiko ausgesetzt. In den letzten Jahren wurden mehrere Scores («Vienna prediction model», «DASH score» und «Men continue and HERDOO-2 score») zur Risikostratifizierung publiziert [26, 27]. Als erster wurde vor Kurzem der «HERDOO-2 score» an einem Kollektiv von 2747 Patienten mit erstmaliger proximaler TVT oder LE prospektiv validiert [28]. Im Jahr nach dem Absetzten der Antikoagulation trat bei Frauen, die gemäss «HERDOO-2 score» ein niedriges Rezidivrisiko hatten (51% aller Frauen), in 3% der Fälle ein Rezidiv auf, während Männer oder Frauen mit erhöhtem «HERDOO-2 score» ein deutlich höheres Risiko aufwiesen (8,1%). Die Schweizer Experten sind der Meinung, dass nicht alle Patienten mit erstmaliger unprovozierter proximaler TVT eine verlängerte Erhaltungstherapie benötigen und empfehlen eine Evaluation des individuellen Rezidivrisikos, idealerweise anhand eines validierten Score.
Gemäss ACCP-Richtlinien ist die Suche nach IDTVT (mittels komplettem KUS) zwar eine mögliche dia­gnostische Vorgehensweise, aber keine Notwendigkeit [29]. Die Schweizer Experten sind jedoch der Meinung, dass unabhängig von der Entscheidung über eine allfällige Antikoagulation der IDTVT ein kompletter KUS durch den geübten Untersucher mehrere Vorteile mit sich bringt: Durch die Diagnosestellung einer IDTVT können in den meisten Fällen die Symptome des Pa­tienten erklärt und entsprechend weitere Abklärungen gespart werden; zudem können bei mehr als der Hälfte der Patienten alternative Diagnosen dokumentiert werden [30, 31].
Die vor Kurzem unter der Federführung der Angiologie des Universitätsspitals Genf publizierte CACTUS-Studie bestätigt die Empfehlung der ACCP, dass nicht alle IDTVT antikoaguliert werden müssen [32]. Für diese multizentrische, doppelblinde Studie wurden insgesamt 259 Patienten mit Niedrig-Risiko-IDTVT (ambulante Patienten ohne aktive Krebserkrankung oder persönliche VTE-Anamnese) eingeschlossen und zusätzlich zu Kompressionsstrümpfen der Klasse II während sechs Wochen entweder mit therapeutisch dosiertem NMH (Nadroparin) oder Placebo-Spritzen (NaCl 0,9%) behandelt. Der primäre Endpunkt (Ausdehnung in die proximalen Venen, kontralaterale proximale TVT oder LE) nach 42 Tagen wurde durch die Behandlung mit NMH vs. Placebo nicht signifikant reduziert (3,3% vs. 5,4%; absolute Risikoreduktion von 2,1%, p = 0,54), hingegen waren schwere und klinisch relevante Blutungen in der NMH-Gruppe signifikant häufiger (4% versus 0%, p = 0,025). Interessanterweise trat nach der 42-tägigen Behandlungsperiode bis zum Studienabschluss nach 90 Tagen nur noch eine einzige VTE in der Placebo-Gruppe auf. Im Gegensatz zur ACCP sind die Schweizer Experten deshalb der Meinung, dass bei Entscheid einer Antikoagulation für Niedrig-Risiko-IDTVT eine Thera­piedauer von sechs Wochen ausreicht.
Betreff der katheterbasierten Therapie für die proximalen TVT vertreten die ACCP weiterhin eine konservative Haltung. Kurz nach der Veröffentlichung der neuen ACCP-Richtlinien wurden die 5-Jahres Resultate der bereits erwähnten CaVenT-Studie publiziert, welche den Vorteil der Katheter-Thrombolyse gegenüber der Standardtherapie zur Vermeidung des PTS noch deutlicher untermauert. Während in der Katheter-Thrombolyse-Gruppe die PTS-Rate nach fünf Jahren stabil war (43%), nahm sie in der Standardgruppe weiter deutlich zu (71%, p <0,001) [33]. Die konservativ behandelten Patienten hatten deutlich häufiger femoro-poplitealen Reflux und verschlossene ilio-femorale Venen, die beiden wichtigsten Prädiktoren für die Entwicklung eines PTS [34]. Die meisten ilio-femoralen TVT sind vom deszendierenden Typ mit einer unterliegenden venösen Obstruktion (z.B. May-Thurner-Syndrom) und zeigen unter alleiniger Antikoagulation eine schlechte spontane Rekanalisationsrate. Durch eine rasche Thrombuselimination mittels Katheter-Thrombolyse und gleichzeitige Behebung der venösen Obstruktion mittels Venenstenting konnten in einer in der Schweiz durchgeführten randomisierten BERNUTIFUL-Studie eine sehr hohe Offenheits- und eine niedrige Refluxrate erreicht werden, was sich in einer PTS-Inzidenz nach einem Jahr von knapp 10% niederschlug [35]. Die Schweizer Experten sind deshalb der Meinung, dass bei gut selektionierten Patienten mit einer akuten (<14 Tage) ilio-femoralen TVT, einem niedrigen Blutungsrisiko und guter Lebensqualität eine katheterbasierte Behandlung zumindest evaluiert und idealerweise in einem Zen­trum mit grosser Fallzahl durchgeführt werden sollte [36] (Abb. 1).
Abbildung 1: Algorithmus zum Vorgehen bei klinischem Verdacht auf eine tiefe Venenthrombose der unteren Extremitäten.
1  Die Risikofaktoren für eine proximale Ausdehnung sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
2  Mit (Dabigatran, Edoxaban, VKA) oder ohne (Apixaban, Rivaroxaban) vorgängige Therapie mit NMH.
3  Bei hohem Blutungsrikio sind klinische und duplexsonographische Verlaufskontrollen wahrscheinlich sinnvoller; bei aktiver Krebserkrankung sind NMH vorzuziehen.
4  Duplexsonographische Verlaufskontrollen z.B. nach 1 und 2 Wochen.
Abkürzungen: AK = Antikoagulation; DOAK = direkte orale Antikoagulanzien; NMH = niedermolekulares Heparin; TVT = tiefe Venenthrombose; 
VKA = Vitamin-K-Antagonist; VTE = venöse Thromboembolie.
Obwohl die Kompressionstherapie zur Verhinderung des PTS gemäss der erwähnten SOX-Studie scheinbar keine Rolle spielt [19], muss diese Studie aufgrund der sehr schlechten Compliance fürs Strümpfetragen und anderer methodologischer Schwächen kritisch beurteilt werden. Trotz der unklaren Datenlage für die Verhinderung des PTS bleibt die Kompressionstherapie für die Schweizer Experten weiterhin für die Behandlung der akuten Symptome der TVT indiziert [27].
PD Dr. Engelberger erhielt Speaker-Honorare oder Entschädigungen für die Teilnahme an Advisory Boards von Bayer HealthCare und Sanofi-Aventis; PD Dr. Stricker erhielt Entschädigungen für die Teilnahme an Advisory Boards von Bayer HealthCare, Boehringer-Ingelheim, Bristol Myers Squibb und Sanofi-Aventis; Prof. Mazzolai erhielt Entschädigungen für die Teilnahme an Advisory Boards von Bayer HealthCare, Pfizer und Sanofi-Aventis; Prof. Kucher erhielt Forschungsbeiträge und Speaker-Honorare von Bayer HealthCare, Bristol Myers Squibb, Pfizer und Sanofi-Aventis.
PD Dr. med.
Rolf Peter ­Engelberger
HFR Fribourg
Hôpital Cantonal
Case postale
CH-1708 Fribourg
rolf.engelberger[at]h-fr.ch
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